S 37 AS 4687/16 WA

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
37
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 37 AS 4687/16 WA
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Der Sozialhilfeanspruch von EU-Bürgern, die ihren Lebensunterhalt mit SGB II-Beschlussleistungen sichergestellt hatten, kann nicht mit Verweis auf eine Rückkehr in den Herkunftsstaat verweigert werden.

2. Auch SGB II-Beschlussleistungen verpflichten den SGB II-Träger zur Durchführung der Kranken- und Pflegeversicherung. Ein Bedarf nach § 32 SGB XII besteht insoweit nicht.

3. Mit dem Gesetz zu Leistungsansprüchen ausländischer Personen vom 22.12.2016 hat der Gesetzgeber die Rechtsprechung des BSG zu Sozialhilfeansprüchen arbeitsuchender EU-Bürger im Grundsatz bestätigt.
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 21.6.2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.10.2013 verurteilt, 1. den Klägern für die Zeit vom 10.6. bis zum 30.6.2013 Alg II in Höhe von jeweils 434,92 EUR 2. den Klägern für Juli 2013 Alg II in Höhe von jeweils 600,63 EUR 3. der Klägerin für September 2013 Alg II in Höhe von 173,68 EUR und dem Kläger Alg II in Höhe von 135,49 EUR zu gewähren. Der Beklagte wird verurteilt, die Kläger für die Zeiten des Bezugs von Alg II zur Kranken- und Pflegeversicherung anzumelden und die gesetzlich geschuldeten Beiträge zu entrichten. Der Beigeladene wird verurteilt, dem Kläger Hilfe zum Lebensunterhalt 1. für die Zeit vom 27.9. bis zum 30.9.2013 in Höhe von 31,55 EUR 2. für Oktober 2013 in Höhe von 480,08 EUR 3. für November in Höhe von 271,95 EUR zu gewähren. Der Beklagte hat 3/4 der außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Der Beigeladene hat 1/4 der außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig sind existenzsichernde Ansprüche für die aus Polen stammenden Kläger im Zeitraum Juni bis November 2013.

Die Kläger lebten im Jahr 2013 als Bedarfs- bzw. Einstandsgemeinschaft zusammen. Für die gemeinsam angemietete Wohnung mussten sie bis August 2013 monatlich 552,68 EUR Warmmiete zahlen. Wegen einer im September 2013 fälligen Betriebskostennachzahlung für das Abrechnungsjahr 2012 (168,93 EUR) erhöhte sich die Miete ab September 2013 auf 615,68 EUR. Trotz einer Kündigung wegen Mietschulden haben die Kläger im streitigen Zeitraum in der Wohnung gelebt.

Beide hatten eine bei der Fa. NNNN vom 22.7.2012 bis zum 28.3.2013 ausgeübte Beschäftigung als Reinigungskraft durch fristlose, arbeitgeberseitige Kündigung verloren.

Wegen vorangegangener Beschäftigungszeiten erhielten die Kläger auf eine Arbeitslosmeldung bei der Arbeitsagentur am 10.6.2013 Arbeitslosengeld, das für die Klägerin aufgrund einer Sperrzeit wegen Arbeitsaufgabe und wegen verspäteter Meldung erst ab 28.6.2013 auszuzahlen war und wegen eines vom Beklagten angemeldeten Erstattungsanspruchs ab 1.7.2013 ausgezahlt wurde in Höhe von täglich 16,03 EUR für 240 Tage, d. h. bis zum 26.11.2013 und für den Kläger wegen einer Sperrzeit ab 21.6.2013 in Höhe von täglich 16,01 EUR für 180 Tage, d. h. bis zum 26.9.2013. Den von der Klägerin für die Bedarfsgemeinschaft gestellten Alg II-Antrag vom 10.6.2013 hatte der Beklagte mit der Begründung, es bestehe ein Leistungsausschluss nach § 7 SGB II, abgelehnt (Bescheid vom 21.6.2013, bestätigt mit Widerspruchsbescheid vom 15.10.2013).

Im Eilverfahren hatten die Kläger vorläufige Leistungen für die Zeit vom 31.7.2013 bis zum 30.11.2013 erstritten; wegen der Einzelheiten wird auf den Beschluss des LSG vom 3.9.2015 - L 25 AS 2211/13 B ER Bezug genommen.

