S 15 VJ 2/07

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Landshut (FSB)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 15 VJ 2/07
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Multiple Sklerose
Impfschadensfolge
Entschädigung nach dem Infektionsschutzgesetz
I. Der Beklagte wird verurteilt, unter Aufhebung des Bescheides vom 18.01.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.11.2007 die bei der Klägerin vorliegende Multiple Sklerose ab 01.10.2003 im Wege der Kannversorgung als Impfschadensfolge anzuerkennen und Entschädigung nach dem Infektionsschutzgesetz zu gewähren.

II. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt der Beklagte in vollem Umfang.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Anerkennung der bei ihr unstreitig vorliegenden Multiplen Sklerose als Folge einer Hepatitis-B-Impfung.

Die am ...1986 geborene Klägerin erhielt am 06.12.2002 eine Impfung gegen Hepatitis B mit dem Impfstoff "Gen H-B-Vax" der Firma Aventis-Pasteur. Die verwendete Charge war P 41365-1. Die Klägerin war seit 2002 an der Fachoberschule und musste sich wegen eines Praktikums in einem Krankenhaus dieser Hepatitis-B-Impfung unterziehen. Ab Mitte Januar 2003 traten Doppelbilder auf, so dass die Klägerin am 17.01.2003 deshalb bei ihrem Hausarzt, Dr. W ... in A-Stadt, vorstellig wurde. Dieser überwies sie weiter in die Kinderklinik ... H ... in R ... Dort war sie vom 17.01.2003 bis 26.01.2003 in stationärer Behandlung zur diagnostischen Abklärung. Es wurde die Diagnose gestellt "inkomplette Abduzensparese" und "Verdacht auf akute demyelisierende Enzephalomyelitis". Im Kernspintomogramm zeigten sich Marklagerläsionen, Balkenläsionen links, eine paramediane Ponsläsion, was den Verdacht erhärtete. Die Bestimmung von oligoklonalen Banden aus dem Liquor war allerdings nicht eindeutig.

Die eindeutige Diagnose einer "Multiplen Sklerose vom schubförmigen Typ" wurde im September 2003 in der ...- ...-Klinik in B ... gestellt. Ab ca. Mitte August 2003 war es bei der Klägerin zu Taubheitsgefühlen an den Händen, den Füßen, zum Teil auch am Bauch und verschiedenen anderen Stellen des Körpers gekommen. In der ...- ...-Klinik wurde im Liquor ein entzündliches Geschehen, sowie auffällige Kontrastmittel-aufnehmende Herde im Bereich der Halswirbelsäule gefunden. Es wurde eine Cortison-Stoßtherapie sowie anschließend eine Dauerbehandlung mit Interferon eingeleitet. Die Taubheitsgefühle bildeten sich anschließend wieder zurück. Seither kommt es aber immer wieder zu Schüben der Multiplen Sklerose.

Zur Klärung des Kausalzusammenhangs hat der Beklagte ein Gutachten der Neurologin und Psychiaterin Dr. A ... in Auftrag gegeben. Dr. A ... führte im Gutachten vom 09.03.2006 aus, dass klinisch eindeutig eine "Multiple Sklerose vom schubförmigen Typ" vorliege. Aus ihrer Sicht bestehe aber kein wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen der Hepatitis-B-Impfung und dem Auftreten der Multiplen Sklerose. Es gäbe keine aussagekräftigen Studien darüber, die belegen würden, dass das Auftreten einer Multiplen Sklerose nach einer Hepatitis-B-Impfung statistisch gehäuft sei. Da der Entstehungsmechanismus dieser Erkrankung noch nicht exakt bekannt sei, könne man auch nicht erklären, inwieweit die Impfung Einfluss haben kann auf deren Entstehung. Zudem lägen auch die Voraussetzungen für die sog. Kannversorgung nicht vor. Diese sei nur zu gewähren bei schweren körperlichen Belastungen, welche geeignet seien, die Resistenz herabzusetzen. Bei einer Impfung sei zudem zu diskutieren, ob es zu einer ausgeprägten Erstreaktion gekommen sei. Bei der Klägerin habe weder eine ausgeprägte Erstreaktion vorgelegen, noch sonstige außergewöhnliche Belastungsfaktoren, welche die Entstehung der Multiplen Sklerose erklären könnten. Sie könne keine Anerkennung von Impfschadensfolgen vorschlagen.

