S 25 KR 134/15

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
25
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 25 KR 134/15
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Verhindert eine Lücke im Sachleistungssystem, dass sich der Versicherte eine von der Krankenkasse geschuldete Leistung im Wege der Sachleistung verschaffen kann, so liegt ein Systemversagen vor, der einen Anspruch auf Kostenerstattung bzw. Freistellung nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB 5 begründet (vgl. BSG, Urteil vom 02.09.2014, Az. B 1 KR 11/13 R, juris, Rdnr. 26ff).

2. Die Injektion des Arzneimittels Botulinumtoxin in die Harnblase ist nicht im EBM enthalten. Versicherte haben bei entsprechender Indikation einen Anspruch gegen die Krankenkasse auf Freistellung bzw. Erstattung der durch eine privatärztliche Behandlung entstehenden Kosten.
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 22.12.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.02.2015 verurteilt, die Klägerin von den Kosten für die Botulinum-Injektion im Rahmen der Abrechnung nach GOÄ freizustellen. II. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten. III. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die Klägerin von den Kosten einer privatärztlichen Behandlung freistellen muss.

Die 1941 geborene und bei der Beklagten krankenversicherte Klägerin leidet unter einer idiopathisch überaktiven Blase.

Am 17.11.2014 beantragte die Klägerin die Kostenübernahme für die zulassungsmäßig durchgeführte Therapie mit dem Arzneimittel Botox® (Wirkstoff: Botulinumtoxin A) auf der Grundlage der Gebührenordnung der Ärzte (GOÄ). Beigefügt war ein Kostenvoranschlag des behandelnden Urologen Dr. med. H ... vom 14.11.2014 für eine "ambulante Operation nach GOÄ-Botulinumtoxin-Injektion in den Harnblasenmuskel". Dabei berechnete er für die GOÄ-Ziffern 488 (Lokalanästhesie der Harnröhre/Harnblase), 1709 (Kalibrierung der weiblichen Harnröhre), 1710 (Dehnung der weiblichen Harnröhre), 1731 (Spülung der Harnblase der Frau), 1802 (transurethrale Eingriffe in der Harnblase), 401 (Spüllösung bei transurethralen Eingriffen), 443 (Zuschlag bei ambulanter Durchführung von operativen Leistungen von 500 bis 799 Punkten) und 448 (Beobachtung/Betreuung eines Patienten in Aufwach- bzw. Erholungszeit über zwei Stunden) sowie für Sachkosten (Nadel zur intravesikalen Injektion) Gesamtkosten in Höhe von 302,35 EUR. Der Antrag der Klägerin auf Kostenübernahme der streitgegenständlichen Behandlung wurde unter Vorlage einer entsprechenden Vollmacht der Klägerin durch die A ... GmbH übersandt.

Mit einem an die A ... GmbH adressierten Schreiben vom 26.11.2014 erklärte die Beklagte unter dem Betreff "A., , geboren 1941, Antrag Kostenübernahme Botulinumtoxin-Injektion", dass sie dem Kostenvoranschlag nicht entsprechen könne, da die Injektion bereits über die Grundpauschale für die geplante Behandlung abgegolten sei.

Unter dem 01.12.2014 legte die Klägerin durch den von ihr bevollmächtigten B ... Widerspruch gegen den Bescheid vom 26.11.2014 ein.

Die Beklagte vertrat in einem Schreiben vom 17.12.2014 den Standpunkt, dass kein Bescheid an die Klägerin erstellt worden und demnach ein Widerspruch nicht möglich sei. Mit Schreiben vom 20.12.2014 vertrat die Klägerin die Ansicht, dass der von ihr gestellte Antrag gemäß § 13 Abs. 3a SGB V damit als genehmigt gelte.

Mit Bescheid vom 22.12.2014 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass die Behandlung mit Botox® zur Therapie von Blasenfunktionsstörungen bei Vorlage der medizinischen Voraussetzungen Kassenleistung sei. In der ambulanten vertragsärztlichen Behandlung könnten die Botox®-Injektionen über die elektronische Gesundheitskarte zu unmittelbaren Lasten der Krankenkasse abgerechnet werden. Die Abrechnung erfolge über die Zystoskopie (Gebührenordnungsposition 26310 bzw. 26311) in Kombination mit der urologischen Grundpauschale (Gebührenordnungspositionen 26210 bis 26212). Erhalte sie dennoch eine Privatrechnung, so könne dem Antrag auf Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) nicht entsprochen werden, da die Leistung als Sachleistung gegenüber der Krankenkasse abrechnungsfähig sei.

Den unter dem 30.12.2014 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11.02.2015 zurück.