Obwohl der Beklagte zur Auszahlung von Alg II verpflichtet worden war, hatte er keine Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung entrichtet. Die AOK nimmt deshalb den Kläger auf Zahlung von KV/PV-Beiträgen im Zeitraum Juli bis November 2013 in Anspruch.

Mit der am 5. November 2013 erhobenen Klage, die im Hinblick auf anhängige Klagen beim EuGH ruhend gestellt worden war mit Wiederaufnahme am 30.3.2016, machen die Kläger SGB II-Leistungen, hilfsweise Sozialhilfe nach dem Dritten Kapitel SGB XII, geltend.

Zur Hilfebedürftigkeit tragen sie vor, neben den Zahlungen der AA und der Alg II-Beschlussleistung über keine weiteren Einnahmen oder Vermögen im Zeitraum Juni bis November 2013 verfügt zu haben.

Der Bevollmächtige der Kläger beantragt bei verständiger Würdigung des schriftsätzlichen Vorbringens unter Berücksichtigung der EuGH- und BSG-Rechtsprechung,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 21.6.2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.10.2013 zu verurteilen, den Klägern für die Zeit vom 1.6. bis zum 30.11.2013 die gesetzlich zustehenden Leistungen nach dem SGB II unter Beachtung der Beschlussleistung zu gewähren,

die mit der Zahlung von Alg II verbundene Pflichtversicherung durchzuführen

den Beigeladenen zu verurteilen, den Klägern für die Zeit vom 1.6. bis zum 30.11.2013 die gesetzlich zustehenden Leistungen nach dem SGB XII zu gewähren, soweit ein Leistungsausschluss nach § 7 SGB II besteht.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beigeladene beantragt,

die Klage abzuweisen.

Ergänzend wird zum übrigen Sach- und Streitstand auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die beigezogene Leistungsakte und die Leistungsakten der Arbeitsagentur verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt haben.

Die zulässige Klage ist auch begründet. Die Kläger haben für die Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld nach §§ 136 ff SGB III Anspruch auf ergänzende Leistungen nach dem SGB II. Daran knüpft die Verpflichtung des Beklagten, die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu entrichten. Soweit ein Leistungsausschluss außerhalb der Alg-Bezugszeiten besteht, muss der Hilfebedarf mit Sozialhilfe gesichert werden.

Im Einzelnen:

I. Dass die Kläger für die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld (Stammrecht), d. h. für die Klägerin vom 10.6. bis zum 26.11.2013 und für den Kläger vom 10.6. bis zum 26.9.2013 Anspruch auf ergänzendes Alg II haben, hat das LSG Berlin-Brandenburg im Beschluss vom 27.10.2015 – L 20 AS 2197/15 B ER umfassend begründet. Das erkennende Gericht schließt sich der überzeugenden Argumentation an. Der Beklagte hat dem keinerlei Argument entgegengesetzt. Nähere Ausführungen zum Leistungsanspruch nach dem SGB II sind daher entbehrlich.

Der unter Berücksichtigung der Beschlussleistung noch offene Hilfebedarf beträgt:

Im Juni 2013 (vom 10.6. bis zum 30.6.)

- 434, 92 EUR für die Klägerin

- 434,92 EUR für den Kläger,

jeweils [345 EUR Regelbedarf + 276,34 EUR anteilige KdU]: 30 x 21 Tage

Über Einkommen verfügten die Kläger im Juni 2013 nicht. Das LSG hatte erst ab 31.7.2013 auf Leistungen erkannt, die AA hat erst Ende August Leistungen nachgezahlt.

Im Juli 2013

Anzurechnen auf den Bedarf von jeweils 621,34 EUR (=345 EUR Regelbedarf + 276,34 EUR anteilige KdU) ist nur die vom LSG zuerkannten Beschlussleistung. Obwohl sie erst am 12.9.2013 ausgezahlt wurde, ist sie normativ auf den Juli-Bedarf zu beziehen, d. h.

- 600,63 EUR (= 621,34 EUR - 20,71 EUR) für die Klägerin

- 600,63 EUR (= 621,34 EUR - 20,71 EUR) für den Kläger.

Im August 2013

Im August 2013 hat die Klägerin als Nachzahlung von der AA sowohl die Leistung für Juli als auch die für August erhalten (jeweils 480,90 EUR mit Zufluss am 30.8.2013). Nach Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 24.4.2015 – B 4 AS 32/14 R), der das erkennende Gericht folgt, handelte es sich bei der Juli-Nachzahlung um laufendes Einkommen, das im August 2013 anzurechnen ist. Dasselbe gilt für die an den Kläger gezahlten Leistungen der AA in Höhe von 640,40 EUR (Zufluss am 16.8.2013) und 480,30 EUR (Zufluss am 30.8.2013).