Auf Grund ihrer Einschätzung hat der Beklagte im Bescheid vom 18.01.2007 die Anerkennung der Multiplen Sklerose als Impfschadensfolge abgelehnt. Der hiergegen eingelegte Widerspruch der Klägerin vom 08.02.2007 wurde im Widerspruchsbescheid vom 28.11.2007 zurückgewiesen.

Hiergegen hat die Klägerin mit Schreiben vom 18.12.2007 Klage beim Sozialgericht Landshut erhoben. Das Gericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin beigezogen und den Impfspezialisten Dr. I., der selbst lange Jahre im ...l- ...-Institut gearbeitet hat, zum ärztlichen Sachverständigen ernannt.

Im Gutachten vom 03.06.2009 sah Dr. I. einen wahrscheinlichen Kausalzusammenhang zwischen der am 06.12.2002 verabreichten Hepatitis-B-Impfung und der Multiplen Sklerose. Er gehe davon aus, dass es sich im Januar/Februar 2003 um eine "akute disseminierte demyelisierende Enzephalomyelitis (ADEM)" handelte, wobei dieser Verdacht auch von der Kinderklinik ... in R ... ausgesprochen worden sei. In der Folge habe sich eine klassische "Multiple Sklerose vom schubförmigen Typ" entwickelt. Die Hepatitis-B-Impfung, welche von ihrer Wirkungsweise her direkt das Immunsystem stimuliere, sei als plausibler Auslöser für die MS-Erkrankung zu betrachten.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin stellt den Antrag, den Bescheid des Beklagten vom 18.01.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28.11.2007 aufzuheben und die multiple Sklerose als Impfschadensfolge anzuerkennen. Der Beklagtenvertreter beantragt, die Klage abzuweisen.

Im Hinblick auf die weiteren Einzelheiten wird verwiesen auf die beigezogene Akte des Beklagten, sowie auf die vorliegende Streitakte.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Nach der Überzeugung der Kammer kann zwar die Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhangs nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft noch nicht ausreichend beurteilt werden, es liegen jedoch die Voraussetzungen der Kannversorgung nach § 61 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) vor.

Wer durch eine öffentlich empfohlene Impfung mit Wahrscheinlichkeit einen Impfschaden erlitten hat, hat wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des Impfschadens auf Antrag Anspruch auf Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (gemäß § 60 Abs.1 IfSG). Ein Impfschaden ist gemäß § 2 Nr.11 IfSG ein über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehender Gesundheitsschaden. Anspruch auf Versorgung besteht, wenn durch eine Impfung mit Wahrscheinlichkeit ein Impfschaden sowie ein darauf beruhender andauernder Gesundheitsschaden verursacht worden sind. Der Gesundheitsschaden selbst muss unter Vollbeweis, d. h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein. Impfschaden und Gesundheitsstörung müssen nach § 61 IfSG i.V.m. § 1 Abs.3 Satz 1 BVG mit Wahrscheinlichkeit durch die Impfung verursacht sein, d. h. es muss mehr für als gegen einen solchen Zusammenhang sprechen (BSG-Entscheidung 60, 58).

Unstreitig liegt bei der Klägerin die Erkrankung einer Multiplen Sklerose vor. Dr. I. hat in seinem Gutachten vom 03.06.2009 noch genauer zwischen den einzelnen Sonderformen und Stadien der Erkrankung differenziert. Eine Sonderform ist beispielsweise die "akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM)". Ganz typisch für die ADEM ist, dass im Liquor die sog. oligoklonalen Banden, wie sie ansonsten für die MS typisch sind, fehlen. Weil diese im Februar 2003 noch nicht nachzuweisen waren, wurde zunächst die Verdachtsdiagnose einer "akuten disseminierten demyelisierenden Enzephalomyelitis (ADEM)" und erst später (ab September 2003) die Diagnose einer "schubförmig verlaufenden multiplen Sklerose (MS)" gestellt. Die MS ist die häufigste entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Die Erkrankung tritt bevorzugt in gemäßigten klimatischen Zonen auf und erreicht in Deutschland eine Prävalenz von 8 Personen unter 10.000 Einwohnern.

