L 16 RJ 98/99

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 23 RJ 476/97
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 RJ 98/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. August 1999 und der Bescheid der Beklagten vom 6. November 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. März 1997 geändert. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ab 1. Februar 1998 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU).

Die Klägerin wurde 1952 in der T geboren, sie besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Seit 1969 lebt die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland. Ab 1971 war sie bei verschiedenen Firmen als Schneiderin bzw. Näherin beschäftigt. Das letzte, seit 1983 bestehende Arbeitsverhältnis endete zum 31. August 1992.

Seit 1988 ist die Klägerin als Schwerbehinderte anerkannt, seit 1994 mit einem Grad der Behinderung (GDB) von 80. Spätere Anträge auf Erhöhung des GdB und auf Zuerkennung des Merkzeichens „G“ (erhebliche Gehbehinderung) wurden abgelehnt, lediglich die Funktionsbeeinträchtigungen wurden anders bezeichnet (mittel- bis hochgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit beidseits; Diabetes insipidus; depressives Syndrom mit psychosomatischen Störungen; Harninkontinenz; Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule nach Fraktur des 2. Halswirbelkörpers, leichte Schädigung des C6 rechts, ausgeheilte Rippenfraktur 2 - 4 links nach Autounfall 08/94; degenerative Wirbelsäulenveränderungen mit Wurzelreizerscheinungen und Weichteilrheumatismus; obstruktive Ventilationsstörungen; rezidivierende Gastritis und Colitis; hypotone Kreislauflage mit orthostatischem Syndrom - Widerspruchsbescheid vom 8. Juni 1998).

Nachdem die Klägerin ab 3. Januar 1990 arbeitsunfähig krank gewesen war, beantragte sie im August 1990 erstmals Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Die gegen die ablehnenden Bescheide der Beklagten gerichtete Klage blieb erfolglos (Urteil des SG Berlin vom 30. Juli 1992 - S 28 J 419/91 -), ihre gegen das erstinstanzliche Urteil eingelegte Berufung nahm die Klägerin im August 1993 zurück (LSG Berlin - L 8 J 35/92 -).

Am 27. August 1994 erlitt die Klägerin in R einen Verkehrsunfall und wurde dort medizinisch erstversorgt. Ab dem 2. September 1994 wurde sie im U-Krankenhaus B wegen einer „Fraktur Vorderkante Halswirbelkörper 2 mit angedeuteter Dorsalverletzung und Rippenfraktur“ weiter behandelt.

Im Februar 1995 beantragte sie bei der Beklagten erneut Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die sie vor allem mit fortbestehenden Unfallfolgen begründete. Nachdem die Beklagte u.a. ein Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie F eingeholt hatte, bewilligte sie der Klägerin Rente wegen EU auf Zeit ab dem 1. April 1995 (Rentenbescheid vom 29. Mai 1995) bis zum 31. Oktober 1996. Der Arzt F hatte bei der Klägerin ein chronisches Schmerzsyndrom bei agitierter Depression, einen Zustand nach Contusio cerebri mit Halswirbelkörper-2-Fraktur im Bereich der Vorderkante sowie eine Rippenserienfraktur links, eine psychogene Polydipsie sowie Harninkontinenz diagnostiziert. Er sah das berufliche Leistungsvermögen der Klägerin als aufgehoben an und empfahl mit Blick auf eine laufende neurologisch-psychiatrische Behandlung eine Zeitrente zu gewähren.

Einen Antrag der Klägerin vom Juni 1995, ihr medizinische Leistungen zur Rehabilitation zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 2. August 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Februar 1996 ab. Die bestehende Erwerbsunfähigkeit könne durch die beantragten Leistungen nicht beseitigt werden. Vor ihrer Entscheidung hatte die Beklagte unter anderem zwei Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen Berlin (MDK) beigezogen (Gutachterin Dr. L-L vom 9. Februar 1995; Gutachter B vom 16. Mai 1995).