Gegen die Entscheidung des LSG, die bei Zufluss am Monatsende von einer Verfügbarkeit bzw. Anrechnung des Alg erst im September 2013 ausgeht, sind die am 30.8.2013 auf das Konto gegangenen Alg-Zahlungen als laufendes Einkommen dem August zuzurechnen.

Der August-Bedarf der Kläger ist daher schon mit den Zahlungen der AA gedeckt worden, so dass eine Alg II- Nachzahlung nicht mehr in Betracht kommt.

Im September 2013

Im September 2013 hat die Klägerin 480,90 EUR von der AA erhalten, der Kläger 416,26 EUR (Zufluss am 30.9.2013). Dieses Einkommen ist jeweils um die 30 EUR-Versicherungspauschale bereinigt nach § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II zur Hälfte auf die Individualansprüche der Kläger anzurechnen.

Bei der Berechnung des Anspruchs ist zu beachten, dass der Kläger seit 27.9.2013 von SGB II-Leistungen ausgeschlossen war. Die horizontale Verteilung erstreckt sich daher nur auf den Zeitraum 1.9. bis 26.9.2013. Das ihm am 30.9.2013 zugeflossene Alg von der AA (416,26 EUR) ist dementsprechend nur anteilig in der Bedarfsgemeinschaft zu verteilen.

Außerdem ist zu beachten, dass sich im September der KdU-Bedarf geändert hatte. Neben der Betriebskostennachzahlung von 168,93 EUR war die Miete auf 615,68 EUR erhöht worden. Es ergeben sich folgende Ansprüche:

Gesamtbedarf 1.9. – 26.9.2013 = [345 EUR + 345 EUR + 615,68 EUR + 168,93 EUR]: 30 X 26 Tage = 1.278 EUR, abzüglich bereinigtes Alg [450,90 EUR + 386,26 EUR]: 30 x 26 = 725,54 EUR,

Bedarf der Klägerin für den 27.9. bis 30.9.2013 [737,31 EUR: 30 x 4] = 98,31 EUR abzüglich bereinigtes Alg [450,90 EUR: 30 x 4] = 60,12 EUR

d.h. - 276,23 EUR + 38,19 EUR (= 98,31 EUR - 60,12 EUR) abzüglich der Beschlussleistung von 140,74 EUR = 173,68 EUR.

- 276,23 EUR für den Kläger, abzüglich der Beschlussleistung von 140,74 EUR = 135,49 EUR.

Im Oktober 2013

Im Oktober 2013 steht dem Bedarf der Klägerin von 345 EUR + 307,79 EUR = 652,79 EUR Einkommen in Höhe von 480,90 EUR Alg gegenüber, bereinigt 450,90 EUR. Außerdem ist die am 30.9.2013 zugeflossene LSG-Beschlussleistung in Höhe von 172,76 EUR normativ dem Oktober zuzuordnen, womit der Bedarf gedeckt ist. Eine Nachzahlung ergibt sich nicht.

Im November 2013 (vom 1.11. bis zum 26.11.)

Im November 2013 hat die Klägerin 416,78 EUR von der AA erhalten (Zufluss am 29.11.2013). Dieses Einkommen ist um die 30 EUR-Versicherungspauschale bereinigt zusammen mit der normativ vom Beklagten für November ausgezahlten Beschlussleistung von 380,89 EUR anzurechnen, womit der Hilfebedarf vollständig gedeckt ist.

II. Der Bezug von Alg II begründet nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V in der für 2013 geltenden Fassung eine KV-Pflichtversicherung, für die der Beklagte die Beiträge zu entrichten hat (§ 251 Abs. 4 SGB V).

Auch eine Beschlussleistung nach § 86b Abs. 2 SGG gibt einen vorläufigen Anspruch auf Alg II mit einem KV-Pflichtversicherungsstatus, der die Beitragspflicht des Beklagten auslöst (SG Berlin vom 10.7.2014 - S 81 KR 1172/14; LSG NRW vom 27.8.2014 - L 2 AS 991/13 B).