Das hiesige Gericht hat sich bereits in anderen Fällen mit der Frage auseinander gesetzt, ob nach der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung ein wahrscheinlicher Kausalzusammenhang zwischen einer Hepatitis-B- bzw. FSME-Impfung und der zeitnahen Entstehung einer Multiplen Sklerose bestehen kann (vgl. Verfahren S 15 VJ 1/06 und S 15 VJ 3/05). Im Verfahren S 15 VJ 1/06 wurde zu dieser Frage ein Gutachten der Neurologin Prof. Dr. Z ... der ... B ... vom 25.06.2007 eingeholt. Nach den Darlegungen in diesem Gutachten, das hier im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden kann, ist es momentan der medizinischen Wissenschaft noch nicht möglich, zu beurteilen, ob eine Hepatitis-B-Impfung das Risiko einer MS-Erkrankung erhöht. Eine statistische Häufung von MS-Erkrankungen oder MS-Schüben nach einer durchgeführten Hepatitis-B-Impfung ist in einzelnen Studien, aber nicht in der Mehrzahl der durchgeführten Studien beobachtet worden. Laut Prof. Dr. Z ... ist die Pathogenese und Ätiologie der MS noch nicht hinreichend geklärt. Nach herrschender Lehrmeinung wird eine autoimmunologisch vermittelte Erkrankung des zentralen Nervensystems angenommen. Es wird davon ausgegangen, dass durch T-Helferzellen eine Immunreaktion gegen bestimmte Bestandteile des zentralen Nervensystems (sog. Autoimmunreaktion) angestoßen wird. Nach der herrschenden medizinischen Auffassung ist es aber noch nicht geklärt, was als Auslöser für diese Ursachenkette in Frage kommt und ob ggf. auch Impfungen in Betracht kommen können. Damit kann nach Meinung der Kammer die Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhangs derzeit noch nicht hinreichend beurteilt werden.

Nach der Rechtsauffassung der Kammer liegen jedoch die Voraussetzungen für eine Kannversorgung nach Teil C Ziffer 4 der sog. "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" vom 10.12.2008 vor. Danach kann eine Schädigungsfolge/Impfschadensfolge anerkannt werden, wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht (sog. Kannversorgung). Folgende medizinische Voraussetzungen müssen erfüllt sein:

a) Über die Ätiologie und Pathogenese des Leidens darf keine durch Forschung und Erfahrung genügend gesicherte medizinisch-wissenschaftliche Auffassung herrschen. Eine von der medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung abweichende persönliche Ansicht einer sachverständigen Person erfüllt nicht den Tatbestand einer Ungewissheit in der medizinischen Wissenschaft.

b) Wegen mangelnder wissenschaftlicher Erkenntnisse und Erfahrungen darf die ursächliche Bedeutung von Schädigungstatbeständen oder Schädigungsfolgen für die Entstehung und den Verlauf des Leidens nicht mit Wahrscheinlichkeit beurteilt werden können. Ein ursächlicher Einfluss der im Einzelfall vorliegenden Umstände muss in den wissenschaftlichen Arbeitshypothesen als theoretisch begründet in Erwägung gezogen werden. Ist die ursächliche Bedeutung bestimmter Einflüsse trotz mangelnder Kenntnis der Ätiologie und Pathogenese wissenschaftlich nicht umstritten, so muss gutachterlich beurteilt werden, ob der ursächliche Zusammenhang wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist.

c) Zwischen der Einwirkung der wissenschaftlich in ihrer ursächlichen Bedeutung umstrittenen Umstände und der Manifestation des Leidens oder der Verschlimmerung des Krankheitsbildes muss eine zeitliche Verbindung gewahrt sein, die mit den allgemeinen Erfahrungen über biologische Verläufe und den in den wissenschaftlichen Theorien vertretenen Auffassungen über Art und Wesen des Leidens in Einklang steht.

Zur Voraussetzung a) ist auszuführen, dass nach dem für das Gericht nachvollziehbaren Gutachten von Prof. Dr. Z ... im Verfahren S 15 VJ 1/06, das im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden kann, keine ausreichenden Erkenntnisse über die Ätiologie und Pathogenese der MS-Erkrankung vorliegen. Deshalb kann man auch noch nicht sicher beurteilen, welche Rolle eine Impfung in diesem Krankheitsgeschehen spielt.

