Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 14 KN 142/15
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 18 KN 92/16 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Beklagten gegen den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 1.8.2016 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe:
I.
Der 1958 geborene Kläger war seit Januar 2013 in seinem Beruf als Baufacharbeiter im Tiefbau arbeitsunfähig. Auf seinen Antrag von August 2013 bewilligte ihm die Beklagte - wegen der Folgen eines mehrfach operierten Bandscheibenleidens der Lendenwirbelsäule - eine stationäre medizinische Rehabilitation, die vom 22.10. bis 12.11.2013 in der (orthopädischen) Knappschaftsklinik T - Bad T stattfand. Im Entlassungsbericht ist unter "Psychosoziale/Psychosomatische Diagnostik" ausgeführt, der Kläger habe um zwei Beratungsgespräche gebeten, in denen er mitteilte, er sei wegen Ängsten und Schlafstörungen seit fast einem Jahr in psychotherapeutischer Behandlung. Es sei indiziert, diese Behandlung fortzusetzen (Bericht vom 19.11.2013).
Nach späterer Umdeutung des Antrags in einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung schaltete die Beklagte als Gutachter Internisten Dr. S (Zusatzbezeichnung "Sozialmedizin") des Sozialmedizinischen Dienstes (SMD) in N ein. Dieser hielt den Kläger unter Berücksichtigung der im Vordergrund stehenden Lendenwirbelsäulenerkrankung und der internistischen Nebenleiden - mit Einschränkungen - noch für in der Lage, körperlich leichte Tätigkeiten sechs Stunden und mehr arbeitstäglich zu verrichten (Gutachten vom 14.1.2014). Die Beklagte lehnte ab, Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren, bewilligte indes Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (Bescheid vom 14.7.2014).
Im Widerspruchsverfahren befragte die Beklagte nach Hinweis des Klägers, dass auch Leistungseinschränkungen auf psychiatrischem Fachgebiet vorliegen, den behandelnden Diplom-Psychologen X aus L. Dieser berichtete über eine regelmäßige Behandlung seit Januar 2013. Die psychischen Beschwerden, insbesondere Ängste und Antriebsstörung, hinderten den Kläger an einer normalen Bewältigung von Aufgaben. Seine Schmerzen hinderten ihn zudem an der Ausführung leichter körperlicher Arbeit über drei und mehr Stunden. Sein Leistungsvermögen sei als erloschen zu betrachten (Behandlungsbericht vom 29.10.2014). Die dazu befragte Ärztin des SMD N, Ärztin für Innere Medizin (Zusatzbezeichnungen "Sozialmedizin" und "Ernährungsmedizin") Dr. H, führte aus, die psychische Störung des Klägers stehe einer körperlich angepassten Tätigkeit von 6 Stunden und mehr arbeitstäglich nicht entgegen. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 17.3.2015).
Im anschließenden Klageverfahren schaltete das Sozialgericht (SG) als gerichtlichen Sachverständigen den Nervenarzt Dr. Dr. M aus F ein. Der Sachverständige stellt als leistungseinschränkende Erkrankungen seines Fachgebiets eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, eine rezidivierende depressive Störung, derzeit leichtgradig, und eine Persönlichkeitsakzentuierung fest. Diese führten dazu, dass der Kläger arbeitstäglich zwar noch drei, aber weniger als sechs Stunden für Erwerbsarbeit leistungsfähig sei. Die Beklagte erkannte - nach Einschaltung ihres beratenden Psychiaters L aus N - einen Anspruch des Klägers auf Rente wegen voller Erwerbsminderung ab August 2013 an (gerichtlicher Vergleich vom 30.6.2016).
Das SG hat der Beklagten die Kosten für das Gutachten des Dr. Dr. M in Höhe von EUR 1.738,72 auferlegt, weil sie im Verwaltungsverfahren unterlassen habe, ein psychiatrisches Gutachten einzuholen, obwohl dies erkennbar notwendig gewesen sei (Beschluss vom 1.8.2016, der Beklagten am 9.8.2016 zugestellt).