Maßgeblich für die KV-Pflichtversicherung ist der "Bezug" von Alg II, der hier für beide Kläger für Juli bis November 2013 durch den LSG-Beschluss begründet wurde. Dass dem Kläger für die Zeit vom 27.9. bis 30.11.2013 kein Alg II zusteht, ändert den KV-Status nicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 2a zweiter Halbsatz SGB V). Der Beklagte muss den Kläger nach § 203a SGB V zur Krankenkasse anmelden und die Beiträge zahlen.

Ein möglicher Erstattungsanspruch des Beklagten gegen den Kläger mit der Folge einer Beitragserstattung nach § 40 Abs. 2 Nr. 5 SGB II i. V. m. § 335 SGB III steht dem nicht entgegen. Derzeit ist völlig offen, ob der Beklagte vom Kläger eine Rückzahlung der Beschlussleistung fordern kann.

III. Soweit kein Anspruch auf Arbeitslosengeld besteht, geht die Kammer davon aus, dass die Kläger nur als Arbeitsuchende freizügigkeitsberechtigt waren und daher dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 2 Nr. 2 SGB II a. F. unterfielen. Sie hatten bis Juni 2013 zwar länger als 1 Jahr gearbeitet, die zuletzt ausgeübte Beschäftigung aber nicht unfreiwillig i. S. von § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG verloren.

Soweit die Klägerin gegenüber der AA geltend gemacht hatte, sich wegen Alkoholproblemen nicht rechtzeitig arbeitsuchend gemeldet zu haben, könnte dies auf eine Krankheit deuten. Ob eine Alkoholabhängigkeit mit Kontrollverlust bestand und dies als eine "unfreiwillige" Aufgabe des Arbeitsplatzes i. S. von § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG gewertet werden kann, ist aber nicht mehr verlässlich aufzuklären. Soweit der SGB III-Akte zu entnehmen ist, sind weder AU-Zeiten noch Behandlungen oder sonstige Störungen im Leistungsverlauf verzeichnet. Eine aussagefähige Begutachtung mit einer Rückschau auf das Jahr 2013 ist daher ausgeschlossen. Im Alg-Antrag wurden keine Einschränkungen gesundheitlicher Art geltend gemacht. Auch in der Alg II-Leistungsakte findet sich dazu nichts.

Soweit noch Aussagen zum Verlust der Arbeitsstelle getroffen werden können, deutet somit mehr auf eine die Arbeitnehmer-Freizügigkeit beendende Situation.

Der Kläger hatte gegenüber der AA geltend gemacht hatte, sich wegen einer Behandlung im Krankenhaus befunden zu haben. Das entkräftet nicht den berechtigten Grund des Arbeitgebers für die am 28.3.2013 ausgesprochene Kündigung wegen einer unentschuldigten Fehlzeit seit 10.3.2013. Denn selbst wenn der Kläger schon am 13.3.2013 ins Krankenhaus gehen musste, war er nicht daran gehindert, den Arbeitgeber zu informieren. Die Verletzung dieser Pflicht rechtfertigte angesichts einer vorausgegangenen Abmahnung die Kündigung. Von einem "unfreiwilligen" Verlust des Arbeitsplatzes kann unter diesen Umständen nicht ausgegangen werden.

Damit steht fest, dass der ungedeckte Hilfebedarf außerhalb der Bezugszeit von Arbeitslosengeld nach dem SGB III mit Sozialhilfeleistungen abzudecken ist.

Das erkennende Gericht folgt insoweit der Rechtsprechung des BSG, die unter Beachtung der Entscheidungen des BVerfG zum Grundrecht auf Existenzsicherung überzeugt. Denn nach BVerfG gewährt Art. 1 GG einen Anspruch auf Absicherung des Existenzminimums für Menschen, die legal im Bundesgebiet leben, wie hier die Kläger. Das Grundrecht aus Art. 1 GG ist nur gewahrt, wenn der elementare Lebensbedarf eines Menschen in dem Augenblick befriedigt wird, in dem er entsteht (vgl BVerfG, 09.02.2010, 1 BvL 1/09, BVerfGE 125, 175 (225)). "Bei der Prüfung der Hilfebedürftigkeit als Voraussetzung eines Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 7 Abs. 1 S 1 Nr. 3, § 9 SGB 2) ist daher auf die gegenwärtige tatsächliche Situation der Antragsteller abzustellen." (BVerfG vom 6.8.2014 – 1 BvR 1453/12).

