L 4 AS 135/15

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 57 AS 4186/13
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 AS 135/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung wird zurückgewiesen. 2. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Form der Übernahme einer Mietkaution durch den Beklagten.

Bei der 1969 geborenen Klägerin war zunächst ein Grad der Behinderung von 70 und das Merkzeichen G anerkannt, u.a. wegen eines langjährigen Abhängigkeitsleidens. Die Klägerin war längere Zeit obdachlos. Sie wohnte wiederholt in öffentlich-rechtlicher Unterbringung bzw. in sozialen Projekten (so von November 2011 bis Juli 2012 in der Übernachtungsstätte F. von fördern und wohnen, im Juli/August 2012 im C. für Frauen und von August 2012 bis August 2013 bei "N." gemeinnützige Wohnungslosenhilfe). Bis zum 1. Juli 2011 war bei ihr die Pflegestufe I anerkannt und sie war zwischenzeitlich in einer Pflegeeinrichtung untergebracht. Für sie war mehrfach, zuletzt bis zum 25. Juli 2014, eine Betreuung eingerichtet, die auf ihren Wunsch beendet wurde. Ihrem Vortrag nach erhält sie Leistungen der Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff. des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XII) und gehört zum Personenkreis des § 67 SGB XII. Erwerbsminderungsrente beantragte die Klägerin nicht, weil sie nach ihrer Einschätzung die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllte. Bis zum 29. Februar 2016 erhielt sie laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetz (SGB II) vom Beklagten, seit dem 1. März 2016 erhält sie Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII.

Zum 1. September 2013 konnte die Klägerin in eine Wohnung der B. und I. Stiftung in der S. in H. ziehen, die sie bis heute bewohnt. Für diese Wohnung war eine Kaution in Höhe von 1.200 Euro zu leisten. Der Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 17. September 2013 hierfür ein Darlehen in entsprechender Höhe. Der Bescheid enthielt keine Ermessenserwägungen. In den ihm beigefügten Darlehensbedingungen wurde u.a. die Fälligkeit des Rückzahlungsanspruchs geregelt. Ferner war dort eine Aufrechnung des Darlehensrückzahlungsanspruchs nach § 42a SGB II gegen den Anspruch auf Regelbedarf in Höhe von monatlich 10% dieses Bedarfs vorgesehen. Ebenfalls am 17. September 2013 schlossen der Beklagte und die Klägerin einen Abtretungsvertrag, mit dem die Klägerin zur Sicherung des Darlehensrückzahlungsanspruchs ihren Anspruch auf Rückzahlung der Mietkaution gegen ihre Vermieterin an den Beklagten abtrat. Mit einem weiteren Bescheid vom 17. September 2013 erklärte der Beklagte, er werde seinen Anspruch auf Rückzahlung des Mietkautionsdarlehens beginnend mit dem 1. Oktober 2013 monatlich im Umfang von 38,20 Euro gegen den laufenden Leistungsanspruch der Klägerin aufrechnen.

Die Klägerin legte sowohl gegen den Darlehens- als auch gegen den Aufrechnungsbescheid vom 17. September 2013 Widerspruch ein. Zur Begründung verwies ihr Prozessbevollmächtigter auf ein Parallelverfahren. Die individuelle Lebenssituation der Klägerin wurde im Widerspruchsverfahren noch nicht dargelegt.

Der Beklagte wies die Widersprüche mit Widerspruchsbescheid vom 25. November 2013 zurück. Der Darlehensbescheid und der Aufrechnungsbescheid seien rechtmäßig. Rechtsgrundlage für die Aufrechnung sei § 42a Abs. 2 SGB II. Bereits in den dem Darlehensbescheid beigefügten Darlehensbedingungen werde die Aufrechnung verfügt, der Aufrechnungsbescheid setze dies um. Der Umfang der Aufrechnung sei gesetzlich geregelt, sodass im vorliegenden Fall für Ermessen kein Raum bestehe. Es bestünden keine Bedenken dagegen, dass das Kautionsdarlehen damit letztlich aus der Regelleistung getilgt werde. Während hierfür in der Vergangenheit eine ausdrückliche Rechtsgrundlage gefehlt habe, sei diese zum 1. April 2011 mit der Regelung in § 42a SGB II geschaffen worden. Der Beklagte bezog sich weiter auf eine Entscheidung des Sozialgerichts Berlin vom 20. März 2013 (S 142 AS 21275/12), wonach die Regelung in § 42a Abs. 2 SGB II verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Der Widerspruchsbescheid ging der Klägerin am 28. November 2013 zu.