Mit ihrer Beschwerde vom 29.8.2016 begehrt die Beklagte die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses. Nach der Sachlage im Verwaltungsverfahren sei ein psychiatrisches Gutachten nicht unerlässlich gewesen. Der Kläger selbst habe keine psychischen Probleme "einer primär-psychiatrischen Erkrankung" angegeben und sei auch nicht in psychiatrischer Behandlung gewesen. Er habe damit selbst seinen psychischen Problemen keine bzw. geringe Bedeutung beigemessen. Keiner der den Kläger untersuchenden Ärzte habe eine psychische Erkrankung auch nur angedeutet. Die Ärzte des SMD mit der Fachbezeichnung "Sozialmedizin" verfügten über die erforderliche Fachkompetenz zur Beurteilung psychiatrischer Erkrankungen. Zur näheren Begründung bezieht sie sich auf eine Stellungnahme des Leitenden Arztes ihres Zentralen Beratungsdienstes, Internist Dr. L1 (Zusatzbezeichnungen "Sozialmedizin" und "Rehabilitationswesen") aus N (Stellungnahme vom 6.9.2016).
II.
Die statthafte und auch ansonsten zulässige Beschwerde ist unbegründet. Zu Recht hat das SG der Beklagten die Kosten des Gutachtens des gerichtlichen Sachverständigen Nervenarzt Dr. Dr. M aus F in Höhe von EUR 1.738,72 (= auf der Grundlage der Liquidation des Sachverständigen vom 5.1.2016 am 25.1.2016 von der Landeskasse angewiesener Betrag) auferlegt.
Das Gericht kann der Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden, § 192 Abs 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Notwendig sind objektiv erforderliche Ermittlungen. Erkennbar sind solche Ermittlungen dann, wenn sich der Behörde deren Notwendigkeit ausgehend von den gesetzlichen Bestimmungen und ihrer höchstrichterlichen Auslegung bzw. von einem vertretbaren Rechtsstandpunkt aus erschließen musste (Senatsbeschluss vom 18.11.2013, Aktenzeichen (Az) L 18 KN 83/13 B; Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer. Kommentar zum SGG. 11. Aufl. 2014, Rdnr. 18e zu § 192; Landessozialgericht (LSG) Sachsen, Beschluss vom 18.1.2011, Az L 2 U 166/10 B; LSG Niedersachsen, Beschluss vom 14. April 2011, Az L 7 AS 426/10 B; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17. Oktober 2011, Az L 4 R 396/11 B). Die seit dem 1.4.2008 geltende Regelung soll im gerichtlichen Verfahren entstandene Kosten "zurückverlagern", die den Justizhaushalten durch unterlassene Ermittlungen des Leistungsträgers im Verwaltungsverfahren entstehen (Bundestags-Drucksache 16/7716 Seite 23). Wie im Gerichtsverfahren ist auch im Verwaltungsverfahren der Sachverhalt von Amts wegen zu klären, § 20 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Dabei bedient sich die Behörde derjenigen Beweismittel, die sie nach pflichtgemäßem Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts für erforderlich hält, § 21 Abs 1 Satz 1 SGB X. Dieses pflichtgemäße Ermessen überschreitet sie, wenn sie einen Beweis nicht erhebt, der sich ihr bei vernünftiger Überlegung als für die Entscheidung bedeutsam hätte aufdrängen müssen (BVerwGE 26, 30; von Wulffen in: Von Wulffen (Hrsg). SGB X; 8.Aufl. 2013, § 21 Rdnr 3). Eine derartige Verletzung der Aufklärungspflicht sanktioniert § 192 Abs 4 SGG.
Zu Recht geht das SG davon aus, dass die Voraussetzungen des § 192 Abs 4 SGG hier vorliegen. Die Beklagte hat im Verwaltungsverfahren erkennbare und notwendige Ermittlungen unterlassen, indem sie unterließ, das Leistungsvermögen des Klägers im Erwerbsleben (auch) psychiatrisch umfassend zu klären.