Im August 1996 beantragte die Klägerin, ihr Rente wegen Erwerbsunfähigkeit über den 31. Oktober 1996 hinaus zu gewähren. Dazu reichte sie Atteste ihrer behandelnden Ärzte ein, und zwar des Hals-, Nasen-, Ohrenarztes Dr. Z vom 9. November 1995, der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. B vom 4.April 1996, des Praktischen Arztes Ö vom 19. April 1996, der Ärzte für Neurologie und Psychiatrie B und B vom 25. April 1996 und des Orthopäden Dr. S vom 26. April 1996). Die Beklagte ließ die Klägerin durch die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. S begutachten, die in ihrem Gutachten vom 16. Oktober 1996 bei der Klägerin eine hysterische Entwicklung mit Somatisierung und rezidivierend depressiven Verstimmungen, einen Kopfschmerz (multifaktoriell bedingt), ein rezidivierendes Wirbelsäulensyndrom, im Besonderen in der Halswirbelsäule, eine psychogene Polydipsie, einen Zustand nach Verkehrsunfall 1994 mit Dislokation und angedeuteter Dorsalverletzung von Halswirbelkörper 2 mit Vorderkantenfraktur und Rippenfrakturen sowie eine Hörminderung beidseits diagnostizierte. Sie hielt die Klägerin auf Dauer nicht mehr für fähig, in ihrem letzten Beruf tätig zu sein. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könne sie leichte körperliche Tätigkeiten mit bestimmten qualitativen Einschränkungen noch verrichten. Für ein Heilverfahren sei die Klägerin nicht motiviert. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag durch Bescheid vom 6. November 1996 ab. Im Widerspruchsverfahren reichte die Klägerin Arztbriefe der Ärzte für Radiologie Dres. K u.a. vom 22. April 1996 (Kernspintomogra-phie des Schädels vom selben Tag) und 13. November 1996 (Röntgenaufnahme beider Hände vom 12. November 1996) und des Internisten Dr. von R vom 31. Oktober 1996 mit Anlage (Gastroduodenoskopie zur Feststellung von Helicobacter Gastritis) zu den Akten. Nach prüfärztlicher Stellungnahme des Neurologen und Psychiaters Dr. R vom 20. Dezember 1996 wies die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 21. März 1997 zurück.

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Berlin Befundberichte von den Ärztinnen B vom 29. September 1997 und Dr. B vom 10. Oktober 1997 erstatten lassen. Im Auftrag des SG ist die Klägerin durch den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. T und den Urologen Prof. Dr. F begutachtet worden. Dr. T hat in seinem Gutachten vom 2. Februar 1998 (Untersuchungstag 30. Januar 1998) bei der Klägerin auf seinem Fachgebiet einerseits eine neurotische Persönlichkeitsstörung mit einem Wechsel der Symptomausgestaltung, eine Depression, eine Polydipsie und eine Bewegungsstörung insgesamt leichter bis allenfalls mittelschwerer Ausprägung, andererseits ein chronisches Schmerzsyndrom mit einer Hauptlokation im Bereich der Halswirbelsäule diagnostiziert. Die Klägerin sei noch in der Lage, regelmäßig vollschichtig leichte körperliche Arbeiten - unter Beachtung der bezeichneten qualitativen Leistungseinschränkungen - zu verrichten. Das jetzt bestehende Leidensbild entspreche im Wesentlichen dem, das Prof. Dr. G bereits anlässlich seines Gutachtens vom 13. Februar 1992 für das Sozialgericht Berlin festgestellt habe. Trotz des zweifelsfrei bestehenden psychischen Leidenszustandes und der als gravierend zu berücksichtigenden familiären Konfliktsituation sei die Klägerin in der Lage, die psychische Symptomatik - wenn auch mit erheblicher psychischer Anstrengung - zu überwinden. Mit einer wesentlichen Rückbildung der Symptomatik sei nicht zu rechnen, worauf die behandelnde Nervenärztin B hingewiesen habe.