Dieser Beurteilungsmaßstab schließt eine vollständige Versagung von Leistungen mit Verweis auf mutmaßliche Hilfen im Herkunftsstaat aus. Die aufenthaltsrechtlich nicht geschuldete Rückkehr ins Herkunftsland mit ungeklärter Perspektive ist kein bereites Mittel i. S. von § 2 SGB XII. Gäbe es eine solche Selbsthilfeobliegenheit, müssten sich auch nicht allein wegen der Arbeitsuche freizügigkeitsberechtigte Personen hierauf verweisen lassen, eine Auffassung, die in der juristischen Auseinandersetzung mit der BSG-Rechtsprechung niemand vertritt.

Warum nur arbeitsuchende EU-Bürger im Hilfefall ausreisen sollen, ist daher unverständlich, es sei denn, man knüpft die Sozialhilfegewährung an bestimmte, aufenthaltsrechtliche Zusatzvoraussetzungen, die es vor Neufassung von § 23 SGB XII zum 29.12.2016 indes gar nicht gab. Bis dahin ist der Verweis auf vorrangige Hilfen im Heimatland nicht mehr als eine "sozialpolitische Forderung ohne inhaltlich-argumentativen Bezug zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben" (so zutreffend LSG NRW vom 30.11.2015 – L 6 AS 1480/15 B ER).

Im Übrigen können Hilfesuchende nur auf zumutbaren Selbsthilfebemühungen verwiesen werden, was jedenfalls hier - rückblickend - eine Selbsthilfe durch Rückkehr ausschließt. Denn bis zur Entscheidung des EuGH in Sachen Alimanovic war der Alg II-Leistungsausschluss höchst umstritten. Die Kläger hatten keine Veranlassung, sich wegen der aus ihrer Sicht fehlerhaften Leistungsablehnung durch Ausreise aus dem Bundesgebiet ihrer Ansprüche zu begeben.

Das BSG wahrt mit seiner Rechtsprechung die Grenzen verfassungskonformer Auslegung. § 21 SGB XII hat nur in der einseitigen Lesart einiger Instanzgerichte eine Sperrwirkung.

Seit Inkrafttreten des SGB II und des SGB XII gibt es (sozialmedizinisch) erwerbsfähige Personen mit Leistungsansprüchen nach dem 3. Kapitel SGB XII (stationäre Unterbringung, Haft, Rentenbezug), ohne dass dies mit einer fingierten Erwerbsunfähigkeit begründet werden müsste.

Dasselbe gilt umgekehrt für Arbeitsmarktrentner und langjährig obdachlose Menschen; obwohl ohne jede Vermittlungschance, werden sie einem System zugeordnet, das auf Eingliederung in den Arbeitsmarkt setzt. Einer Fiktion der Erwerbschance bedarf es nicht.

Die Entscheidung für zwei Sozialhilfe-Systeme bedingt unter der verfassungsrechtlichen Pflicht zur Existenzsicherung zwangsläufig eine Zuordnungsregelung, die angesichts der Vielfältigkeit der Bedarfslagen nicht streng dichotomisch angelegt ist.

Sofern abweichende Instanzgerichte auf den Willen des Gesetzgebers, erwerbsfähige Personen dem Rechtskreis des SGB II zuzuordnen, abstellen, missachten sie methodische Standards der Auslegung. Denn wie schon ein erster Blick auf die Gesamtsystematik des SGB II zeigt, hat sich der vermeintliche Wille nicht im Gesetz niedergeschlagen. Sonst wäre z. B. die Regelung des § 31b Abs. 2 SGB II und die entsprechenden Vorgängerregelung sinnlos, ginge der Gesetzgeber konsequent davon aus, dass erwerbsfähige Personen generell keine Sozialhilfe beanspruchen können. Zum 1.8.2016 hat der Gesetzgeber "klargestellt", dass Freigänger, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, von SGB II-Leistungen ausgeschlossen sind. Im Bedarfsfall bekommen sie ergänzende Sozialhilfe. Die Fiktion, sie seien erwerbsunfähig, ist hier geradezu absurd.

Schließlich sollte anerkannt und respektiert werden, dass der Gesetzgeber dem BSG mit dem "Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen" vom 22.12.2016 im Ergebnis folgt, wenn auch mit einer verfassungsrechtlich höchst riskanten Leistungsbegrenzung.