Am 27. Dezember 2013 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Hamburg erhoben. Sie hat ausgeführt, auch unter der neuen Rechtslage sei die Kautionsgewährung als Darlehen nur der Regelfall. Unverändert sei bei der Entscheidung, in welcher Form Leistungen für eine Kaution gewährt würden, Ermessen auszuüben. Dabei sei in verfassungskonformer Weise zu berücksichtigten, dass bei einer darlehensweisen Gewährung die laufende Tilgung über einen vergleichsweise langen Zeitraum sich nun zwingend aus dem Gesetz ergebe. Der Beklagte habe dieses Ermessen überhaupt nicht ausgeübt. Bei der Klägerin liege ein atypischer Fall vor. Durch die monatliche Aufrechnung verbleibe ihr für einen Zeitraum von über zweieinhalb Jahren weniger als das zum Leben Unerlässliche. Ihr Existenzminimum werde daher nicht mehr gewahrt. Dies gelte umso mehr, als sie im Zusammenhang mit dem Einzug in die Wohnung S. einmalige Ausgaben gehabt habe, die nicht vollständig vom Beklagten als Mehrbedarf anerkannt worden seien und die sie nur unter großen Schwierigkeiten habe aufbringen können. Sie habe wegen der langen Obdachlosigkeit und ihrer insgesamt schwierigen und besonderen Lebensverhältnisse keine Möglichkeit gehabt, von der zuvor erhaltenen Regelleistung etwas für eine Mietkaution oder andere einmalige Ausgaben anzusparen. Zum Beispiel habe sie Lebensmittel nur in kleinen Mengen kaufen können und dafür verhältnismäßig viel Geld aufwenden müssen, weil sie ohne festen Wohnsitz keine Möglichkeit zum sinnvollen Lagern von Lebensmitteln gehabt habe. Zudem sei ihre physische und psychische Gesundheit stark eingeschränkt. Der Grad der Behinderung sei zwischenzeitlich auf 100 angehoben worden. Es würden zudem besondere soziale Schwierigkeiten bestehen, weswegen sie vom Sozialhilfeträger unterstützt werde. Insgesamt erscheine es unwahrscheinlich, dass sie sich auf absehbare Zeit aus dem Leistungsbezug lösen oder auch nur ein geringfügiges Einkommen erzielen könne. Sie habe daher während des langen Aufrechnungszeitraums keine Möglichkeit, eigenverantwortlich zu wirtschaften und einen Teil ihrer Regelleistung für andere Anschaffungen anzusparen, wie es ihr vom SGB II auferlegt werde. Sie lebe fortlaufend in einem Zustand der Bedarfsunterdeckung. Den Beklagten hingegen würde auch ohne sofortige Aufrechnung kein besonderes Ausfallrisiko treffen. Das verbleibende Risiko, dass die Kaution am Ende der Mietzeit vom Vermieter ganz oder zumindest teilweise vereinnahmt werde, sei gegenüber der Existenzsicherung der Klägerin nachrangig. Im Falle eines etwaigen unwirtschaftlichen Verhaltens der Klägerin würden zudem die Haftungsregelungen des SGB II greifen. Eine weitere Möglichkeit sei die Gewährung einer Bürgschaft oder die Abgabe einer Verpflichtungserklärung gegenüber dem Vermieter gewesen, was sich gerade bei Vermietern aus dem Bereich des sozialen Wohnungsbaus anbiete. Diese Alternativen habe der Beklagte nicht einmal erwogen. Angesichts der übermäßig schwierigen Gesamtsituation der Klägerin sei das Ermessen des Beklagten sogar "auf Null" reduziert. Daher sei im Fall der Klägerin der Kautionsbedarf durch Zuschuss oder auf sonstige Weise (Gewährung einer Bürgschaft, Verpflichtungserklärung gegenüber der Vermieterin) zu decken, nicht aber durch ein Darlehen mit Tilgung durch Aufrechnung.