Zu b) ist zu sagen, dass nach dem Gutachten von Dr. I. und auch nach dem Gutachten von Prof. Dr. Z ... ein ursächlicher Einfluss von Hepatitis-B-Impfungen auf die Entstehung einer MS als theoretisch begründet, d. h. als möglich in Erwägung zu ziehen ist. Dr. Z ... schreibt, dass verschiedene immunologische Mechanismen wie "molecular mimikry" oder "bystander activation" den Anstoß geben könnten für einen autoimmunologischen Prozess, der zu MS führt. Was man heute über diese Erkrankung weiß, bzw. vermutet, beschreibt Dr. I. sehr genau in seinem Gutachten vom 03.06.2009. Nach heutiger Auffassung entstehen die für die MS typischen Läsionen im zentralen Nervensystem durch einen Autoimmunprozess. Wahrscheinlich sind autoreaktive T-Zellen gegen neuronale Strukturen Teil des "normalen" immunologischen Repertoires. Erst wenn es im Blut zu einer Aktivierung dieser T-Zellklone kommt, entwickeln diese die Möglichkeit, die Blut-Hirn-Schranke zu durchdringen und Zellen anzugreifen. Die plausibelste Hypothese zur initialen Aktivierung der autoreaktiven T-Zellen ist die im Rahmen einer viralen oder bakteriellen Infektion zu beobachtende "molecular mimikry". Viele Erregerproteine teilen kurze Sequenzhomologien mit neuronalen Proteinen. So können diese körpereigenen und für die Nervenleitungen sehr wichtigen Bestandteile der Nervenhüllen zu Autoantigenen werden. Die aktivierten T-Zellen vermehren sich und locken durch Zytokin-Ausschüttung weitere Entzündungsmediatoren ins Gehirn. Makrophagen können durch Phagocytose oder die Freisetzung hochreaktiver Effektormoleküle die Myelinscheiden schädigen und auch die Axone in Mitleidenschaft ziehen. Klinisch treten durch die Vielzahl der Entzündungsherde und ihre gestreute Verteilung unterschiedlichste neurologische, neuropsychologische und psychiatrische Störungen auf. Beim Beginn der Erkrankung findet man häufig Sensibilitätsstörungen, Sehstörungen, wie z.B. Doppelbilder oder eine Ataxie.

Dr. I. beschreibt nun in seinem Gutachten den Wirkungsmechanismus des Impfstoffes "Gen H-B-Vax" und der darin enthaltenen antigenen Komponenten und Zusatzstoffe. Der Erreger der Hepatitis-B ist das Hepatitis-B-Virus, ein komplex aufgebautes Virus mit weltweiter Verbreitung. Bei der Hepatitis-B-Impfung werden spezifische Antigene gegen dieses Hepatitis-B-Virus verabreicht. Früher (ab 1982) wurden diese Antigene aus dem Plasma chronischer Virusträger hergestellt. Ab 1986 wird der Impfstoff auf gentechnologischem Wege hergestellt, welche frei von humanen Plasmabestandteilen sind. Zur Herstellung werden Hefezellen gezüchtet, welche Antigene gegen den Hepatitis-B-Virus bilden. Das gebildete HBsAg wird durch Aufbrechen der Zellen freigesetzt und in mehreren Schritten gereinigt. Das gereinigte HBsAg wird an Aluminiumhydroxid, einem "unspezifischen Immunverstärker" adsorbiert. Bei der Klägerin wurde der Impfstoff "Gen H-B-Vax" verwendet. Das Produkt enthielt ca. 10 Mikrogramm des gentechnisch hergestellten HBsAg und pro Impfdosis auch 0,5 Milligramm Aluminiumhydroxid und 50 Mikrogramm Thiomersal. Dieses Produkt ist heute nicht mehr auf dem deutschen Markt erhältlich, da es durch das thiomersalfreie Nachfolgeprodukt "HB Vax pro" ersetzt wurde.