Ist - wie hier - das Leistungsvermögen des Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermitteln, kommt es nach dem Gesetz darauf an, ob und inwieweit bei ihm Krankheiten und/oder Behinderungen vorliegen, die sein Leistungsvermögen einschränken, § 43 Abs 1 Satz 2, Abs 2 Satz 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch. Art und Umfang dieser sozialmedizinischen Abklärung bestimmen sich maßgeblich danach, welche Krankheiten oder Behinderungen beim Versicherten nach seinen Angaben und dem sonstigen Inhalt der Akten vorliegen, die sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken können. Dabei sind in der Regel auf ambulanter Untersuchung fußende ärztliche Gutachten einzuholen. Ermittlungen durch Fachärzte sind dabei immer dann erkennbar notwendig, wenn ansonsten Zweifel an der vollständigen Erfassung des Gesundheitszustandes verbleiben. So liegt der Fall hier. Eine vollständige Erfassung des Gesundheitszustandes des Klägers war ohne Einschaltung eines Arztes für Psychiatrie nicht möglich.
Neben der Abklärung der leistungseinschränkenden Gesundheitsstörungen des Klägers auf orthopädischem (bzw. organneurologischem) Fachgebiet, war nach Lage der Akten erkennbar eine Abklärung auf psychiatrischem Fachgebiet geboten. Bereits während der stationären Maßnahme in Bad T - T hat der Kläger selbst um Gespräche wegen seiner psychischen Beeinträchtigungen nachgesucht und mitgeteilt, er befinde sich deswegen seit Januar 2013 in laufender psychotherapeutischer Behandlung. Auch Dr. S hat in seinen Diagnosekatalog "Anamnestisch leichte depressive Episode" aufgenommen. Das erhellt, dass der Kläger entgegen der Auffassung der Beklagten durchaus auf psychische Leiden hingewiesen und ihnen nicht etwa "keine Bedeutung" beigemessen hat. Es kann dahinstehen, ob es bei diesem Sachverhalt noch pflichtgemäßem Ermessen entsprach, den sozialmedizinischen Sachverhalt nur von einem Internisten mit der Zusatzbezeichnung "Sozialmedizin" bewerten zu lassen. Spätestens nach Vorliegen des umfassenden Behandlungsberichts des Diplom-Psychologen X im Widerspruchsverfahren, der dezidierte Ausführungen zum Behandlungsverlauf, den beim Kläger vorliegenden Beeinträchtigungen und deren Auswirkungen auf das Erwerbsleben gemacht hat, musste sich der Beklagten, sofern sie dem nicht folgte, die Einschaltung eines psychiatrischen Gutachters aufdrängen. Es genügt dann gerade nicht, dass Gutachter anderer Fachgebiete eine psychiatrische Erkrankung nicht festgestellt haben (Bundessozialgericht, Beschluss v 24.5.2012, Az B 9 SB 79/11 B). Dabei mag in Ausnahmefällen genügen, einen psychiatrisch besonders ausgebildeten Sozialmediziner einzuschalten. Auch einen solchen hat die Beklagte jedoch offensichtlich nicht befragt. Im Gegenteil haben sowohl Dr. S als auch Dr. H trotz der aufgezeigten aktenkundigen Anhaltspunkte nicht erkannt, dass - wie der beratende Psychiater L im Klageverfahren bestätigt hat - beim Kläger bereits seit August 2013 das Leistungsvermögen signifikant einschränkende seelische Krankheiten vorlagen. Der lapidaren Äußerung der Ärztin Dr. H ist nicht zu entnehmen, dass sie über die Qualifikation verfügt, den Sachverhalt (auch) aus psychiatrischer Sicht sozialmedizinisch abschließend zu beurteilen.
In Fallgestaltungen wie der vorliegenden, in der das Gericht (nur) genau das nachholt, was die Behörde versäumt hat, ist es im Regelfall angemessen, der Behörde die gesamten dadurch entstandenen Kosten aufzuerlegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 3. Halbsatz SGG in Verbindung mit § 154 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung.