Dr. F hat in seinem Gutachten vom 6. August 1998 auf seinem Fachgebiet eine psychogene Polydipsie mit einer konsekutiven Polyurie diagnostiziert. Die Klägerin sei in ihrer Leistungsfähigkeit hochgradig beschränkt und könne keine vollschichtigen Tätigkeiten mehr verrichten. Ohne Begleitung könne sie das Haus nicht verlassen. Die urologische Beeinträchtigung sei nur behebbar, wenn die Polydipsie durch eine psychotherapeutische Beeinflussung reduziert werden könne. Nachdem sich die Beklagte zu den eingeholten Gutachten ihres Ärztlichen Dienstes unter Bezugnahme auf Stellungnahmen von Dr. R (vom 25. September 1998 und 8. April 1999) geäußert hatte, haben Dr. F und Dr. T ergänzend Stellung genommen; auf diese Stellungnahme vom 18. Januar 1999 und vom 14. Juni 1999 wird Bezug genommen.

Durch Urteil vom 11. August 1999 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klägerin sei weder berufs- noch erwerbsunfähig. Sie sei auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch vollschichtig einsetzbar, auf den sie sich sowohl in Bezug auf die Berufsunfähigkeit als auch in Bezug auf die Erwerbsunfähigkeit verweisen lassen müsse. Das ergebe sich aus dem überzeugenden Gutachten von Dr. T.

Mit der Berufung legt die Klägerin weitere Atteste ihrer behandelnden Ärzte (Urologe Dr. S vom 27. Oktober 1999; Dr. B vom 29. Oktober 1999; B vom 2. und 16. November 1999; Neurologe und Psychiater Dr. K vom 11. November 1999) und medizinische Unterlagen (urodynamischer Untersuchungsbefund des Gynäkologen Dr. H vom 25. Mai 1998; Arztbrief des Frauenarztes Dr. S vom 2. Juli 1998) vor.

Nachdem die Klägerin weitergehende Ansprüche zurückgenommen hat, beantragt sie nunmehr,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. August 1999 und den Bescheid der Beklagten vom 6. November 1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21. März 1997 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. Februar 1998 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie geht - im Vergleichswege - nunmehr von dem Vorliegen voller Erwerbsminderung seit dem 23. April 2001 (1. Untersuchungstag bei Dr. B) aus; auf den Schriftsatz der Beklagten vom 22. Oktober 2002 und die darin enthaltene sozialmedizinische Stellungnahme wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.

Der Senat hat Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin eingeholt (Orthopäde Dr. Z, Internisten Dres. T und H, Dr. B - jeweils vom 17. August 2000; Dr. S vom 18. August 2000; Dr. H vom 20. August 2000; Dr. S vom 21. August 2000; Internist und Rheumatologe Dr. H vom 24. August 2000; Dr. K vom 18. September 2000).

Im Auftrag des Senats hat der Allgemeinmediziner Dr. B ein Gutachten vom 1. Juni 2001 über die Klägerin erstattet (Untersuchungstage 23. April und 14. Mai 2001). Der Sachverständige hat bei ihr eine Depression mit schwerer chronifizierter Somatisierungsstörung, im Besonderen eine psychogene Polydipsie mit Pollakisurie bei Dranginkontinenz, Wirbelsäulen- und Gelenksbeschwerden bei Zustand nach Halswirbelkörperfraktur (ohne relevantes Funktionsdefizit), eine obstruktive Bronchitis (medikamentös gut eingestellt), eine beidseitige Schallempfindungs-Schwerhörigkeit (mit Hörgeräten gut ausgeglichen), einen Reizmagen und -darm bei Adipositas sowie einen labilen Hypertonus (ohne Folgeschäden oder Herzleistungsschwäche) diagnostiziert. Die Beschwerden seien von der Klägerin im Wesentlichen nicht beeinflussbar. Das Leistungsvermögen sei ab dem Zeitpunkt des Gutachtens von Dr. T aufgehoben. Dr. T habe die bereits damals erkennbare Entwicklung, dass die neurotische Fehlhaltung einer bewussten Willensanstrengung der Klägerin nicht mehr zugänglich sei, nicht hinreichend berücksichtigt. Eine Zeitrente von zwei Jahren unter der Maßgabe, baldmöglichst ein psychosomatisches Heilverfahren durchzuführen, werde empfohlen. Die Beklagte ist dem Gutachten mit einer Stellungnahme der Nervenärztin Dipl.-Med. W vom 1. August 2001 und des Internisten Dr. F vom 3. August 2001 entgegen getreten; auf diese Stellungnahme wird Bezug genommen.

Auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat die Neurologin und Psychiaterin G ein Gutachten vom 13. August 2002 über die Klägerin erstattet (Untersuchungstag 26. Juni 2002). Sie diagnostiziert eine psychogene Polydipsie mit Pollakisurie und Dranginkontinenz, eine depressive Episode, derzeit mittelgradig, eine chronifizierte Somatisierungsstörung, einen Verdacht auf Persönlichkeitsstörung mit zwanghaften und histrionischen Zügen sowie einen Verdacht auf Migräneleiden. Im Besonderen wegen der bestehenden Polydipsie sei das Leistungsvermögen der Klägerin auf höchstens zwei Stunden täglich begrenzt. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin bei weiterer nervenärztliche Behandlung binnen zwei Jahren wieder körperlich leichte Arbeiten - unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen - werde verrichten können.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die zum Verfahren eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen, wegen der medizinischen Feststellungen auf die zum Verfahren eingeholten Befundberichte und die Sachverständigengutachten von Dr. T, Dr. F, Dr. B und der Ärztin G Bezug genommen.

Die Gerichtsakte sowie die Akten der Beklagten und die Akten des Versorgungsamts Berlin haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist in dem von der Klägerin zuletzt noch geltend gemachten Umfang begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte ab 1. Februar 1998 einen Anspruch auf Rente wegen EU auf Dauer.

Der erhobene Anspruch bestimmt sich noch nach § 44 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung (im Folgenden ohne Zusatz zitiert), weil die Klägerin ihren Rentenantrag im August 1996 gestellt hat und Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (auch) für Zeiträume vor dem 1. Januar 2001 geltend macht (§ 300 Abs. 2 SGB VI).

Die Vorschrift des § 44 SGB VI setzt zunächst die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit (§§ 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 SGB VI) sowie das Vorhandensein von drei Jahren mit Pflichtbeiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der EU voraus (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 2 und 3). Darüber hinaus muss EU vorliegen (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI).

Die Klägerin ist erwerbsunfähig und sie erfüllt auch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die begehrte Rente.

Erwerbsunfähig sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das monatlich 630,- DM bzw. den Gegenwert dieses Betrages in Euro übersteigt (§ 44 Abs. 2 Satz 1 1. Halbsatz SGB VI).

Diese Voraussetzungen liegen seit dem 30. Januar 1998 (Tag der Untersuchung durch Dr. T) bei der Klägerin vor. Es steht zur Überzeugung des Senats fest, dass das Leistungsvermögen der Klägerin jedenfalls ab diesem Zeitpunkt vollständig aufgehoben war und ist. Diese Überzeugung gründet sich auf die übereinstimmenden Feststellungen, die Dr. B, die Ärztin G und auch bereits Dr. F in ihren jeweiligen Gutachten getroffen haben. Dabei hat Dr. B ein aufgehobenes Leistungsvermögen der Klägerin bereits zu dem Zeitpunkt festgestellt, als die Klägerin durch Dr. T untersucht worden war.

Ebenso wie Dr. T haben Dr. B und die Ärztin G die Befunde umfassend erhoben, die Klägerin selbst untersucht und sich mit den in den Verwaltungs- und Gerichtsakten dokumentierten Vorbefunden und Bewertungen befasst. Ihre von Dr. T abweichende Leistungsbeurteilung haben Dr. B und die Ärztin G aber im Einzelnen nachvollziehbar und damit überzeugend begründet und dargelegt, aus welchen Gründen sie zu ihren Einschätzungen des Leistungsbildes der Klägerin gelangt sind und warum sie in der Folge von den Bewertungen des Sachverständigen Dr. T abgewichen sind.