Die sog. "Adjuvantien" wie Aluminiumhydroxid und Thiomersal sollen das für die gewünschte Impfreaktion nötige "entzündliche Umfeld" schaffen, durch welches erst der Aufbau einer Immunität möglich ist. Dr. I. räumt selbst ein, dass im Hinblick auf die Entstehung des entzündlichen Umfeldes eine Vielzahl von Faktoren beteiligt sind und diese Abläufe bis heute nicht im Detail aufgeklärt sind. Bei inaktivierten Impfstoffen, wie z.B. dem Hepatitis-B-Impfstoff würde bei alleiniger Verabreichung des Impfantigens ohne dieses entzündliche Umfeld keine ausreichende Immunreaktion in Gang gesetzt. Dadurch müssen solchen inaktiven Impfstoffen sog. Adjuvantien beigefügt werden, die das erforderliche entzündliche Umfeld schaffen, in dem eine Immunreaktion stattfinden kann. Die hierfür verwendeten Aluminiumverbindungen werden laut Dr. I. als "dirty little secret" der Immunologen bezeichnet, da ihre genaue Wirkungsweise bislang nicht geklärt werden konnte. Adjuvantien induzieren eine lokale Entzündungsreaktion und unterstützen damit die effektive Prozessierung und den Transport von antigenen Bestandteilen des Impfstoffes in die sekundären lymphatischen Organe. Ebenso wie für die aluminiumhaltigen Adjuvantien ist auch die Triggerwirkung von Quecksilberverbindungen, hier speziell von Thiomersal auf die Entstehung von pathologischen Immunreaktionen bekannt und experimentell bestätigt. Durch erst kürzlich veröffentlichte Arbeiten wurde die Mitwirkung von Thiomersal an Störungen der Immunfunktion aufgeklärt. Es konnte experimentell gezeigt werden, dass bereits sehr geringe Mengen von Thiomersal (-deutlich geringere als sie in den Impfstoffen verwendet wurden-), die Immunfunktion an einer Stelle beeinträchtigen, an der die Entstehungsursache von Erkrankungen wie der ADEM und der MS vermutet wird. Die durch die Wirkung des Thiomersal am stärksten geschädigten Zellen des Immunsystems sind die sog. dendritischen Zellen, die die Antigenpräsentation an die Lymphozyten durchführen. Dendritische Zellen ruhen in peripheren Geweben, wo sie als erste von "draußen" stammende Antigene aufnehmen und aufbereiten können. Diese Antigene werden von den dendritischen Zellen in sekundäre lymphatische Organe, wie z.B. Lymphknoten oder Milz transportiert und dort den eigentlichen Abwehrzellen, den T-Lymphozyten präsentiert. In Abwesenheit von Infektionen und Entzündungen befinden sich dendritische Zellen dabei in einem ruhenden Zustand und können keine T-Zellen aktivieren. Durch Bestandteile von Mikroorganismen oder durch entzündungsvermittelnde Stoffe werden dendritische Zellen aktiviert und können T-Zell-Antworten auslösen. Durch Aluminiumhydroxid und Thiomersal in ihrer Funktion beeinträchtigte dendritische Zellen sind sehr wahrscheinlich entscheidend an der Entstehung von autoimmunen Komplikationen nach Hepatitis-B-Impfungen beteiligt. Die Klägerin war bei ihrer Impfung Ende 2002 eine der letzten Patienten, die das thiomersalhaltige Produkt Gen H-B-Vax erhielten, da im Jahr 2002 das thiomersalfreie Nachfolgeprodukt "HB Vax pro" in den Handel kam und das "Gen H-B-Vax" ersetzte.

Auf der Grundlage der wissenschaftlichen Auffassung von Dr. I. wurde bereits dem Kläger im Verfahren S 15 VJ 1/06 im Wege der Kannversorgung eine Entschädigung nach dem Infektionsschutzgesetz zugesprochen, nachdem dieser im zeitlichen Zusammenhang mit einer Hepatitis-B-Impfung an MS erkrankt war. Im dort eingeholten Gutachten von Prof. Dr. Z ... (sh. oben) wird darauf hingewiesen, dass es sich bei den Theorien von Dr. I. zwar um "bloße Hypothesen" handle, der ursächliche Einfluss der Hepatitis-B-Impfung auf die Entstehung der MS aber auch nach der herrschenden medizinischen Meinung als möglich angesehen wird.

