S 8 AL 130/03

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 8 AL 130/03
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 AL 103/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 28.07.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.10.2003 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, Arbeitslosenhilfe ab 25.06.2003 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen. Die Beklagte hat die Kosten des Klägers zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist ein Anspruch auf Arbeitslosenhilfe.

Der am 00.00.1951 geborene Kläger arbeitete zuletzt von Mai 1997 bis Juni 1999 als Logistikleiter bei der Firma E GmbH & Co. KG, M, danach bezog er Arbeitslosengeld, anschließend zahlte die Beklagte Arbeitslosenhilfe. Ansprüche des Klägers aus Lebensversicherungsverträgen berücksichtigte die Beklagte aufgrund der bis zum 31.12.2002 geltenden Rechtslage nicht bedürftigkeitsmindernd.

Am 23.06.2003 beantragte der Kläger die Fortzahlung der Arbeitslosenhilfe. Er gab folgendes Vermögen an: Girokonto: 246,88 Euro, Sparbuch: 1608,76 Euro, Kapitallebensversicherung: 23695,00 Euro (Auszahlungsbetrag) Kapitallebensversicherung: 1279,00 Euro (Auszahlungsbetrag), Gesamt: 26829,64 Euro. Die Beklagte errechnete für den Kläger und seine Ehefrau einen Freibetrag in Höhe von 20800,00 Euro und lehnte mit Bescheid vom 28.07.2003 den Weiterzahlungsantrag ab, weil der Kläger nicht bedürftig sei.

In Widerspruchsverfahren meinte der Kläger, sein Vermögen, das im Wesentlichen aus Ansprüchen aus Lebensversicherungsverträgen bestehe, sei nicht verwertbar, denn dieses sei für seine Alterssicherung bestimmt.

Mit Bescheid vom 10.10.2003 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Vermögen, welches zur Alterssicherung bestimmt ist, sei nur dann anrechnungsfrei, wenn der Arbeitslose oder sein Partner von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 231 SGB VI befreit ist. Ein derartiger Sachverhalt liege beim Kläger bzw. seiner Ehefrau nicht vor.

Hiergegen richtet sich die am 06.11.2003 erhobene Klage. Der Kläger beruft sich auf das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12.02.2003 - S 58 AL 2208/02 -. Er hat mitgeteilt, dass für die Lebensversicherungen Einzahlungen geleistet wurden, die in etwa in Höhe des Auszahlungsbetrages liegen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 28.07.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.10.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, Arbeitslosenhilfe ab 25.06.2003 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält die Verwertung der Lebensversicherungen für zumutbar, da die Einzahlungsbeträge nicht wesentlich über dem Auszahlungsbetrag liegen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Der Kläger hat einen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe.

Die Grundvoraussetzungen für einen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe gem. § 190 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 SGB III liegen nach dem 24.06.2003 weiterhin vor. Dies ist zwischen den Beteiligten nicht umstritten.

Im Gegensatz zur Meinung der Beklagten ist der Kläger auch bedürftig im Sinne des § 190 Abs. 1 Nr. 5 SGB III.

Bedürftig ist gem. § 193 Abs. 1 SGB III ein Arbeitsloser, soweit er seinen Lebensunterhalt nicht auf andere Weise als durch Arbeitslosenhilfe bestreitet oder bestreiten kann und das zu berücksichtigende Einkommen die Arbeitslosenhilfe nicht erreicht. Nicht bedürftig ist gem. § 193 Abs. 2 SGB III ein Arbeitsloser, solange mit Rücksicht auf sein Vermögen oder das Vermögen seines nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten die Erbringung von Arbeitslosenhilfe nicht gerechtfertigt ist.

§ 193 Abs. 2 SGB III regelt generalklauselartig lediglich den Grundsatz der Berücksichtigung von Vermögen. Welche Vermögenswerte im Einzelnen zu berücksichtigen sind, bestimmt die aufgrund der Ermächtigung in § 206 Nr. 1 SGB III erlassene AlhiV vom 31.12.2001, geändert durch Artikel 11 des 1. Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2002 in der Fassung ab 01.01.2003.

Gem. § 1 Abs. 1 AlhiV ist das gesamte verwertbare Vermögen des Arbeitslosen und seines nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten zu berücksichtigen, soweit der Wert des Vermögens den Freibetrag übersteigt. Freibetrag ist gem. § 1 Abs. 2 AlhiV ein Betrag von 200,00 Euro je vollendetem Lebensjahr des Arbeitslosen und seines Partners, dieser darf für den Arbeitslosen und seinen Partner jeweils 13000,00 Euro nicht übersteigen. Diesen Freibetrag hat die Beklagte grundsätzlich zutreffend berechnet.

Die Freibetragsregelung des § 1 Abs. 2 der aktuellen AlhiV ist in Verbindung mit dem Wegfall von § 6 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 AlhiV 1974 mit höherrangigem Recht indes nicht zu vereinbaren (vgl. hierzu und zum Folgenden bereits Urteil der Kammer vom 12.12.2003 - S 8 AL 111/03; Berufungsverfahren beim LSG NRW anhängig unter dem Aktenzeichen L 9 AL 24/04).