Das Verfahren nach § 192 Abs 4 SGG ist ein gesondert geregeltes Nebenverfahren über Kosten eines Hauptsacheverfahrens. Das Hauptsacheverfahren ist die Klage des Versicherten gegen die Beschwerdeführerin als Beklagte. In dieser Verfahrensstellung als Beklagte hat die Beschwerdeführerin gegen die Kostenentscheidung des SG im angefochtenen Beschluss Beschwerde eingelegt. An diesem Beschwerdeverfahren ist der Kläger/Versicherte nicht (mehr) beteiligt. Die Kostenregelung § 197a Abs 1 SGG stellt auf das jeweilige Verfahren bzw. den jeweiligen Rechtszug ab (vgl Leitherer. AaO. § 197a Rdnr 3). Die Beschwerdeführerin ist als Trägerin der gesetzlichen Rentenversicherung in einem solchen Verfahren nicht kostenprivilegiert, weil am Verfahren keine nach § 183 SGG privilegierte Person (mehr) beteiligt ist. Die im Beschwerderechtszug anfallenden Gerichtskosten (Nr 7504 des Kostenverzeichnisses (KV) zum Gerichtskostengesetz (GKG)) sind folglich von der Beschwerdeführerin zu tragen, weil ihr Rechtsmittel ohne Erfolg geblieben ist (Senatsbeschluss vom 18.11.2013, Az L 18 KN 83/13 B; LSG Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 16.9.2013, Az L 8 U 3192/13 B und vom 11.03.2011, Az L 9 U 1083/10 B; so auch: Straßfeld in: Jansen. SGG. Kommentar. 4. Aufl. 2012, § 192 Rndr 19; aA LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11.08.2009 L 4 KR 108/09 B; Thüringer LSG, Beschluss vom 16.03.2009, L 1 B 201/08 U).
Der Festsetzung eines Streitwerts bedarf es nicht, weil sich die Kosten nicht nach dem Wert des Streitgegenstands richten, § 3 Abs 1 GKG iVm Nr 7405 KV zum GKG.
Diese Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden, § 177 SGG.
Gründe:
I.
Der 1958 geborene Kläger war seit Januar 2013 in seinem Beruf als Baufacharbeiter im Tiefbau arbeitsunfähig. Auf seinen Antrag von August 2013 bewilligte ihm die Beklagte - wegen der Folgen eines mehrfach operierten Bandscheibenleidens der Lendenwirbelsäule - eine stationäre medizinische Rehabilitation, die vom 22.10. bis 12.11.2013 in der (orthopädischen) Knappschaftsklinik T - Bad T stattfand. Im Entlassungsbericht ist unter "Psychosoziale/Psychosomatische Diagnostik" ausgeführt, der Kläger habe um zwei Beratungsgespräche gebeten, in denen er mitteilte, er sei wegen Ängsten und Schlafstörungen seit fast einem Jahr in psychotherapeutischer Behandlung. Es sei indiziert, diese Behandlung fortzusetzen (Bericht vom 19.11.2013).
Nach späterer Umdeutung des Antrags in einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung schaltete die Beklagte als Gutachter Internisten Dr. S (Zusatzbezeichnung "Sozialmedizin") des Sozialmedizinischen Dienstes (SMD) in N ein. Dieser hielt den Kläger unter Berücksichtigung der im Vordergrund stehenden Lendenwirbelsäulenerkrankung und der internistischen Nebenleiden - mit Einschränkungen - noch für in der Lage, körperlich leichte Tätigkeiten sechs Stunden und mehr arbeitstäglich zu verrichten (Gutachten vom 14.1.2014). Die Beklagte lehnte ab, Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren, bewilligte indes Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (Bescheid vom 14.7.2014).
