S 20 R 1235/14

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Nordhausen (FST)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 20 R 1235/14
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 05.05.2014 wird aufgehoben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 18.03.2014 verpflichtet, der Klägerin ein höheres Übergangsgeld unter Zugrundelegung eines fiktiven tariflichen monatlichen Entgeltes in Höhe von 2820,26 EUR brutto zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Beklagte trägt 3/4 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Berechnungsgrundlage bei der Gewährung von Übergangsgeld während einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben.

Mit ihrer am 03.06.2014 erhobenen Klage wendet die Klägerin sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 18.03.2014 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 05.05.2014, mit der der Klägerin für die Dauer einer am 10.03.2014 beginnenden Leistung zur Teilhabe ein monatliches Arbeitsentgelt in Höhe von 1890,83 EUR zugrunde gelegt wurde.

Die Klägerin hat ihren Wohnsitz in Thüringen und ist freie Handelsvertreterin im Bereich der Mineralwasserindustrie. Dabei ist sie ganz überwiegend für einen Auftraggeber, die Fa. , tätig geworden. Bei den Aufträgen handelte es sich um den Vertrieb von Produkten der ...

Beide Firmen sind in. ansässig. Aufgrund wöchentlicher Abrechnungen bekam die Klägerin für besuchte Märkte bzw. Verkaufsstellen einen festen Vergütungssatz (laut von der Klägerin vorgelegten Abrechnungen in Höhe von 14,58 EUR pro Markt) Die besuchten Märkte lagen überwiegend in Thüringen, aber auch in Hessen und Bayern. Aus den von der Klägerin im Verfahren vorlegten Einnahmeüberschussrechnungen ergab sich im Jahr 2010 ein durch-schnittliches monatliches Einkommen in Höhe von 1383,76EUR, 1688,46EUR im Jahr 2011 und 952,93 EUR im Jahr 2012.

Aufgrund einer Tarifanfrage beim Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Technologie und Arbeit (TMWTA) legte die Beklagte für eine Berechnung des Übergangsgeldes auf der Grundlage des § 48 S.1 Nr.3 SGB IX ein tarifliches ortsübliches Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von 1890,83 EUR zugrunde.

Die Klägerin ist der Ansicht, dass ihre Tätigkeit nach Gebiets- verkaufs-/Verkaufsbereichsleiterin der Gruppe IX a für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Mineralbrunnenindustrie für die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thüringen, Sachsen Anhalt und B. vom 10.06.2005 zu bewerten und daher ein fiktives monatliches Entgelt in Höhe von 3112,93 EUR brutto zugrunde zu legen sei.

Die Klägerin beantragt,

den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 05.05.2014 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 18.03.2014 zu verpflichten der Klägerin ein höheres Übergangsgeld unter Zugrundelegung eines fiktiven tariflichen monatlichen Entgeltes in Höhe von 3112,93 EUR brutto zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist auf die Gründe des Widerspruchbescheides.

Durch das Gericht wurden Tarifanfragen bei dem Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales und Gesundheit, Frauen und Familie (TMASGFF) und der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) veranlasst. Die NGG spricht sich in ihrer Stellungnahme vom 11.10.2016 dafür aus, die Tätigkeit der Klägerin als Tätigkeit der Entgeltgruppe VIII des Entgelttarifvertrages der Mineralbrunnenindustrie für die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thüringen, Sachsen Anhalt und B. vom 10.06.2005 zu bewerten. Das TMASGFF ist in der Stellungnahme vom 10.11.2016 der Ansicht, es sei der (nicht für verbindlich erklärte) Entgelttarifvertrag für sonstige Dienstleistungsunternehmen zwischen dem Bundesverband Deutscher Dienstleistungsunternehmen e.V. und der DHV - Die Berufsgewerkschaft e.V. zu Grunde zu legen, den auch das TMWTA in seiner von der Beklagten im Verwaltungsverfahren eingeholten Stellungnahme zugrunde gelegt hatte, dieser werde stets bei tariflichen Einstufung von Selbständigen herangezogen. Die DHV ist Mitglied im Christlichen Gewerkschaftsbund Deutschlands.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozess- und Be-klagtenakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung waren.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig.

Sie ist auch teilweise begründet, denn die angegriffenen Bescheide verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat Anspruch auf höheres Übergangsgeld unter Zugrundelegung der Entgeltgruppe VIII des Entgelttarifvertrages der Mineralbrunnenindustrie für die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thüringen, Sachsen Anhalt und B. vom 10.06.2005 als fiktiven tariflichen Arbeitsentgelt.

Maßgeblich ist insoweit unstreitig § 46 SGB Abs.1 S.3 Nr. 2 IX, wonach bei der Berechnung des Übergangsgelds für die übrigen Leistungsempfänger (also nicht den von S.1 und S.3 Nr.1 erfassten) 68 vom Hundert des nach Satz 1 oder § 48 maßgebenden Betrages zu Grunde zu legen ist.