Der wirklich problematische Aspekt der BSG-Rechtsprechung ist die Abschwächung des Grundrechts auf Existenzsicherung für Arbeitsuchende auf eine Ermessensleistung, was hier aber nicht näher vertieft werden muss, da zweifelsfrei ein Fall der Ermessensreduktion auf Null vorliegt.

Dass die Kläger dem Grunde nach einen Rechtsanspruch auf Sozialhilfe haben, kann daher nicht ernsthaft bestritten werden und wird auch von beiden SO-Senaten des LSG Berlin-Brandenburg so gesehen.

Der am 10.6.2013 mit Wirkung zum 1.1.2013 gestellte Alg II-Antrag der Kläger bezieht sich nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz und § 16 SGB I auf einen Hilfebedarf nach § 19 SGB XII. Ein entgegenstehender Wille der Kläger ist nach den damaligen Umständen auszuschließen.

Die Kammer hält auch einen Hilfebedarf nach dem SGB XII für hinreichend nachgewiesen. Anlässlich der Zuerkennung von Alg II-Ansprüchen unter Einbeziehung der für den PKH-Antrag eingereichten Unterlagen sind die Vermögens- und Einkommensverhältnisse geprüft worden und haben auch nach SGB XII-Maßstäben keine bereiten Mittel oder verwertbares Vermögen (z. B. Kfz) ergeben.

Für die SGB XII-Bedarfsprüfung sind daher nur die ausgekehrten Leistungen vorrangiger Träger bedarfsmindernd zu berücksichtigen. Ob die LSG-Beschlussleistung zurückgezahlt werden muss, ist unerheblich. Sie stand seinerzeit für den Lebensunterhalt zur Verfügung. Soweit deshalb der Bedarf gedeckt war, kommen Sozialhilfeleistungen nicht mehr in Betracht.

Für Juni 2013 (vom 1.6. bis zum 9.6.2013) ist außerdem der Grundsatz des § 18 SGB XIII zu beachten, wonach es keine Sozialhilfe für die Vergangenheit gibt. Erst der Alg II-Antrag vom 10.6.2013 hat deshalb eine Eintrittspflicht des Beigeladenen begründet. Zwar gilt nach § 16 SGB I der Alg II-Antrag auch als am 10.6.2013 gestellter Sozialhilfeantrag, er wirkt aber nicht gemäß § 37 SGB II auf den ersten des Monats zurück.

Demnach bleiben nur für den Kläger nach Ende des Alg-Bezugs noch offene Leistungsansprüche nach § 19 SGB XII:

Im September 2013 (vom 27.9. bis 30.9.2013)

Anzurechnen auf den Bedarf von 652,84 EUR (=345 EUR Regelbedarf + 307,84 EUR anteilige KdU): 30 x 4 = 87,05 EUR ist das an den Kläger gezahlte Alg, soweit es nicht in der SGB II-Bedarfsgemeinschaft bereits berücksichtigt wurde, d. h. 416,26 EUR: 30 x 4 = 55,50 EUR.

Die vom LSG zuerkannte Beschlussleistung ist der SGB II-Bedarfsgemeinschaft zuzurechnen. Das an die damalige Partnerin, die Klägerin, gezahlte Alg war in der seit 27.9.2013 bestehenden, gemischten Bedarfsgemeinschaft nur auf deren Bedarf nach dem SGB II anzurechnen. Demnach hat der Kläger noch Anspruch auf Sozialhilfe in Höhe von 31,55 EUR.

Im Oktober 2013

Anzurechnen auf den Bedarf von 652,84 EUR (=345 EUR Regelbedarf + 307,84 EUR anteilige KdU) ist nur die vom LSG zuerkannten Beschlussleistung in Höhe von 172,76 EUR, ergibt 480,08 EUR.

Im November 2013

Anzurechnen auf den Bedarf von 652,84 EUR (=345 EUR Regelbedarf + 307,84 EUR anteilige KdU) ist nur die vom LSG zuerkannten Beschlussleistung in Höhe von 380,89 EUR, ergibt 271,95 EUR.

Ein Anspruch des Klägers auf Übernahme der Beiträge zur freiwilligen Versicherung nach § 188 Abs. 4 SGB V sowie zur Pflegeversicherung für die Monate Oktober und November 2013 (§ 32 SGB XII) besteht wegen der KV-Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V als Folge aus der LSG-Beschlussleistung nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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