Im Widerspruchsverfahren befragte die Beklagte nach Hinweis des Klägers, dass auch Leistungseinschränkungen auf psychiatrischem Fachgebiet vorliegen, den behandelnden Diplom-Psychologen X aus L. Dieser berichtete über eine regelmäßige Behandlung seit Januar 2013. Die psychischen Beschwerden, insbesondere Ängste und Antriebsstörung, hinderten den Kläger an einer normalen Bewältigung von Aufgaben. Seine Schmerzen hinderten ihn zudem an der Ausführung leichter körperlicher Arbeit über drei und mehr Stunden. Sein Leistungsvermögen sei als erloschen zu betrachten (Behandlungsbericht vom 29.10.2014). Die dazu befragte Ärztin des SMD N, Ärztin für Innere Medizin (Zusatzbezeichnungen "Sozialmedizin" und "Ernährungsmedizin") Dr. H, führte aus, die psychische Störung des Klägers stehe einer körperlich angepassten Tätigkeit von 6 Stunden und mehr arbeitstäglich nicht entgegen. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 17.3.2015).
Im anschließenden Klageverfahren schaltete das Sozialgericht (SG) als gerichtlichen Sachverständigen den Nervenarzt Dr. Dr. M aus F ein. Der Sachverständige stellt als leistungseinschränkende Erkrankungen seines Fachgebiets eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, eine rezidivierende depressive Störung, derzeit leichtgradig, und eine Persönlichkeitsakzentuierung fest. Diese führten dazu, dass der Kläger arbeitstäglich zwar noch drei, aber weniger als sechs Stunden für Erwerbsarbeit leistungsfähig sei. Die Beklagte erkannte - nach Einschaltung ihres beratenden Psychiaters L aus N - einen Anspruch des Klägers auf Rente wegen voller Erwerbsminderung ab August 2013 an (gerichtlicher Vergleich vom 30.6.2016).
Das SG hat der Beklagten die Kosten für das Gutachten des Dr. Dr. M in Höhe von EUR 1.738,72 auferlegt, weil sie im Verwaltungsverfahren unterlassen habe, ein psychiatrisches Gutachten einzuholen, obwohl dies erkennbar notwendig gewesen sei (Beschluss vom 1.8.2016, der Beklagten am 9.8.2016 zugestellt).
Mit ihrer Beschwerde vom 29.8.2016 begehrt die Beklagte die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses. Nach der Sachlage im Verwaltungsverfahren sei ein psychiatrisches Gutachten nicht unerlässlich gewesen. Der Kläger selbst habe keine psychischen Probleme "einer primär-psychiatrischen Erkrankung" angegeben und sei auch nicht in psychiatrischer Behandlung gewesen. Er habe damit selbst seinen psychischen Problemen keine bzw. geringe Bedeutung beigemessen. Keiner der den Kläger untersuchenden Ärzte habe eine psychische Erkrankung auch nur angedeutet. Die Ärzte des SMD mit der Fachbezeichnung "Sozialmedizin" verfügten über die erforderliche Fachkompetenz zur Beurteilung psychiatrischer Erkrankungen. Zur näheren Begründung bezieht sie sich auf eine Stellungnahme des Leitenden Arztes ihres Zentralen Beratungsdienstes, Internist Dr. L1 (Zusatzbezeichnungen "Sozialmedizin" und "Rehabilitationswesen") aus N (Stellungnahme vom 6.9.2016).
II.
Die statthafte und auch ansonsten zulässige Beschwerde ist unbegründet. Zu Recht hat das SG der Beklagten die Kosten des Gutachtens des gerichtlichen Sachverständigen Nervenarzt Dr. Dr. M aus F in Höhe von EUR 1.738,72 (= auf der Grundlage der Liquidation des Sachverständigen vom 5.1.2016 am 25.1.2016 von der Landeskasse angewiesener Betrag) auferlegt.