Mit Urteil vom 18. Februar 2015 hat das Sozialgericht die angefochtenen Bescheide aufgehoben und den Beklagten entsprechend dem Hilfsantrag der Klägerin verurteilt, über die Form der Kautionsgewährung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Im Übrigen, d.h. bezogen auf den Hauptantrag der Klägerin, den Beklagten zur Gewährung der Kaution als Zuschuss zu verurteilen, hat es die Klage abgewiesen.

Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, der Darlehensbescheid sei insoweit rechtswidrig, wie er die Kaution als Darlehen gewähre. Der Beklagte habe über die Form der Leistungsgewährung im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens zu entscheiden. § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II sehe vor, dass eine Mietkaution im Regelfall als Darlehen zu erbringen sei ("soll"). Nach Überzeugung des Gerichts liege hier ein atypischer Fall vor, der dem Beklagten ein Ermessen eröffne. Die Besonderheit des Falls ergebe sich daraus, dass die Klägerin vor ihrem Einzug in die jetzige Wohnung lange obdachlos und anschließend kurzzeitig öffentlich untergebracht gewesen sei. Sie habe daher keine Kaution aus einer unmittelbar zuvor bewohnten Wohnung zurück erhalten, die sie für die neu fällige Kaution hätte einsetzen können. Die Klägerin habe weder über das Arbeitslosengeld II (Alg II) hinaus weiteres Einkommen gehabt, noch über Rücklagen oder Möbel und Hausrat verfügt. Sie habe daher aus Anlass des Wohnungsbezugs Aufwendungen gehabt, die über das übliche Maß hinausgegangen seien. Dies allein begründe möglicherweise noch keinen atypischen Fall. Hinzu komme aber, dass sich die Klägerin bei Anmieten der Wohnung in körperlicher, seelischer wie sozialer Hinsicht in einer Situation besondere Labilität befunden habe, die bis heute anhalte. Insgesamt habe die Klägerin sich in einer überdurchschnittlich schwierigen Lebenssituation befunden, was auch in der mündlichen Verhandlung deutlich erkennbar gewesen sei. Habe dem Beklagten infolgedessen ein Ermessen zugestanden, so habe er dieses zu Unrecht nicht ausgeübt. Weder der Darlehensbescheid noch der Widerspruchsbescheid enthielten Ermessenserwägungen hinsichtlich der Form der Leistungsgewährung. Der Aufrechnungsbescheid sei bereits deswegen rechtswidrig, weil der darin zur Aufrechnung gestellte Rückzahlungsanspruch aus dem rechtswidrigen Darlehensbescheid resultiere. Das vom Beklagten auszuübende Ermessen sei nicht in dem Sinne "auf Null" reduziert gewesen, dass allein eine Gewährung der Kaution als Zuschuss rechtmäßig gewesen wäre. Die Klägerin habe selber verschieden Alternativen aufgezählt. In Betracht komme aus Sicht des Gerichts insbesondere, die Leistungen für die Kaution nur gegen die Abtretung des Rückzahlungsanspruchs gegen die Vermieterin zu gewähren. Ein entsprechender Abtretungsvertrag sei bereits geschlossen worden. Der Beklagte sei daher lediglich verurteilt worden, erneut über die Form der Leistungsgewährung zu entscheiden. Bei der anstehenden Neubescheidung werde der Beklagte im Rahmen seines Ermessens insbesondere zu berücksichtigten haben, dass bei einer darlehensweisen Kautionsgewährung der Rückforderungsanspruch kraft Gesetz im Umfang des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II gegen den laufenden Leistungsanspruch der Klägerin aufgerechnet würde. Er werde zu prüfen haben, ob und in welchem Umfang dies angesichts ihrer besonderen Lebenssituation eine Überforderung der Klägerin im Einzelfall bedeuten würde.