Das LSG Berlin hat allerdings mit Urteil vom 02.09.2003 (L 6 AL 16/03) den pauschalierten Freibetrag grundsätzlich für rechtmäßig erachtet. Dieses Urteil bezieht sich ebenso wie die Ausgangsentscheidung des SG Berlin vom 12.02.2003 - S 58 AL 2208/03 -, auf die der Kläger sich beruft, aber auf die AlhiV 2002 vor Änderung durch Artikel 11 des 1. Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2002. Das heißt, dem Rechtsstreit lag noch der bis zum 31.12.2002 geltende Freibetrag in Höhe von 520,00 Euro je vollendetem Lebensjahr des Arbeitslosen und seines Partners zu Grunde. Dieser höhere Freibetrag hat im Fall des Klägers noch zur Annahme von Bedürftigkeit geführt, wie die Bewilligung der Arbeitslosenhilfe bis zum 24.06.2003 auch zeigt.

Der Freibetrag in Höhe von 200,00 Euro je vollendetem Lebensjahr des Arbeitslosen und seines Partners ist jedoch zu niedrig. Für diejenigen, die ihr Vermögen in erheblichem Umfang zur Alterssicherung eingesetzt haben, bedeutet die seit dem 01.01.2002 mit Übergangsregelungen geltenden Neuregelung gegenüber der zuvor bestehenden Rechtslage eine Verschlechterung, die allenfalls noch mit dem bis zum 31.12.2002 geltenden Freibetrag, nicht aber mit dem seither geltenden Freibetrag von 200,00 Euro je vollendetem Lebensjahr rechtmäßig ist.

§ 206 Nr. 1 SGB III ermächtigt das Bundesministerium für Arbeit- und Sozialordnung, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen durch Rechtsverordnung zu bestimmen, inwieweit Vermögen zu berücksichtigen ist. Diese Ermächtigungsgrundlage hat das Normprogramm des § 193 Abs. 2 SGB III zur Geltung zu bringen. Hiernach ist der Verordnungsgeber aufgerufen, Fallgestaltungen festzulegen, nach denen mit Rücksicht auf vorhandenes Vermögen die Erbringung von Arbeitslosenhilfe "nicht gerechtfertigt" ist. Mit dem Begriff der Rechtfertigung der Gewährung von Arbeitslosenhilfe trotz vorhandenem Vermögen ist der Verordnungsgeber vor die Aufgabe gestellt, ein mit dem Strukturprinzipien des Arbeitslosenhilferechts kompatibles Schonvermögenskonzept zu entwickeln (SG Bremen, Beschluss vom 11.06.2003, Info also 2003 Seite 219 ff). Zwar ist dem Verordnungsgeber nach § 206 Nr. 1 SGB 3 kein konkretes Modell vorgegeben, in welcher Weise Vermögen zur Alterssicherung von der Verwertung auszunehmen ist. Insbesondere ist es dem Verordnungsgeber bei der Ordnung von Massenerscheinungen nicht verwehrt, anstelle einer Einzelfallprüfung generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen zu verwenden. Hinsichtlich der Höhe des Freibetrages hat der Verordnungsgeber allerdings zu beachten, dass grundsätzlich eine schonende Behandlung von Vermögen, das für die Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung bestimmt ist, geboten ist, da der Lebensstandard im Alter nicht ausschließlich durch die gesetzliche Rentenversicherung gesichert wird. Demzufolge hat das BSG den Freibetrag von 1000,00 DM gem. § 6 Abs. 4 Nr. 2 AlhiV 1974, zuletzt geändert durch Artikel 1 der 6. Verordnung zur Änderung der AlhiV vom 18.06.1999 (BGBL Seite 1433) für rechtmäßig gehalten (BSG, Urteil vom 05.06.2003 - B 11 AL 55/02 R -).

Die jetzt geltende Freibetragsregelung ermöglicht demgegenüber keine angemessene Altersversorgung des Klägers und seiner Ehefrau mehr (vgl. hierzu näher BSG, Urteil vom 05.06.2003 a.a.O).

Abgesehen davon, hat der Verordnungsgeber mit der drastischen Absenkung der Freibetragsregelung die Grenzen des Rechts- und Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) verletzt. Die Absenkung des Freibetrages ohne Differenzierung nach der Art des Vermögens stellt eine tatbestandliche Rückanknüpfung (sogenannte unechte Rückwirkung) dar. Eine solche liegt vor, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte für die Zukunft einwirkt und damit die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet ( BVerfGE 43, 291, 391; 79, 29, 45 ff). Die unechte Rückwirkung von Gesetzen ist unter Berücksichtigung der Schranken des Rechts- und Sozialstaatsprinzips nur innerhalb sachlicher Grenzen zulässig, die sich aus dem Gebot der Rechtssicherheit und dem daraus folgenden Vertrauensschutz ergeben. Bei der Bestimmung dieser Grenzen sind das schutzwürdige Interesse des betroffenen Personenkreises an einem Fortbestand der bisherigen Rechtslage und die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit gegeneinander abzuwägen (vgl. BVerfGE 43, 291, 391; BSG SozR 3 - 4100 § 111 Nr. 12; in diesem Sinne auch SG Aachen, Urteil vom 18.09.2003 - S 15 AL 66/03 -). Eine tatbestandliche Rückanknüpfung muss insbesondere dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entsprechen, das heißt die getroffene Regelung muss erforderlich, geeignet und angemessen (verhältnismäßig im engeren Sinne) sein.

