L 31 AS 1000/17 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
31
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 59 AS 4055/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 31 AS 1000/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Ein beim Vater lebender nicht deutscher minderjähriger Unionsbürger mit Aufenthaltsrecht in Deutschland vermittelt der ledigen Mutter kein Aufenthaltsrecht nach § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 5. Mai 2017 wird insoweit aufgehoben, als der Antragsgegner verpflichtet wurde, der Antragstellerin vorläufige Leistungen der Grundsicherung für den Zeitraum vom 27. März bis 31. August 2017 zu gewähren. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten bewilligt.

Gründe:

I.

Die Beschwerde des Antragsgegners (§ 172 Sozialgerichtsgesetz – SGG) ist zulässig und begründet. Die Antragstellerin kann sich neben dem Freizügigkeitsrecht zur Arbeitssuche, mit dem sie gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch/Zweites Buch (SGB II) von Leistungen ausgeschlossen ist, auf kein weiteres Aufenthaltsrecht berufen.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts besteht kein Aufenthaltsrecht nach § 11 Abs. 1 Satz 11 Freizügigkeitsgesetz/EU in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz. Nach diesen Vorschriften ist die Aufenthaltserlaubnis dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge unter weiteren Voraussetzungen zu erteilen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen schon deshalb nicht vor, da die fünf minderjährigen Kinder der Antragstellerin nicht d, sondern r Staatsangehörigkeit sind. Dem Wortlaut nach vermittelt § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz also keineswegs eine günstigere Rechtsstellung als das Freizügigkeitsgesetz/EU, soweit der Nachzug zu Unionsbürgern betroffen ist.

Eine bessere Rechtsstellung als nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU ergäbe sich allenfalls dann, wenn die Vorschrift in Anwendung des Diskriminierungsverbotes aus Art. 18 AEUV dergestalt interpretiert wird, dass nicht nur der Nachzug zu einem minderjährigen ledigen Deutschen, sondern der Nachzug zu minderjährigen ledigen Unionsbürgern mit Aufenthaltsrecht und gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland geregelt werden sollte.

Der Senat verkennt nicht, dass eine solche Auslegung in der Kommentarliteratur (vgl. Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, Kommentar, 11. Auflage, § 11 FreizügG/EU, § 11, Rdnr. 38, 39) vertreten wird, aber keineswegs einhellig (a.A. Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Aufenthalts- und Ausländerrecht, Stand Dezember 2013, § 11 FreizügG/EU Rn. 107). Eine derart weitgehende Auslegung des Diskriminierungsverbots aus Art. 18 AEUV hält der Senat aber nicht für überzeugend.

Nach Auffassung des Senats ist die dargelegte Rechtsauffassung ohne ausreichende Begründung geblieben, die Aufschluss darüber geben könnte, warum mit einer derart weitreichenden Auslegung des Diskriminierungsverbotes die hier einschlägigen Vorschriften des FreizügG/EU obsolet würden. Denn nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU besteht auch für Verwandte in aufsteigender Linie (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU) wie die Antragstellerin als Mutter ihrer Kinder nach § 3 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU ein Freizügigkeitsrecht lediglich nach Maßgabe des § 4 FreizügG/EU, also wenn sie unter anderem über ausreichende Existenzmittel/Unterhaltsansprüche verfügen, was vorliegend nicht der Fall ist, da die Kinder und ihr Vater ebenfalls SGB II-Leistungen beziehen. Die genannte Regelung des FreizügG/EU hätte praktisch keinen Anwendungsbereich mehr, wenn die Ausnahmevorschrift des § 28 Aufenthaltsgesetz, die ein Aufenthaltsrecht des ausländischen Elternteils nur zugunsten eines minderjährigen Deutschen regelt, auf alle EU-Bürger ausgedehnt wird. Auch ist dem Senat einschlägige Rechtsprechung der sachnäheren Verwaltungsgerichte zum behaupteten Aufenthaltsrecht aus § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz weder aus der zitierten Kommentarliteratur noch aus der zitierten Rechtsprechung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 30. November 2015, L 19 AS 1713/15 B ER und Urteil vom 1. Juni 2015, L 19 AS 1923/14, zitiert nach juris) noch aus einem Beschluss des 25. Senats des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg (L 25 AS 1331/16 B ER zitiert nach juris) bekannt geworden. Dem -soweit ersichtlich- einzigen Urteil zur Frage eines Aufenthaltsrechts aus § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz des Verwaltungsgerichts Berlin vom 18. März 2009 (Az.: 12 V 40/08 zitiert nach juris) fehlt an der entscheidenden Stelle jede Begründung (siehe Rn. 21 des Abdrucks bei juris). Dabei verkennt der Senat nicht, dass es für die sozialrechtlichen Belange nicht von Bedeutung ist, ob dem Unionsbürger ein entsprechender Titel nach dem Aufenthaltsgesetz erteilt worden ist (BSGE 113,60).