Das Urteil ist dem Beklagten am 12. März 2015 zugestellt worden, am 16. März 2015 hat er Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt er vor, das Sozialgericht sei zu Unrecht vom Vorliegen eines atypischen Falles ausgegangen. Die Einkommens- und Vermögenslosigkeit sei bereits Tatbestandsvoraussetzung für die Gewährung von Leistungen für eine Mietkaution. Es sei außerdem nicht auszuschließen, dass die Klägerin trotz ihrer geschilderten Lebenssituation dem Grunde nach erwerbsfähig sei und in Zukunft möglicherweise wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehe. Der von der Regelleistung aufgrund der Darlehenstilgung einzubehaltende Betrag in Höhe von gegenwärtig rund 40,- Euro monatlich sei mit einer Erwerbstätigkeit im Umfang von 2 Wochenstunden selbst im Niedriglohnsektor zu erwirtschaften. Auch der Umstand, dass sie aus einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung in ihre Wohnung gezogen sei, unterscheide die Klägerin nicht von anderen Alg II-Empfängern, da diese Situation mit dem erstmaligen Bezug einer Wohnung vergleichbar sei. Dies sei aber nicht ungewöhnlich, sondern komme vielfach vor. Für solche Fälle seien Wohnungseinrichtungspauschalen vorgesehen, sodass Wohnungserstbezieher nicht auf vorhandenes Vermögen angewiesen seien. Dies rechtfertige es, die Mietkaution als Darlehen zu gewähren und mit dem Regelbedarf aufzurechnen. Nach einer rechtmäßigen Entscheidung für eine darlehensweise Gewährung sei die Aufrechnung eine vom Gesetzgeber angeordnete Folge. Es sei zu beachten, dass Alg II-Empfänger nicht besser gestellt werden dürften als am Arbeitsmarkt integrierte Personen, die sich selbst auf dem Wohnungsmarkt versorgen müssen. Die Kaution halte den Mieter in wohlverstandenem Eigeninteresse zur Einhaltung seiner mietvertraglichen Pflichten an. Würde die Kaution nicht als Darlehen, sondern als Zuschuss gewährt, so würde die Sicherungsfunktion entfallen, da das Rückzahlungsrisiko allein der Beklagte und damit die Allgemeinheit zu tragen hätte. Außerdem würde die Gewährung eines Zuschusses zu einer nicht zulässigen Vermögensbildung durch Alg II-Leistungen führen.

Mit Bescheid vom 14. August 2015 hat der Beklagte den Darlehensbescheid vom 17. September 2013 "ergänzt". Er hat ausgeführt, er komme im Rahmen der Ermessenserwägung zu dem Ergebnis, dass das der Klägerin gewährte Darlehen nicht in einen Zuschuss umzuwandeln sei. Ein Zuschuss wäre dann zu gewähren, wenn bei der Klägerin ein atypischer Fall vorliege. Das sei aber nicht gegeben: Es sei nicht unwahrscheinlich, dass die Klägerin in der Lage gewesen sei, den Aufrechnungsbetrag in Höhe von monatlich 40,- Euro durch eine Erwerbstätigkeit zu erwirtschaften; dass die Klägerin aus einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung heraus Wohnraum bezogen habe, unterschiede sie nicht von anderen Alg II-Empfängern.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 18. Februar 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie führt aus, der Beklagte habe weiterhin den Sachverhalt nicht zutreffend beurteilt und verneine daher zu Unrecht das Vorliegen eines atypischen Falls. Ihre soziale und gesundheitliche Situation sei derjenigen anderer Leistungsempfänger nicht vergleichbar. Sie sei dem Personenkreis der Leistungsempfänger nach § 67 SGB XII zuzurechnen. Zudem sei ihr im Sommer 2015 ein Bein amputiert worden. Die bedingungslose Anwendung des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II begegne außerdem verfassungsrechtlichen Bedenken. Auch das BSG habe in seinem Beschluss vom 29. Juni 2015 (B 4 AS 11/14 R) Zweifel daran geäußert, dass Mietkautionsdarlehen bedingungslos der Regelung des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II unterfielen.

Der Beklagte hat die beabsichtigte Aufrechnung wegen der Rechtsbehelfe der Klägerin nicht umgesetzt.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird auf den Inhalt der Prozessakte sowie der beigezogene Akten des Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

I. Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens waren der Darlehensbescheid und der Aufrechnungsbescheid vom 17. September 2013, beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. November 2013 und des ergänzenden Bescheids vom 14. August 2015.