Auch die Beklagte selbst geht im Übrigen aufgrund des Gutachtens der Ärztin G von einem auf unter zwei Stunden täglich reduzierten Leistungsvermögen der Klägerin aus (sozialmedizinische Stellungnahme der Ärztin für Psychiatrie/Verhaltenstherapie - Sozialmedizin - Dr. S-B vom 22. September 2002) und weicht damit von der Leistungsbeurteilung von Dr. T ab, aufgrund deren der Ärztliche Dienst der Beklagten zunächst noch auf einen Behandlungsfall geschlossen hatte.

Der Leistungsbeurteilung von Dr. B wird aber unter Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens vor allem deshalb gefolgt, weil Dr. B von seiner Untersuchung berichten konnte, dass die Klägerin anders, als es von den Vorgutachtern beschrieben worden war, keine Tendenz zur Aggravation mehr erkennen ließ. Für den Zeitpunkt seiner Untersuchung konnte er daraus unter Berücksichtigung des dokumentierten Krankheitsverlaufs nachvollziehbar schließen, dass die bei der Klägerin bestehende psychogene Polydipsie mit Pollakisurie bei Dranginkontinenz sich als das alles beherrschende Krankheitsbild und als langjährig chronifizierte und nicht mehr bewusst steuerbare neurotische Fehlentwicklung darstellt. Dass ein solcher durch Willensanstrengung nicht beeinflussbarer Trinkzwang mit anschließendem ebenfalls nicht willentlich steuerbarem Urinabgang wegen der damit permanent verbundenen Unterbrechungen des Arbeitsablaufs keine Arbeit von wirtschaftlichen Wert mehr zulässt, ist ohne weiteres einsichtig; bereits Dr. F hatte in seinem fachurologischen Gutachten entsprechende Schlussfolgerungen gezogen und in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 18. Januar 1999 nochmals nachdrücklich betont, dass ein vollschichtiger Arbeitseinsatz der Klägerin „aus urologischer Sicht völlig unmöglich zu sein scheine und an der Realität vorbeigehe“.

In seiner umfassenden Auseinandersetzung mit dem Vorgutachten von Dr. T hat Dr. B aber auch überzeugend herausgearbeitet, dass dieser Zustand nicht erst im Zeitpunkt der Untersuchung durch ihn vorlag, sondern bereits zu dem Zeitpunkt, in dem die Klägerin durch Dr. T untersucht worden war. Er hält dem Sachverständigen Dr. T mit Recht vor, dass dieser ohne jegliche argumentatorische Begründung von einer Fähigkeit der Klägerin ausgeht, die neurotische Fehlhaltung zu überwinden. Denn einerseits beschreibt Dr. T selbst das Leistungsvermögen der Klägerin als eingeschränkt und hält eine „hohe Anstrengung“ bzw. eine „erhebliche psychische Anstrengung“ für erforderlich, um die auch aus seiner Sicht bestehenden, weitgehend psychischen „Symptome“ (die er nicht näher bezeichnet) zu beseitigen. Andererseits aber attestiert er der Klägerin ohne weiteres ein vollschichtiges Leistungsvermögen und geht apodiktisch davon aus, dass die Klägerin ihre neurotische Fehlhaltung überwinden könne. Unabhängig davon, wie der Begriff der „zumutbaren Willensanstrengung“ im Einzelnen zu definieren ist (siehe dazu etwa Schneider/Hennigsen/Rüger, Sozialmedizinische Begutachtung in Psychosomatik und Psychotherapie, 2001, S. 40 f.), so setzt er doch in jedem Fall eine Prognose voraus, ob und in welchem Zeitraum die psychisch bedingte Leistungseinschränkung behoben werden kann. Hierzu verhält sich Dr. T indessen nicht, obwohl dazu nach seinen eigenen Äußerungen Anlass bestand. Denn er hat eine „hohe“ oder „erhebliche“ psychische Anstrengung als erforderlich angesehen, um die psychisch bedingten Einschränkungen der Leistungsfähigkeit zu überwinden oder „zumindest zu begrenzen“. Das lässt aber den von ihm gezogenen Schluss, die Klägerin sei (gleichwohl) vollschichtig leistungsfähig, nicht zu. Dies gilt um so mehr, als Dr. T zum einen die Frage verneint hat, ob begründete Aussicht bestehe, die jetzige Leistungsminderung ganz oder teilweise zu beheben, und zum anderen ausführt, dass die Klägerin zwar manche ihrer Beschwerden im Sinne einer Aggravation besonders betone, dass aber kein bewusstes Verhalten im Sinne einer Begehrensvorstellung vorliege. Beides spricht eher gegen die willentliche Beeinflussbarkeit des psychischen Leidens als dafür.