Mit der am 03.03.2015 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie begehrt die Kostenfreistellung auf der Grundlage der Vorschrift des § 13 Abs. 3 SGB V für eine auf der Grundlage der GOÄ abgerechnete Botulinumtoxin-Injektion in den Harnblasenmuskel. Für die transurethrale Injektion sei noch keine Gebührenposition im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) enthalten. Die Behandlung könne nur als Privatleistung nach der GOÄ abgerechnet werden, obwohl es sich um eine Leistung der Gesetzlichen Krankenversicherung handele. Aus diesem Grunde bestehe ein Systemversagen im Sinne der hierzu ergangenen Rechtsprechung (Hinweis auf BSG, Urteile vom 07.05.2013, Az. B 1 KR 44/12 R und 02.09.2014, Az. B 1 KR 65/12 R und B 1 KR 11/13 R).

Die Behandlung sei umfangreicher als die im EBM vorgesehene Zystoskopie und die Grundpauschale. Die Behandlung beginne damit, dass das Mittel nur in pulverisierter Form erhältlich sei und deshalb eine Injektionslösung erst mit einem natriumchloridhaltigen Lösungsmittel hergestellt werden müsse. Anschließend sei die Injektionsnadel zu entlüften, dann ein Lokalanästhetikum zu verabreichen, die Blase zu spülen, anschließend mit einer Kochsalzlösung zu füllen, um dann 20 Injektionen im Abstand von ca. ein Zentimeter über ein Zystoskop zu verabreichen, wobei die letzte Injektion anstelle Botox® eine Kochsalzlösung enthalte. Danach müsse der Patient noch 30 Minuten überwacht werden.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22.12.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.02.2015 zu verpflichten, die Klägerin von den Kosten der beantragten Botulinum-Injektion freizustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist auf den angefochtenen Widerspruchsbescheid. Eine Genehmigungsfiktion im Sinne des § 13 Abs. 3a SGB V sei nicht eingetreten, da die Klägerin mit an die Firma A ... GmbH adressierten Schreiben vom 26.11.2014 darüber informiert worden sei, dass die privatärztlichen Kosten der streitgegenständlichen Behandlung nicht von der Kasse erstattet werden könnten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitverhältnisses wird gemäß § 136 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Freistellung von den Kosten für die nach der GOÄ abzurechnende streitgegenständliche Behandlung.

Ein Anspruch ergibt sich nicht aus der Vorschrift des § 13 Abs. 3a SGB V, da die Beklagte mit Schreiben vom 26.11.2014 die Kosten innerhalb der Fristen des § 13 Abs. 3a SGB V abgelehnt hat. Das Schreiben war zwar an die A ... GmbH adressiert. Die Klägerin hatte die A ... GmbH jedoch mit Vollmacht vom 05.11.2014 bevollmächtigt eine entsprechende Klärung entgegen zu nehmen. Soweit die Beklagte im Schreiben vom 17.12.2014 eine andere Ansicht vertreten hat, ist diese nicht ausschlaggebend, da es allein auf die objektive Betrachtung des Schreibens ankommt.

Die Klägerin hat jedoch einen Anspruch darauf, in entsprechender Anwendung des § 13 Abs. 3 SGB V von der Abrechnung der streitgegenständlichen Behandlung nach der GOÄ freigestellt zu werden.

Bei der streitgegenständlichen Behandlung handelt es sich nicht um eine neuartige Behandlungsmethode für die eine Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) auf der Grundlage der Vorschrift des § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V erforderlich wäre. Das Arzneimittel Botulinumtoxin A ist seit Januar 2013 zur Anwendung der bei der Klägerin vorliegenden Erkrankung zugelassen. Die Applikation von zugelassenen Arzneimitteln durch Injektionen in den menschlichen Körper ist als wissenschaftliches Konzept schon lange bekannt und stellt keine neue Behandlungsmethode im Sinne von § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V dar (vgl. BSG, Urteil vom 02.09.2014, Az. B 1 KR 11/13 R, juris, Rdnr. 21). Dies ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig.

Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB V ist die Beklagte dem Versicherten zur Gewährung ärztlicher Behandlung verpflichtet. Die Krankenbehandlung umfasst neben der ärztlichen Behandlung auch die Versorgung der Versicherten mit Arzneimitteln. Der Anspruch besteht grundsätzlich nur im Rahmen eines Sachleistungsanspruchs. Sofern ein entsprechendes Arzneimittel nur ärztlich verabreicht werden kann, erfüllt die Krankenkasse diesen Sachleistungsanspruch grundsätzlich durch die vertragsärztliche Behandlung. Allerdings kann die Beklagte die streitgegenständliche Behandlung der Klägerin vorliegend nicht nach Maßgabe des vertragsärztlichen Leistungserbringerrechts als Naturalleistung zur Verfügung stellen, da der EBM keine entsprechende Abrechnungsposition enthält.