Der Aufrechnungsbescheid hat sich allerdings mit dem Ausscheiden der Klägerin aus dem Bezug von Leistungen nach dem SGB II erledigt, § 39 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), da von ihm keine Regelungswirkung mehr ausgeht. Nach § 42a Abs. 2 SGB II erfolgt die Tilgung durch Darlehen, "solange Darlehensnehmer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beziehen". Scheidet der Darlehensnehmer aus dem Bezug von Leistungen nach dem SGB II aus, kommt eine Aufrechnung nicht mehr in Betracht (vgl. dazu Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB II, § 42a SGB II Rn. 170 f.). Der Aufrechnungsbescheid vom 17. September 2013 verweist auf diese Regelung, indem er bestimmt, dass der Rückzahlungsanspruch gem. § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II durch Aufrechnung getilgt werde, "solange Darlehensnehmer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beziehen". Da eine Aufrechnung tatsächlich nie stattgefunden hat, kommt dem Aufrechnungsbescheid auch keine Wirkung als Rechtsgrund für den Einbehalt von Leistungen zu.

Der Darlehensbescheid hat sich durch das Ausscheiden der Klägerin aus dem Bezug von Leistungen nach dem SGB II hingegen nicht im Sinne des § 39 Abs. 2 SGB X erledigt. Zwar treten auch diesbezüglich mit dem Ende des Leistungsbezugs Änderungen ein: Gemäß § 42a Abs. 4 SGB II wird nach Beendigung des Leistungsbezugs der noch nicht getilgte Darlehensbetrag sofort fällig und soll über die Rückzahlung des ausstehenden Betrags eine Vereinbarung getroffen werden. Damit verliert der Darlehensbescheid allerdings nicht seine Regelungswirkung, denn er ist weiter Grundlage des Rückzahlungsanspruchs des Beklagten gegen die Klägerin.

II. Die Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz – SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben. Die Berufung hat jedoch in der Sache keinen Erfolg, zu Recht hat das Sozialgericht dem auf eine Neubescheidung gerichteten Hilfsantrag der Klägerin entsprochen.

Der Darlehensbescheid vom 17. September ist rechtswidrig, weil der Beklagte bei der Entscheidung über die Form der Kautionsgewährung kein Ermessen ausgeübt hat, obwohl er dazu verpflichtet gewesen wäre. Gemäß § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II in der hier anwendbaren Fassung vom 13. Mai 2011 soll eine Mietkaution als Darlehen erbracht werden. Damit ist die Mietkaution im Regelfall als Darlehen zu gewähren, in atypischen Fällen hat der Leistungsträger hingegen ein Ermessen hinsichtlich der Form der Gewährung der Kaution. Zu Recht ist das Sozialgericht davon ausgegangen, dass hier ein atypischer Fall vorgelegen hat, der dem Beklagten ein Ermessen eröffnete.

Ein atypischer Fall ist dann anzunehmen, wenn sich die Situation des Betroffenen deutlich von derjenigen anderer Leistungsberechtigter unterscheidet und es deshalb nicht gerechtfertigt erscheint, ihn mit den typischen Folgen eines Darlehens zu belasten. Dabei ist es zur Überzeugung des Senats nicht ausreichend, allein auf die Frage der Zumutbarkeit einer Belastung mit (weiteren) Schulden abzustellen. Hiervon scheint aber die für den Beklagten maßgebliche Fachanweisung der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) zu § 22 Abs. 6 und 8 SGB II – Gewährung und Rückforderung kommunaler Darlehen vom 14. September 2011 (Gz.: SI 233/111.10-3-8-1) auszugehen. In dieser werden unter Ziffer 2.1.3.1 als atypische Ausnahmefälle nur solche anerkannt, bei denen eine Gewährung als Darlehen den Abbau von Integrationshemmnissen gefährden würde. Wörtlich heißt es dort: "Die Bewilligung der unter Ziff. 2.1.2.1 aufgeführten Leistungen als Beihilfe ist nur in folgenden atypischen Ausnahmefällen, bei denen eine Gewährung als Darlehen den Abbau von Integrationshemmnissen gefährden würde, denkbar: • bei Gefährdung der Ergebnisse einer lfd. Schuldnerberatung • bei Einleitung oder Eröffnung eines Privatinsolvenzverfahrens • bei eidesstattlicher Versicherung über Vermögenslosigkeit • bei langfristigen Rückzahlungsverpflichtungen aufgrund früherer Hilfedarlehen."