Das Gericht kann der Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden, § 192 Abs 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Notwendig sind objektiv erforderliche Ermittlungen. Erkennbar sind solche Ermittlungen dann, wenn sich der Behörde deren Notwendigkeit ausgehend von den gesetzlichen Bestimmungen und ihrer höchstrichterlichen Auslegung bzw. von einem vertretbaren Rechtsstandpunkt aus erschließen musste (Senatsbeschluss vom 18.11.2013, Aktenzeichen (Az) L 18 KN 83/13 B; Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer. Kommentar zum SGG. 11. Aufl. 2014, Rdnr. 18e zu § 192; Landessozialgericht (LSG) Sachsen, Beschluss vom 18.1.2011, Az L 2 U 166/10 B; LSG Niedersachsen, Beschluss vom 14. April 2011, Az L 7 AS 426/10 B; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17. Oktober 2011, Az L 4 R 396/11 B). Die seit dem 1.4.2008 geltende Regelung soll im gerichtlichen Verfahren entstandene Kosten "zurückverlagern", die den Justizhaushalten durch unterlassene Ermittlungen des Leistungsträgers im Verwaltungsverfahren entstehen (Bundestags-Drucksache 16/7716 Seite 23). Wie im Gerichtsverfahren ist auch im Verwaltungsverfahren der Sachverhalt von Amts wegen zu klären, § 20 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Dabei bedient sich die Behörde derjenigen Beweismittel, die sie nach pflichtgemäßem Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts für erforderlich hält, § 21 Abs 1 Satz 1 SGB X. Dieses pflichtgemäße Ermessen überschreitet sie, wenn sie einen Beweis nicht erhebt, der sich ihr bei vernünftiger Überlegung als für die Entscheidung bedeutsam hätte aufdrängen müssen (BVerwGE 26, 30; von Wulffen in: Von Wulffen (Hrsg). SGB X; 8.Aufl. 2013, § 21 Rdnr 3). Eine derartige Verletzung der Aufklärungspflicht sanktioniert § 192 Abs 4 SGG.
Zu Recht geht das SG davon aus, dass die Voraussetzungen des § 192 Abs 4 SGG hier vorliegen. Die Beklagte hat im Verwaltungsverfahren erkennbare und notwendige Ermittlungen unterlassen, indem sie unterließ, das Leistungsvermögen des Klägers im Erwerbsleben (auch) psychiatrisch umfassend zu klären.
Ist - wie hier - das Leistungsvermögen des Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermitteln, kommt es nach dem Gesetz darauf an, ob und inwieweit bei ihm Krankheiten und/oder Behinderungen vorliegen, die sein Leistungsvermögen einschränken, § 43 Abs 1 Satz 2, Abs 2 Satz 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch. Art und Umfang dieser sozialmedizinischen Abklärung bestimmen sich maßgeblich danach, welche Krankheiten oder Behinderungen beim Versicherten nach seinen Angaben und dem sonstigen Inhalt der Akten vorliegen, die sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken können. Dabei sind in der Regel auf ambulanter Untersuchung fußende ärztliche Gutachten einzuholen. Ermittlungen durch Fachärzte sind dabei immer dann erkennbar notwendig, wenn ansonsten Zweifel an der vollständigen Erfassung des Gesundheitszustandes verbleiben. So liegt der Fall hier. Eine vollständige Erfassung des Gesundheitszustandes des Klägers war ohne Einschaltung eines Arztes für Psychiatrie nicht möglich.