Im Urteil vom 08.04.2008 im vorgenannten Verfahren S 15 VJ 1/06 hat die Kammer bereits ihre Überzeugung bekundet, dass es für die Kannversorgung ausreicht, wenn ein ursächlicher Einfluss der in Frage stehenden Impfung in den wissenschaftlichen Arbeitshypothesen als theoretisch begründet in Erwägung gezogen wird. Es ist geradezu klassisch für die Kannversorgung, dass die Ätiologie und Pathogenese eine Erkrankung in diesen Fällen wissenschaftlich umstritten ist. Wenn es hierzu eine einheitliche Meinung gäbe, käme die Kannversorgung erst gar nicht in Betracht. Der Gesetzgeber hat ganz bewusst die Kannversorgung ab 01.01.2001 in das ab diesem Zeitpunkt gültige Infektionsschutzgesetz mit aufgenommen. Die Kannversorgung kann gerade in solchen Fällen, in denen die Ätiologie und Pathogenese eines Leidens noch nicht lückenlos erwiesen ist, eine Entschädigung ermöglichen. Es soll dann die Möglichkeit einer Entschädigung geben, wenn im Einzelfall in plausibler zeitlicher Verbindung die entsprechende Erkrankung aufgetreten ist und zumindest die Möglichkeit besteht, dass die Impfung einen entscheidenden Einfluss auf die Entstehung der Erkrankung gehabt hat.

Diese Voraussetzungen sieht die Kammer auch im vorliegenden Fall gegeben. Der konkrete Fall der Klägerin liegt nicht anders als der, den die Kammer bereits am 08.04.2008 (im oben genannten Verfahren S 15 VJ 1/06) positiv entschieden hat. Im Gegenteil sprechen für die Anerkennung dieses Falles sogar noch mehr Gründe: Die Klägerin war beim Auftreten der MS noch außergewöhnlich jung (16 Jahre). Sie war mit Ausnahme einer allergischen Atemwegserkrankung völlig gesund und war sportlich sehr aktiv. Bei der Hepatitis-B-Impfung vom 06.12.2002 handelte es sich nicht nur um eine öffentlich empfohlene Impfung, sondern im Falle der Klägerin sogar um eine vorgeschriebene Impfung, da sie ein Praktikum in einem Krankenhaus ableisten wollte. Bei dem von ihr geplanten Ausbildungsweg hatte die Klägerin also gar keine andere Wahl, als sich impfen zu lassen. Wenn dies nun, wie hier, zu schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen führt, so muss aus der Sicht der Kammer die Möglichkeit eines Kausalzusammenhangs ausreichen, um in den betreffenden Fällen im Wege der Kannversorgung eine Entschädigung zu gewähren. Dies auch dann, wenn nicht zeitgleich mit der Impfung eine körperliche Extrembelastung vorhanden war oder es zu einer gravierenden Erstreaktion gekommen ist. Die Forderung einer mit der Impfung zeitgleichen körperlichen Extremsituation würde diesen Anspruch von vorneherein faktisch ausschließen und ist zudem normativ nicht begründet. Auch spielt es, wie Dr. I. erklärt, keinerlei Rolle für die Entstehung der ADEM/MS, ob eine mehr oder weniger gravierende Erstreaktion auf die Impfung stattgefunden hat. Somit können diese Punkte, die Dr. A ... in ihrem Gutachten vom 09.03.2006 angeführt hat, nicht anspruchsausschließend wirken.

Zu Voraussetzung c) ist ergänzend auszuführen, dass ein plausibler zeitlicher Zusammenhang zwischen Impfung und erstmaligem Auftreten der Krankheitssymptome unzweifelhaft vorliegt.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Kannversorgung (a) - c)) in vollem Umfang erfüllt sind und somit die Erkrankung der Klägerin als Impfschadensfolge anzuerkennen ist. Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten vom 18.01.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.11.2007, in welchem die Anerkennung abgelehnt wurde, war daher aufzuheben. Der Beklagte war zu verurteilen, die Erkrankung im Wege der Kannversorgung (ab Antragstellung) als Impfschaden anzuerkennen und nach den gesetzlichen Vorschriften zu entschädigen. Über die Höhe des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) hatte die Kammer nicht zu entscheiden, weil diesbezüglich noch keine Verwaltungsentscheidung vorliegt und die Höhe des GdS somit nicht Streitgegenstand war.

Die Kostenentscheidung richtet sich nach den §§ 183, 193 SGG.

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Rechtsmittelbelehrung:

Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim Bayer. Landessozialgericht, Ludwigstr. 15, 80539 München, oder bei der Zweigstelle des Bayer. Landessozialgerichts, Rusterberg 2, 97421 Schweinfurt, schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist beim Sozialgericht Landshut, Seligenthaler Straße 10, B-Stadt, schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung der Berufung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben. Der Berufungsschrift und allen folgenden Schriftsätzen sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.
Rechtskraft
Aus
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