Nach § 48 Satz 1 Nr. 1 SGB IX ist die Berechnungsgrundlage für das Übergangsgeld während Leistungen zur Teilhabe das auf ein Jahr bezogene tarifliche Arbeitsentgelt, das für den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort des Leistungsempfängers gilt, wenn die Berechnung nach den §§ 46 und 47 SGB IX zu einem geringeren Betrag führt. Maßgeblich für das nach § 48 Satz 1 SGB IX zu ermittelnde tarifliche Arbeitsentgelt, das für den Wohnsitz der Klägerin gilt, ist dabei dasjenige in dem letzten Kalendermonat vor dem Beginn der Leistungen zur Teilhabe bis zur jeweiligen Bemessungsgrenze für diejenige Beschäftigung, für die der Leistungsempfänger ohne die Behinderung nach seinen beruflichen Fähigkeiten, seiner bisherigen beruflichen Tätigkeit und nach seinem Lebensalter in Betracht käme (§ 48 Satz 2 SGB IX). Maßgebend ist dabei grundsätzlich die Beschäftigung oder Tätigkeit, die der Leistungsempfänger zuletzt ausgeübt hat, sofern sie nicht ausschließlich aus krankheitsbedingten Gründen bzw. wegen der Behinderung aufgenommen wurde (vgl. Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 05. Dezember 2016 – L 5 R 656/15 –, Rn. 33, juris).

Die Kammer ist der Auffassung, dass hier der Tarifvertrag für Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer der Mineralbrunnenindustrie für die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thüringen, Sachsen Anhalt und B. vom 10.06.2005 zugrunde zu legen ist, da es sich eindeutig um den sachnäheren einschlägigen Tarifvertrag handelt.

Nach dem Grundsatz der Spezialität kommt in einem Fall der Tarifkonkurrenz bzw. Tarifpluralität grundsätzlich allein der Tarifvertrag zur Anwendung, der dem Betrieb räumlich, fachlich und persönlich am nächsten steht und deshalb den Erfordernissen und Eigenarten des Betriebes und der darin tätigen Arbeitnehmer am besten gerecht wird (BAG, Urteil vom 18. Oktober 2006 – 10 AZR 576/05 –, BAGE 120, 1-17).

Der speziellere Tarifvertrag ist der Tarifvertrag für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Mineralbrunnenindustrie, der in der Bewertungsgruppe VIII als Tätigkeitsbeispiel ausdrücklich Handelsvertreter (Reisende) erfasst.

Der Entgelttarifvertrag für sonstige Dienstleistungsunternehmen erfasst alle Dienstleistungs-unternehmen, enthält also eine klassische Auffangnormbestimmung. Tarifverträge, die Dienstleistungen im Vertrieb im Zusammenhang mit der Produktion von Nahrungs-und Ge-nussmitteln betreffen, sind demgegenüber spezieller. Darüber hinaus ist zweifelhaft, ob die DHV für Marketingdienstleistungen von Produktionsbetrieben überhaupt zum maßgeblichen Zeitpunkt tariffähig war. Der DHV fehlte nach ihren bis zum 9. Januar 2013 geltenden Satzungen die Tarifzuständigkeit für die bei der Arbeitgeberin beschäftigten Arbeitnehmer, die keine kaufmännischen oder verwaltenden Berufe ausgeübt haben (BAG, Beschluss vom 11. Juni 2013 – 1 ABR 32/12 –, BAGE 145, 211-224, Rn. 32). Ebenso ist die Tariffähigkeit der DHV insgesamt in der Diskussion bzw. wird in Frage gestellt. So wird angeführt, der DHV fehle die erforderliche Mächtigkeit und Leistungsfähigkeit für eine tariffähige Arbeitnehmervereinigung. Es sei von höchstens 10.000 Mitgliedern auszugehen. Dies führe zu einem Organisationsgrad von maximal 0,07 % (Satzung 2012) bis jedenfalls unter 0,1 % (Satzung 2014). Die DHV habe insoweit auch keine hinreichende finanzielle Ausstattung, um ihrem Anspruch als deutschlandweit für 10 bis 15 Mio. Beschäftigungsverhältnisse zuständige Vereinigung zu entsprechen. (Vgl. hierzu Landesarbeitsgericht Hamburg, Beschluss vom 04. Mai 2016 – 5 TaBV 8/15 –, Rn. 25, juris). Vor diesem Hintergrund wird die vom TMASGFF geäußerte Rechtsauffassung, der Tarifvertrag für sonstige Dienstleistungsunternehmen sei stets bei Selbständigen anzuwenden, von der Kammer nicht geteilt. Die Kammer braucht jedoch nicht zu entscheiden, ob die DHV überhaupt tariffähig ist, da sich die Anwendbarkeit eines anderen Tarifvertrages bereits aus dem Grundsatz der Spezialität und Sachnähe ergibt.

Die Kammer ist auch zu der Auffassung gelangt, dass sich die Tätigkeit der Klägerin nur der Bewertungsgruppe VIII des einschlägigen Entgeltrahmentarifvertrages zuordnen lässt, da die Klägerin zwar räumlich ein größeres Gebiet abdeckt, ihr aber nicht wie bei einem Gebiets-verkaufsleiter (Bewertungsgruppe X) weitere Handelsvertreter unterstellt waren.

Laut Auskunft der NGG ist hier ein Monatslohn von 2820,26 EUR anzusetzen, so dass die darüberhinausgehende Klage insoweit abzuweisen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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