Neben der Abklärung der leistungseinschränkenden Gesundheitsstörungen des Klägers auf orthopädischem (bzw. organneurologischem) Fachgebiet, war nach Lage der Akten erkennbar eine Abklärung auf psychiatrischem Fachgebiet geboten. Bereits während der stationären Maßnahme in Bad T - T hat der Kläger selbst um Gespräche wegen seiner psychischen Beeinträchtigungen nachgesucht und mitgeteilt, er befinde sich deswegen seit Januar 2013 in laufender psychotherapeutischer Behandlung. Auch Dr. S hat in seinen Diagnosekatalog "Anamnestisch leichte depressive Episode" aufgenommen. Das erhellt, dass der Kläger entgegen der Auffassung der Beklagten durchaus auf psychische Leiden hingewiesen und ihnen nicht etwa "keine Bedeutung" beigemessen hat. Es kann dahinstehen, ob es bei diesem Sachverhalt noch pflichtgemäßem Ermessen entsprach, den sozialmedizinischen Sachverhalt nur von einem Internisten mit der Zusatzbezeichnung "Sozialmedizin" bewerten zu lassen. Spätestens nach Vorliegen des umfassenden Behandlungsberichts des Diplom-Psychologen X im Widerspruchsverfahren, der dezidierte Ausführungen zum Behandlungsverlauf, den beim Kläger vorliegenden Beeinträchtigungen und deren Auswirkungen auf das Erwerbsleben gemacht hat, musste sich der Beklagten, sofern sie dem nicht folgte, die Einschaltung eines psychiatrischen Gutachters aufdrängen. Es genügt dann gerade nicht, dass Gutachter anderer Fachgebiete eine psychiatrische Erkrankung nicht festgestellt haben (Bundessozialgericht, Beschluss v 24.5.2012, Az B 9 SB 79/11 B). Dabei mag in Ausnahmefällen genügen, einen psychiatrisch besonders ausgebildeten Sozialmediziner einzuschalten. Auch einen solchen hat die Beklagte jedoch offensichtlich nicht befragt. Im Gegenteil haben sowohl Dr. S als auch Dr. H trotz der aufgezeigten aktenkundigen Anhaltspunkte nicht erkannt, dass - wie der beratende Psychiater L im Klageverfahren bestätigt hat - beim Kläger bereits seit August 2013 das Leistungsvermögen signifikant einschränkende seelische Krankheiten vorlagen. Der lapidaren Äußerung der Ärztin Dr. H ist nicht zu entnehmen, dass sie über die Qualifikation verfügt, den Sachverhalt (auch) aus psychiatrischer Sicht sozialmedizinisch abschließend zu beurteilen.
In Fallgestaltungen wie der vorliegenden, in der das Gericht (nur) genau das nachholt, was die Behörde versäumt hat, ist es im Regelfall angemessen, der Behörde die gesamten dadurch entstandenen Kosten aufzuerlegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 3. Halbsatz SGG in Verbindung mit § 154 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung.
Das Verfahren nach § 192 Abs 4 SGG ist ein gesondert geregeltes Nebenverfahren über Kosten eines Hauptsacheverfahrens. Das Hauptsacheverfahren ist die Klage des Versicherten gegen die Beschwerdeführerin als Beklagte. In dieser Verfahrensstellung als Beklagte hat die Beschwerdeführerin gegen die Kostenentscheidung des SG im angefochtenen Beschluss Beschwerde eingelegt. An diesem Beschwerdeverfahren ist der Kläger/Versicherte nicht (mehr) beteiligt. Die Kostenregelung § 197a Abs 1 SGG stellt auf das jeweilige Verfahren bzw. den jeweiligen Rechtszug ab (vgl Leitherer. AaO. § 197a Rdnr 3). Die Beschwerdeführerin ist als Trägerin der gesetzlichen Rentenversicherung in einem solchen Verfahren nicht kostenprivilegiert, weil am Verfahren keine nach § 183 SGG privilegierte Person (mehr) beteiligt ist. Die im Beschwerderechtszug anfallenden Gerichtskosten (Nr 7504 des Kostenverzeichnisses (KV) zum Gerichtskostengesetz (GKG)) sind folglich von der Beschwerdeführerin zu tragen, weil ihr Rechtsmittel ohne Erfolg geblieben ist (Senatsbeschluss vom 18.11.2013, Az L 18 KN 83/13 B; LSG Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 16.9.2013, Az L 8 U 3192/13 B und vom 11.03.2011, Az L 9 U 1083/10 B; so auch: Straßfeld in: Jansen. SGG. Kommentar. 4. Aufl. 2012, § 192 Rndr 19; aA LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11.08.2009 L 4 KR 108/09 B; Thüringer LSG, Beschluss vom 16.03.2009, L 1 B 201/08 U).
Der Festsetzung eines Streitwerts bedarf es nicht, weil sich die Kosten nicht nach dem Wert des Streitgegenstands richten, § 3 Abs 1 GKG iVm Nr 7405 KV zum GKG.
Diese Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden, § 177 SGG.
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