Überzeugend ist dagegen gerade vor diesem Hintergrund die von Dr. B vorgenommene Bewertung. Er stellt heraus, dass der Rückzug der Klägerin auf ihre Krankheiten nachweislich ab 1997/1998 ihre Familie und ihre Lebensstruktur zerstört hat und dass dieser gravierende Aspekt von Dr. T lediglich in einem Nebensatz angesprochen worden ist, obwohl er in der medizinischen Fachliteratur als bedeutender Parameter für die Einschätzung des beruflichen Leistungsvermögens beschrieben wird. Da bereits Dr. T bei seiner Exploration eine Zerrüttung der familiären Verhältnisse festgehalten hat, ist es folgerichtig, wenn Dr. B dann bereits für den Zeitpunkt der Untersuchung durch Dr. T ein aufgehobenes Leistungsvermögen feststellt. Indem er auf die fortgeschrittene Zerrüttung der Familie und der Lebensstruktur abstellt, begründet Dr. B schließlich auch überzeugend eine rentenrechtlich erhebliche Verschlechterung zu den Verhältnissen, welche Grundlage der im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten waren.

Die Ärztin G konnte die von dem Allgemeinmediziner Dr. B gefundenen Ergebnisse zusätzlich noch aus neurologisch-psychiatrischer und damit aus der einschlägigen fachärztlichen Sicht bestätigen. Auf dieser fachärztlichen Leistungsbeurteilung, nach der ein Restleistungsvermögen der Klägerin von höchstens zwei Stunden täglich mit einem zusätzlichen Pausenerfordernis und eine jedenfalls derzeit fehlende Wegefähigkeit der rentenrechtlichen Beurteilung zugrunde zu legen ist, beruht auch der von der Beklagten zur vergleichsweisen Beendigung des Rechtsstreits unterbreitete Vorschlag. Ob der Ärztin G auch in ihrer weitergehenderen Einschätzung zum Eintritt des aufgehobenen Leistungsvermögens zu folgen gewesen wäre, kann angesichts des von der Klägerin eingeschränkten Begehrens dahinstehen.

Substantiierte Einwendungen gegen die Feststellungen von Dr. B und der Ärztin G hat die Beklagte nicht vorgebracht. Ihre Kritik an dem Gutachten von Dr. B beschränkt sich im Wesentlichen darauf, dass ein Allgemeinmediziner psychiatrische Diagnosen gestellt und psychiatrische Krankheitsbilder bewertet habe. Grundsätzlich ist aber ein Allgemeinmediziner nicht an der Bewertung derartiger Krankheitsbilder gehindert. Im Besonderen lässt es die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) ohne weiteres zu, dass ein Arzt für Allgemeinmedizin die Positionen 800 und 801 (eingehende neurologische bzw. psychiatrische Untersuchung) abrechnet (siehe Brück u.a., Kommentar zur GOÄ, Abschnitt G Nr. 800 Rdnr. 4, Nr. 801 Rdnr. 1). Es gibt auch keinen Erfahrungssatz dergestalt, dass die Einschätzungen eines Allgemeinmediziners einen geringeren Aussagewert hätten als die eines Facharztes. Entscheidend ist in jedem Fall nur, dass die Feststellungen zum Leistungsvermögen widerspruchsfrei und mit überzeugender Begründung aus den medizinischen Befunden abgeleitet werden.