Die drastische Absenkung des Freibetrages dürfte zur Erreichung des Ziels des Verordnungsgebers - Verbesserung der defizitären Finanzlage des Bundeshaushaltes bei anhaltend hoher Arbeitslosigkeit - bereits ungeeignet sein. Denn es wäre dem Kläger unbenommen, ihm Hinblick auf die Entscheidung der Beklagten den den Freibetrag übersteigenden Vermögensbestandteil in kurzer Zeit zu verbrauchen (z.B. für Luxusaufwendungen) um sich anschließend wieder - diesmal erfolgreich - auf Bedürftigkeit zu berufen. Der zu niedrige Freibetrag fördert damit die Verschleuderung von Altersvorsorgevermögen, Entlastet den Bundeshaushalt im Ergebnis nicht und steht der gesellschaftlich und politisch gewünschten Bildung von privatem Altersvorsorgevermögen entgegen.

Die drastische Absenkung des Freibetrages ist auch unangemessen. Der Kläger bzw. seine Ehefrau zahlen für die Kapital- Lebensversicherung seit 1986 bzw. 1987 Versicherungsprämien. Der Kläger hat dadurch jahrelang Konsumverzicht geleistet, um ein privates Altersvorsorgevermögen aufzubauen. Dieser jahrelange Konsumverzicht wird jetzt stark abgewertet.

Mindestens unzulässig dürfte es zudem sein, gem. § 206 Nr. 1 SGB III die Bestimmung, inwieweit Vermögen zu berücksichtigen ist, allein dem Verordnungsgeber zu überlassen. Auch im sozialen Leistungsrecht gilt der Grundsatz des Vorbehaltes des Gesetzes (vgl. auch § 31 SGB I). Die Geltung dieses Grundsatzes ergibt sich auch aus Artikel 20 Abs. 3 GG. Es ist allgemein anerkannt, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, - losgelöst vom Merkmal des Grundrechtseingriffs - in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen (BVerfGE, Beschluss vom 08.08.1978 - 2 BvL 8/77 - m.w.N.; BVerfGE 34, 165 (192 ff).) In welchen Bereichen danach staatliches Handeln einer Rechtsgrundlage im förmlichen Gesetz bedarf, lässt sich nur im Blick auf den jeweiligen Sachbereich und die Intensität der geplanten oder getroffenen Regelung ermitteln. Die verfassungsrechtlichen Wertungskriterien sind dabei in erster Linie den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den vom Grundgesetz anerkannten und verbürgten Grundrechten zu entnehmen. Nach den gleichen Maßstäben beurteilt sich, ob der Gesetzgeber mit der zur Prüfung vorgelegten Norm die wesentlichen normativen Grundlagen des zu regelnden Rechtsbereichs selbst festlegen muß und dies nicht dem Handeln Dritter, etwa der Verwaltung, überlassen darf.

Wie gezeigt hat die Höhe des im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung anerkannten Freibetrages erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen. Ansprüche aus Kapitallebensversicherungen sind als Eigentum im Sinne des Artikel 14 Abs. 1 GG anzusehen. Die Entscheidung über die Höhe des Freibetrages hat damit unmittelbar grundrechtsrelevante Wirkung. Dem Gesetzgeber ist es daher nicht erlaubt, der Verwaltung bei der Bestimmung der Höhe des Freibetrages völlig freie Hand zu geben und damit einen Freibetrag nach Kassenlage ohne weitere Einschränkungen zuzulassen. Gerade die vorliegende Fallgestaltung zeigt, dass es den Betroffenen nicht mehr möglich ist, vorherzusehen, welche Vermögensanlagen im Laufe der Zeit geschützt sind und welche Vermögensanlagen verwertet werden müssen. Der Gesetzgeber hätte daher in § 206 Nr. 1 SGB III genauere Vorgaben für die Bestimmung der Höhe des Freibetrages vorsehen müssen.

Die Beklagte darf bei ihrer Entscheidung über die Bedürftigkeit daher die neue Regelung des § 1 Abs. 2 Satz 1 AlhiV durch Artikel 11 des 1. Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt nicht berücksichtigen. Sie wird sich an dem bis dahin geltenden Freibetrag in Höhe von 520,00 Euro orientieren müssen. Hiermit ist der Kläger bedürftig, das Einkommen der Ehefrau ist nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften allerdings weiter anzurechnen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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