Diese Sichtweise greift in zweierlei Hinsicht zu kurz: Zum einen kann im Einzelfall nicht bzw. nicht nur die Belastung mit weiteren Schulden, sondern auch die Tilgung des Darlehens durch Aufrechnung mit dem Leistungsanspruch unzumutbar sein. Die Aufrechnung führt im Ergebnis dazu, dass der Leistungsberechtigte jeden Monat einer Kürzung seiner Leistungen um 10% des Regelbedarfs ausgesetzt ist und dies – je nach Höhe der Mietkaution – u.U. für einen Zeitraum von mehreren Jahren. Diese Kürzung der laufenden Leistung mag zwar im Regelfall hinzunehmen sein, doch ist zu prüfen, ob sie aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls unzumutbar ist. Durch eine Einbeziehung dieser Überlegungen in die Prüfung des atypischen Falls kann zugleich den Bedenken hinsichtlich der Verfassungskonformität des § 42a SGB II in Hinblick auf Mietkautionen (vgl. hierzu Conradis, in: LPK-SGB II, § 42a Rn. 17; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18.11.2013 – L 10 AS 1793/13 B PKH; Thüringer LSG, Beschluss vom 2.1.2014 – L 9 AS 1089/13 B; SG Berlin, Beschluss vom 30.9.2011 – S 37 AS 24431/11 ER; auch das BSG hat in seinem Beschluss vom 29.6.2015 – B 4 AS 11/14 R Zweifel daran geäußert, ob Mietkautionsdarlehen bedingungslos der Regelung des § 42a SGB II unterfallen; keine verfassungsrechtlichen Bedenken sehen hingegen das LSG Berlin-Brandenburg in seinem Urteil vom 12.3.2015 – L 20 AS 261/13 und das LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.9.2013 – L 3 AS 5184/12) Rechnung getragen werden.

Zum anderen ist die Beschränkung der Annahme eines atypischen Falls auf Konstellationen, in denen sich die Unzumutbarkeit allein aus der Belastung mit (weiteren) Schulden ergibt, offensichtlich vor dem Hintergrund erfolgt, dass als mögliche Alternative zum Darlehen mit Tilgung durch Aufrechnung allein ein Zuschuss ("Beihilfe") in Betracht gezogen wurde. Diese Beschränkung der möglichen Alternativen ist jedoch nicht zwingend. Wie bereits das LSG Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 23. April 2015 (L 7 AS 1451/14) ausgeführt hat, steht eine Beschränkung der Wahlmöglichkeiten auf die Alternativen "Darlehen mit Tilgung durch Aufrechnung" und "Zuschuss" nicht in Einklang mit dem Grundsatz, dass eine Vermögensbildung durch SGB II-Leistungen nicht stattfinden soll (dazu BSG, Urteil vom 7.7.2011 – B 14 AS 79/10 R m.w.N.). Die Gewährung der Mietkaution als Zuschuss ist in den Fällen, in denen die Unzumutbarkeit nicht auf der Belastung mit (weiteren) Schulden als solche, sondern auf der Kürzung der laufenden Leistung durch die Aufrechnung zum Zwecke der Tilgung beruht, auch nicht erforderlich und würde über das Ziel der Vermeidung unzumutbarer Belastungen hinausgehen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sachgerecht, weitere Alternativen der Kautionsgewährung zuzulassen. In Betracht kommt insbesondere die Gewährung eines Darlehens ohne Tilgung durch Aufrechnung (so auch das LSG Nordrhein-Westfallen, a.a.O.), wobei die nähere Ausgestaltung (z.B. Fälligkeit erst bei Auszug aus der Wohnung, Sicherung durch Abtretung des Anspruch aus Kautionsrückzahlung gegen den Vermieter) dem Ermessen des Leistungsträgers überlassen bleibt.

