L 1 KR 242/15

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 76 KR 848/14
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 242/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der 1969 geborene Kläger ist Student und begehrt die Feststellung, in der Krankenversicherung der Studenten (KVdS) nach § 5 Abs. 1 Nr. 9 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) pflichtversichert zu sein. Der Kläger lebte und arbeitete von 1978 bis 2000 bei einem österreichischen Wanderzirkus. Nach anschließender selbständiger unternehmerischer Tätigkeit absolvierte er 2009 eine berufliche Grundqualifikation zum Bürowirt und besuchte ab 2010 das Berlin-Kolleg. Im Juni 2013 schloss er die Schulausbildung erfolgreich mit dem Abitur ab. Seit dem Wintersemester 2013/2014 studiert er Rechtswissenschaften an der E-U in F. Bis zum 31. Dezember 2013 bezog er Arbeitslosengeld II. Derzeit ist er Stipendiat der HStiftung.

Der Kläger beantragte am 12. September 2013 bei der Beklagten unter Vorbehalt die freiwillige Krankenversicherung ab dem 1. Oktober 2013. Sein Antrag sein notwendig, nachdem sein früherer Antrag vom 8. August 2013 wegen Altersdiskriminierung und Willkür, welche der Gesetzgeber zu verantworten habe, abgelehnt worden sei. Mit Bescheid vom 18. September 2013 setzte die Beklagte zu 1) (nachfolgend nur noch: "die Beklagte"), die jeweils auch für die Beklagte zu 2) agierte und agiert, die monatlichen Beiträge zur freiwilligen Versicherung bzw. zur Pflegeversicherung anhand der Mindestbemessungsgrenze auf insgesamt 154,51 EUR pro Monat fest. Eine endgültige Festsetzung könne erst erfolgen, wenn die Einkommensnachweise für das Jahr 2013 vorlägen. Der Kläger erhob hiergegen (erst) am 11. November 2013 Widerspruch: Er müsse nach § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V versichert sein. Er habe erst im Juni 2013 die Zugangsvoraussetzung zum Studium erreicht.

Mit Bescheid vom 20. Januar 2014 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie die bei ihr geführte freiwillige Krankenversicherung zunächst ab 1. Oktober 2013 storniert habe. Mit Bescheid vom 22. Januar 2014 verfügte sie, dass die freiwillige Versicherung ab 1. Januar 2014 beginne und setzte die Beiträge auf insgesamt 158,53 EUR monatlich fest.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 22. April 2014 zurück. Die hier entscheidende Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen bei einer Studienaufnahme erst nach Vollendung des 30. Lebensjahres noch Versicherungspflicht in der KVdS eintrete, habe das Bundessozialgericht (BSG) in den Urteilen vom 30. September 1992 (12 RK 40/91) und vom 23. Juni 1994 (12 R 71/93) geklärt. Nur bei einem Studienbeginn vor dem 30. Geburtstag könne in einer verallgemeinerten Betrachtungsweise davon ausgegangen werden, dass der zweite Bildungsweg und die gegebenenfalls dafür erforderliche Vorbeschäftigungszeit für die Überschreitung der Altersgrenze ursächlich seien. Bei einem Studienbeginn nach Vollendung des 30. Lebensjahres müsse durch eine individuelle Kausalitätsprüfung festgestellt werden, ob durchgehend Hinderungsgründe für den späten Studienbeginn ursächlich gewesen seien. Zeiten einer vor Beschreiten des Zweiten Bildungsweges ausgeübten Berufstätigkeit rechtfertigten in diesem Sinne ein Hinausschieben nur, wenn sie Voraussetzung für den zweiten Bildungsweg gewesen seien. Der Kläger hingegen habe seine Ausbildung auf dem zweiten Bildungsweg erst nach Vollendung des 30. Lebensjahres im Alter von 41 Jahren begonnen.

Der Kläger hat hiergegen am 19. Mai 2014 Klage beim Sozialgericht Berlin (SG) erhoben. Der Gesetzgeber habe eine Altershöchstbegrenzung im Falle des zweiten Bildungsweges nicht vorgesehen. Ob in die Klage auch die Pflegekasse einbezogen sei, solle das Gericht entscheiden.

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 22. Mai 2015 abgewiesen. Zur Begründung hat es sich auf das Urteil des BSG vom 15. Oktober 2014 (B 12 KR 17/12 R) bezogen und daraus auszugsweise zitiert (a. a. O., Rdnr. 22 f). Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Vorschrift des § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V bestünden nicht. Dem Gesetzgeber stehe der Gestaltungsspielraum zu, den Mitgliederkreis der gesetzlichen Krankenversicherung danach abzugrenzen, welcher Personenkreis zur Bildung einer leistungsfähigen Solidargemeinschaft erforderlich sei und welche Person deren Schutz benötigte. Vor diesem Hintergrund begegne es keine durchgreifende Bedenken, die Mitgliedschaft in der KVdS durch die Bestimmungen eines Höchstalters grundsätzlich auf die Lebensphase zu begrenzen, in der typischerweise das Studium betrieben werde. Soweit hierdurch in atypischen Fällen Härten entstünden, sei ihnen der Gesetzgeber durch die Ausnahmeregelung im Halbsatz 2 des § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V in ausreichendem Maße begegnet worden (Bezugnahme auf LSG Hamburg, Urteil vom 2. Mai 2013 – L 1 KR 134/12).