Entgegen der Ansicht der Beklagten ist die streitgegenständliche Behandlung nicht im EBM über die Gebührenordnungsposition 26310 (Urethrozystoskopie des Mannes) bzw. 26311 (Urethrozystoskopie der Frau) in Verbindung mit der Grundpauschale enthalten. Zwar ist die intramuskuläre Injektion im Verzeichnis der nicht gesondert berechnungsfähigen Leistungen (Anhang 1 zum EBM) aufgeführt. Die Injektion wird regelmäßig auch im Rahmen einer Zystoskopie durchgeführt. Zwar besteht kein Zweifel daran, dass Botulinumtoxin A bei der streitgegenständlichen Behandlung in einen Muskel injiziert wird. Es handelt sich dabei um den Musculus detrusor vesicae oder den Sphinkter vesicae. Bei dem erstgenannten Muskel handelt es sich um das kräftige Muskelsystem, das die Harnblase umgibt und einen Teil derselben bildet. Bei dem Sphinkter vesicae handelt es sich um den Schließmuskel der Harnblase. Die die Harnblase umgebenden und verschließenden Muskeln sind nicht nur Muskeln sondern es handelt sich gleichzeitig um wesentliche Bestandteile des Organs Harnblase. Nach Ansicht der Kammer ist die Injektion in den Harnblasenmuskel aus mehreren Gründen nicht von der im Verzeichnis der nicht gesondert berechnungsfähigen Leistungen (Anhang 1 zum EBM) genannten intramuskulären Injektion umfasst. Zum einen handelt es sich nicht nur um einen Muskel, sondern gleichzeitig um den wesentlichen Bestandteil der Harnblase und damit eines Organs. Eine Injektion in das entsprechende Muskelgewebe stellt damit nicht nur eine einfache intramuskuläre Injektion dar, sondern einen Eingriff in ein Organ, der mit entsprechenden Komplikationen und Risiken verbunden ist. Dieser Eingriff in das Organ Harnblase wird mit dem Begriff "intramuskuläre Injektion" nicht abgebildet. Ferner wird die Art und A ... der Applikation nicht ausreichend von dem Begriff "Injektion" abgebildet. Von einer normalen Injektion unterscheidet sich die streitgegenständliche Behandlung dadurch, dass die bei Frauen drei bis vier Zentimeter und bei Männern 25 bis 30 Zentimeter lange Harnröhre überwunden werden muss, während intramuskuläre Injektionen in einen Skelettmuskel in das Gesäß, den Oberarm oder den Oberschenkel erfolgen. Darüber hinaus dienen intramuskuläre Injektionen regelmäßig als Applikationsform eines flüssigen Arzneimittels unter Umgehung des Magen-Darm-Traktes, wohingegen durch die Injektion von Botulinumtoxin in den Harnblasenmuskel eine Wirkung auf den Muskel selber ausgeübt wird.

Entgegen der Ansicht der Beklagten ist der transurethrale Eingriff nicht von der Urethrozystoskopie umfasst. Die Urethrozystoskopie ist eine urologische Untersuchung der Harnblase, bei der mit einem Zystoskop die Harnblase untersucht wird. Es handelt sich dabei um eine Untersuchungsmethode, die nicht den Eingriffscharakter in die Harnblase durch die Injektionen umfasst.

Nach alledem ist die streitgegenständliche Behandlung nicht von den Gebührenordnungspositionen des EBM und damit von der vertragsärztlichen Behandlung umfasst. Da die streitgegenständliche Behandlung jedoch unstreitig eine Leistung der Gesetzlichen Krankenversicherung darstellt, hat die Klägerin wegen Systemversagens einen sachleistungsersetzenden Freistellungsanspruch gegen die Beklagte. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sind Leistungen in einem solchen Ausnahmefall in den GKV-Leistungskatalog einbezogen, ohne dass es einer positiven Empfehlung des GBA und einer Aufnahme der Behandlung in den EBM bedarf. Dabei erstreckt sich der Anwendungsbereich der Regelung des § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V über den ausdrücklich geregelten Kostenerstattungsanspruch hinaus auch auf Fälle der Kostenfreistellung, wenn aufgrund Systemversagens eine Lücke im Naturalleistungssystem besteht, die verhindert, dass Versicherte sich die begehrte Leistung im üblichen Weg der Naturalleistung verschaffen können (vgl. BSG a.a.O.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Berufung war zuzulassen, da es sich um eine Sache von grundsätzlicher Bedeutung handelt, § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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