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist vorliegend von einem atypischen Fall auszugehen. Aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls erscheint eine Kürzung des monatlichen Leistungsanspruchs der Klägerin um 10% des Regelbedarfs nicht zumutbar. Die Annahme eines atypischen Falls lässt sich allerdings nicht oder jedenfalls nicht allein damit begründen, dass die Klägerin keine Kaution aus einer unmittelbar zuvor bewohnten Wohnung zurückerhalten hat. Ein Anspruch auf Gewährung von Leistungen für die Mietkaution kann überhaupt nur dann bestehen, wenn diese nicht aus eigenen Mitteln erbracht werden kann. Das Nichtvorhandensein eigener Mittel ist also Voraussetzung und damit der typische Fall. Entscheidend dürften aber die Gesamtumstände sein. Diese unterschieden sich, wie das Sozialgericht zutreffend dargelegt hat, bei der Klägerin deutlich von denjenigen anderer Leistungsempfänger. Die Lebenssituation der Klägerin war in körperlicher, seelischer und sozialer Hinsicht von besonderen Schwierigkeiten geprägt. Diese bestanden insbesondere in der Abhängigkeitserkrankung, der körperlichen Minderbelastbarkeit mit Mobilitätseinschränkungen sowie der über lange Zeit prekären Wohnungssituation (Obdachlosigkeit bzw. öffentlich-rechtliche Unterbringung oder Unterkunft in sozialen Projekten). Es bestand erheblicher Unterstützungsbedarf, der zwischenzeitlich bis zur Einrichtung einer Betreuung ging. Insofern unterschied sich die Klägerin auch relevant von anderen Leistungsempfängern, die erstmals eine eigene Wohnung anmieten, wie z.B. junge Menschen, die aus dem Elternhaus ausziehen. Die besonders prekäre Lebenssituation der Klägerin führt dazu, dass sie von einer monatlichen Leistungskürzung um 10% des Regelbedarfs deutlich stärker getroffen wäre als andere Leistungsbezieher. Dabei war auch die lange Dauer der bevorstehenden Leistungskürzung zu berücksichtigen: bei einer monatlichen Aufrechnung in Höhe von 10% des Regelbedarfs wäre ein Darlehen in Höhe von 1.200,- Euro erst in ca. 30 Monaten getilgt.

Der Beklagte hat das ihm danach zustehende Ermessen nicht ausgeübt. Der Darlehensbescheid vom 17. September 2013 enthält keinerlei Ermessenserwägungen, auch im Widerspruchsbescheid finden sich keine Ausführungen zu einem Ermessen bezüglich der Form der Kautionsgewährung. Soweit der Beklagte nunmehr vorträgt, die Ermessensausübung sei durch den ergänzenden Bescheid vom 14. August 2015 nachgeholt werden, kann dem nicht gefolgt werden. In diesem Bescheid wird zwar ausgeführt, dass der Beklagte im Rahmen von Ermessenserwägungen zu dem Ergebnis komme, dass eine Umwandlung in einen Zuschuss nicht erfolgen könne. Dies wird allerdings damit begründet, dass bei der Klägerin kein atypischer Fall vorliege – tatsächlich hat der Beklagte also gerade kein Ermessen ausgeübt, sondern die Voraussetzungen für die Eröffnung von Ermessen verneint. Die sachgerechte Ermessensausübung erfordert jedoch, dass der Beklagte das Vorliegen eines atypischen Falls annimmt und unter Zugrundelegung dieser Annahme über die Form der Kautionsgewährung unter Abwägung aller einzustellenden Gesichtspunkte neu entscheidet.

Da sich der Aufrechnungsbescheid vom 17. September 2013 infolge des Ausscheidens der Klägerin aus dem Bezug von Leistungen nach dem SGB II erledigt hat, war über seine Rechtmäßigkeit nicht mehr zu befinden. Insoweit sei allerdings darauf hingewiesen, dass der Senat keine Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Einschätzung hat, dass aus der Rechtswidrigkeit des Darlehensbescheids auch die Rechtswidrigkeit des Aufrechnungsbescheids folgt.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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