Die Kritik der Beklagten an dem Gutachten der Ärztin G beschränkt sich schließlich auf die Aussage, dass Dr. T geäußert habe, es liege ein „Behandlungsfall“ vor, und dass bei einer psychischen Störung mit progredientem Verlauf der Eintritt des Leistungsfalls nicht mit Genauigkeit zu ermitteln sei. Bereits Dr. B hat aber, wie ausgeführt, schlüssig und damit überzeugend herausgearbeitet, aus welchem Grund jedenfalls am Tag der Untersuchung durch Dr. T bereits Umstände vorlagen, welche die vollständige Aufhebung des Leistungsvermögens der Klägerin begründen.

Die Klägerin erfüllt auch die versicherungsrechtlichen Voraussetzung für die begehrte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Sie hat durch ihre beitragspflichtigen Beschäftigungen die allgemeine Wartezeit erfüllt (§ 44 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V. mit §§ 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 SGB VI). Das ergibt sich aus dem in dem Rentenbescheid vom 29. Mai 1995 enthaltenen Versicherungsverlauf. Dass sie in den letzten fünf Jahren vor dem Eintritt der Erwerbsunfähigkeit im Januar 1998 keine drei Jahre an Pflichtbeiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit vorzuweisen hat (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VI), schadet wegen der in § 241 Abs. 2 SGB VI getroffenen Regelungen nicht. Nach dem Satz 1 der Vorschrift sind Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit für Versicherte nicht erforderlich, die vor dem 1. Januar 1984 die allgemeine Wartezeit erfüllt haben, wenn jeder Kalendermonat vom 1. Januar 1984 bis zum Kalendermonat vor Eintritt der Erwerbsminderung mit einer der in § 240 Abs. 2 Satz 1 SGB VI genannten Anwartschaftserhaltungszeiten belegt ist. Die Klägerin hatte die allgemeine Wartzeit ausweislich ihres Versicherungsverlaufs im Rentenbescheid vom 29. Mai 1995 bereits vor dem 1. Januar 1984 erfüllt. Vom 1. Januar 1984 bis zum 30. September 1994 ist der Versicherungsverlauf durchgehend mit Pflichtbeiträgen und damit mit einer Anwartschaftserhaltungszeit belegt (§ 240 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI). Die Zeit vom 1. Oktober 1994 bis zum 31. März 1995 ist als Zurechnungszeit ebenso anwartschaftserhaltend wie die Zeit des Rentenbezugs vom 1. April 1995 bis 31. Oktober 1996 (§ 241 Abs. 2 Satz 1 i.V. mit §§ 240 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 5, 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB VI). Für die Zeit ab 1. November 1996 bis zum Eintritt der Erwerbsminderung kann dahingestellt bleiben, ob Anwartschaftserhaltungszeiten vorliegen, weil für alle Kalendermonate ab diesem Zeitpunkt noch die Entrichtung freiwilliger Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zulässig ist (§ 241 Abs. 2 Satz 2 i.V. mit §§ 7, 197, 198 SGB VI).

Die Rente war als Dauerrente zuzusprechen, weil keine begründete Aussicht besteht, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit in absehbarer Zeit behoben sein kann (§ 102 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI in der bis 31. Dezember 2000 geltenden Fassung). Zwar halten es sowohl Dr. B wie auch die Ärztin G für möglich, dass sich durch eine konsequente ambulante Behandlung, vorangehend unter Umständen eine stationäre psychosomatisch-psychiatrische Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation, ein vollschichtiges Leistungsvermögen wieder erreichen lässt. Eine begründete Aussicht im Sinne des Gesetzes besteht aber nicht schon im Falle der bloßen Möglichkeit einer Besserung, sondern erst dann, wenn aus medizinischer Sicht mehr Gründe dafür als dagegen sprechen, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit wieder behoben werden kann (BSG, SozR 2200 § 1276 Nrn. 6 und 7) Solch eine überwiegende Wahrscheinlichkeit ist indes weder von Dr. B noch von der Ärztin G beschrieben worden.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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