Gegen diesen ihm am 29. Mai 2015 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 29. Juni 2015 eingelegte Berufung des Klägers. Zu deren Begründung hat er ergänzend ausgeführt, die vom SG herangezogene Rechtsprechung des BSG widerspreche dem Willen des Gesetzgebers und verstoße gegen das Willkürverbot. Der Gesetzgeber habe extra für den zweiten Bildungsweg die Regelungen des § 5 Abs. 1 Nr. 9 Hs. 2 SGB V geschaffen, ebenso wie § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG). Dies sei auch bereits bei Inkrafttreten des SGB V am 1. Januar 1989 der Fall gewesen. Die Formulierung des Halbsatzes 2 in § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V des "insbesondere" zeige ganz deutlich auf, dass auf familiäre oder persönliche Gründe abgestellt werde. Der Gesetzgeber wolle Dauerstudenten verhindern, jedoch keine Differenzierung bei Absolventen des zweiten Bildungsweges treffen. Die Anwendung durch das BSG bedeute eine Altersdiskriminierung im Hinblick auf Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) sowie in Bezug auf Gemeinschaftsrecht.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 22. Mai 2015 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 29. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. April 2014 zu verurteilen, den Kläger ab 1. Januar 2014 in der Krankenversicherung der Studenten gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V einzustufen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Die Lösung, welche dem Kläger vorschwebe – einer altersgrenzenlosen Krankenversicherung der Studenten im Falle einer atypisch gestalteten Bildungsbiografie – bedeute eine ungerechtfertigte Schlechterstellung der "normal" oder herkömmlich Studierenden.

Entscheidungsgründe:

Es konnte im schriftlichen Verfahren und durch den Berichterstatter allein entschieden werden alleine nach §§ 155 Abs. 3, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Beteiligten haben sich mit einer solchen Vorgehensweise im Erörterungstermin am 23. Januar 2017 einverstanden erklärt.

Die Klage und Berufung richten sich auch gegen die Beklagte zu 2). Im Streit ist die Höhe der vom Kläger zu entrichtenden Beiträge zur Krankenkasse und zur Pflegekasse. Der Grund der Versicherung ist hierfür inzident von Relevanz. Das Klagebegehren war entsprechend auszulegen.

Der Berufung muss Erfolg versagt bleiben. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Das Begehren des Klägers ist der Sache nach darauf gerichtet, Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung nur in der Höhe zu leisten, wie sie nach der KVdS anfallen. Streitgegenstand ist insoweit (nur) der Bescheid vom 29. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. April 2014. Der zeitlich vorgeschaltete Bescheid vom 15. September 2013 stand unter Vorläufigkeit-Vorbehalt und hat sich mit Erlass des endgültigen Bescheides erledigt. Letzterer ist Gegenstand des bereits laufenden Widerspruchsverfahrens nach § 86 SGG geworden: Soweit es die hier alleine interessierende Rechtsfrage betrifft, hat der Bescheid vom 22. Januar 2014 den vorläufigen Bescheid abgeändert.

In der Sache hat die Klage jedoch keinen Erfolg. Auch der Senat folgt der vom SG herangezogenen Rechtsprechung des BSG. Er teilt auch dessen Auffassung, dass § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V bzw. die Anwendung dessen Halbsatz 2 durch das BSG nicht gegen höherrangiges Recht verstoßen. Auf die entsprechenden Ausführungen im angegriffenen Gerichtsbescheid wird zur Vermeidung bloßer Wiederholungen gemäß § 153 Abs. 2 SGG verwiesen.

Mit der Regelung des § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V wurde die zuvor unabhängig vom Alter bestehende Versicherungspflicht eingeschriebener Studenten der staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschulen nach § 165 Abs. 1 Nr. 5 Reichsversicherungsordnung hinsichtlich der Studiendauer und des Alters begrenzt. Die beitragsgünstige Versicherung als Student sollte damit ab dem Jahr1989 nicht mehr allen Studenten offenstehen. Stattdessen wurde diese Versicherungspflicht nur noch für einen Zeitraum beibehalten, in dem ein Studium regelmäßig durchgeführt werden kann und typischerweise entweder erfolgreich abgeschlossen oder endgültig aufgegeben wird, nämlich innerhalb von 14 Fachsemestern, längstens bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres (BSG, Urteil vom 15. Oktober 2014 – B 12 KR 17/12 R –, BSGE 117, 117-128 Rdnr. 20 mit Bezugnahme auf BSGE 71, 150 f). Zwar hat der Gesetzgeber Ausnahmen von dieser Beschränkung vorgesehen, jedoch soll diese Ausnahmeregelung nach der ausdrücklichen Formulierung in der Gesetzesbegründung "eng" ausgelegt werden (BSG, a. a. O.). Vom Gesetz akzeptierte Härtegründe, welche einen Studenten daran gehindert haben, das Studium bis zum 30. Geburtstag zu beenden, können -wie beim Kläger, der erst mit über 40 Jahren die allgemeine Hochschulreife erworben hat- nicht ursächlich dafür sein, das Studium nicht innerhalb weiterer sieben Jahre -14 Fachsemester- abgeschlossen zu haben (BSG, a. a. O. Rdnr. 23). Für diesen Personenkreis ist die beitragsgünstige KVdS zu Lasten der normalen Beitragszahler nicht gedacht.

Eine Verletzung des in Umsetzung der einschlägigen EU-Richtlinien erlassenen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) scheidet von vornherein aus. Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 AGG gilt für Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch § 33 c des Sozialgesetzbuches Erstes Buch (SGB I). § 33 c SGB I zählt bei den Gründen für ein Benachteiligungsverbot das Alter gerade nicht auf.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis in der Sache. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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