Für eine solche weitgehende Auslegung des Diskriminierungsverbotes findet sich in der neueren Rechtsprechung des EuGH nach Auffassung des Senats kein Anhalt. So kommentiert Dienelt (a.a.O.), § 11 FreizügG/EU Rdnr. 40 ebenfalls, dass das weitgehende Diskriminierungsverbot auch dann gelte, wenn sozialrechtliche Leistungen begehrt würden und ein Unionsbürger damit einen Anspruch auf Inländerbehandlung bei Sozialleistungen habe. Diese Kommentierung lässt sich nach Auffassung des Senats nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache D(Entscheidung vom 11. November 2014 C-333/13) und in der Rechtssache Avom 15. September 2015 C-67/14 nicht aufrechterhalten. Denn nach den genannten Urteilen widerspricht es dem EU-Recht keineswegs, dass Unionsbürger auf Arbeitssuche – anders als deutsche Arbeitssuchende – von den Leistungen nach dem SGB II (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II), also allein steuerfinanzierten Sozialleistungen, ausgeschlossen sind.

Wie bereits oben ausgeführt, besteht zwar nach § 3 Abs. 1 FreizügG/EU für Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 FreizügG/EU genannten Unionsbürger das Recht auf Freizügigkeit, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Ein Angehörigkeitsverhältnis der Antragstellerin zu dem als Arbeitnehmer aufenthaltsberechtigtem Vater ihrer Kinder besteht nicht, da die nichteheliche Lebensgemeinschaft kein Familienangehörigkeitsverhältnis vermittelt. Insoweit kann auch § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz nicht zur Anwendung kommen, da dieser ausdrücklich nur den Nachzug von Ehegatten regelt. Ein lediger Partner eines Arbeitnehmers ist kein Familienangehöriger (EuGH, Urteil vom 17. April 1986 –C- 59/85; vgl. auch Urteil des Bundessozialgerichts vom 30. Juni 2013, B 4 AS 54/12 R, Rn. 33 zitiert nach juris).

Wie bereits ausgeführt, kann die Antragstellerin ein Aufenthaltsrecht auch nicht vom Aufenthaltsrecht ihrer Kinder nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Freizügigkeitsgesetz/EU ableiten, da insoweit die Maßgabe des § 4 FreizügG/EU zu beachten wäre.

Auch ist der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs keineswegs der Grundsatz zu entnehmen, dass der minderjährige Unionsbürger grundsätzlich ein Zuzugsrecht für sein ausländisches Elternteil vermittelt. So hat der Europäische Gerichtshof in einer aktuellen Entscheidung vom 10. Mai 2017 (Aktenzeichen C/133/15) – allerdings im Hinblick auf ein ausländisches Elternteil mit Staatsangehörigkeit eines Nicht-EU-Landes – entschieden, dass zwar im Grundsatz ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht geltend gemacht werden kann. Zu den Voraussetzungen hat der Europäische Gerichtshof ausgeführt, dass für die Ablehnung eines Aufenthaltsrechts des Nicht-EU-Elternteils allein nicht ausreichend ist, dass der andere Teil, der Unionsbürger ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrnehmen könne. Andererseits müsse aber festgestellt werden, dass zwischen dem Kind und dem Elternteil aus dem Nicht-EU-Land kein Abhängigkeitsverhältnis in der Weise bestehe, dass das Kind, wenn diesem Elternteil das Aufenthaltsrecht verweigert würde, das Unionsgebiet verlassen müsste. Daraus folgt umgekehrt, dass ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht von dem minderjährigen Unionsbürger erst dann besteht, wenn dieser ansonsten gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen. Dabei sind alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Jedenfalls ist dieser Entscheidung zu entnehmen, dass der minderjährige ledige Unionsbürger nicht in jedem Fall ein Aufenthaltsrecht für beide Elternteile vermittelt.

Der Senat sieht keinesfalls die zwingende Notwendigkeit, dass die minderjährigen Kinder D zwangsläufig verlassen müssten, wenn kein anderes Recht der Mutter zum Aufenthalt als das zur Arbeitssuche bejaht wird, mit dem sie allerdings von Sozialleistungen ausgeschlossen ist.

Denn die Arbeitszeiten des Vaters der Kinder stehen einer Betreuung nicht entgegen. Er arbeitet in einem Zustelldienst Mittwoch und Samstag für je 90 Minuten. Daneben übt er eine Tätigkeit als Bauhelfer für eine monatliche Bruttovergütung von 480 Euro aus. Dies sind unter Berücksichtigung des § 5 des Arbeitsvertrages (Arbeitszeit) regelmäßig weitere 12 Wochenstunden. Die ältesten Geschwisterkinder sind 2002 und 2004 geboren und können damit auch kurzfristige Aufsichten über ihre jüngeren Geschwister leisten.

Der Antragstellerin wird daher nichts anders übrig bleiben, als sich ebenfalls eine Arbeitsstelle zu suchen und sei es in ähnlich geringfügigem Umfang wie ihr Lebenspartner, um als Arbeitnehmerin und Aufstockerin leistungsberechtigt nach dem SGB II zu werden. Dass Elternteile mit zwei "Minijobs" durchaus in der Lage sind, fünf auch minderjährige Kinder zu betreuen, steht außer Zweifel.

Einen Sozialleistungsanspruch nach dem SGB II für die Antragstellerin, vermittelt durch ein weiteres Aufenthaltsrecht neben dem zur Arbeitssuche, besteht jedenfalls nicht.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren folgt aus § 119 Abs. 1 Satz 2 Zivilprozessordnung - ZPO), da die Erfolgsaussicht in einem höheren Rechtszug nicht zu prüfen ist, wenn der Gegner das Rechtsmittel eingelegt hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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