S 2 U 268/14

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 2 U 268/14
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 4 U 58/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Anerkennung und Entschädigung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 4111 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).

Der am 00.00.0000 geborene Kläger war von August 1953 bis Dezember 1956 in XXXXX als Busschaffner tätig. Vom 19.12.1956 bis 16.04.1960 war er als Neubergmann bis Lehr-hauer im XXX XXXXX XXXX in XXXX unter Tage beschäftigt. Vom 19.04.1960 bis 01.01.1967 war der Kläger in der Kokerei XXX XXXX als Mischerarbeiter und vom 02.01.1967 bis 24.11.1969 als Maschinist in der Kokerei tätig. Am 14.05.2014 beantragte der Kläger die Prüfung einer BK nach Nr. 4111 BKV. Die Be-klagte holte daraufhin eine Stellungnahme der BG XXX XXXXXXXXXXX XXXXXXXXXX ein. Diese führte am 00.00.0000 aus, eine grundsätzliche Gefährdung der BK 4111 sei für die Tätigkeit vom 19.12.1956 bis 16.04.1960 anzunehmen. Legte man die schlimmsten möglichen Bedingungen zu Grunde (worst-case), ergebe sich eine anzunehmende kumu-lierende Feinstaubbelastung von insgesamt maximal 46,6 mg-Feinstaubjahren (mg-FSJ). Da die Belastung deutlich unter 100 mg-FSJ liege, seien die beruflichen Voraussetzungen mit Sicherheit nicht gegeben. Auf die vorgenommene Berechnung wird vollumfänglich Be-zug genommen (Bl. 52 der BG-Akte). Mit Bescheid vom 00.00.0000 lehnte die Beklagte den Antrag ab und führte aus, die Ein-wirkungen, denen der Kläger während seiner Berufstätigkeit ausgesetzt gewesen sei, sei-en nicht geeignet, eine Berufskrankheit zu verursachen. Während der Tätigkeit im Stein-kohlenbergbau unter Tage sei der Kläger lediglich einer kumulativen Dosis von 46,6 FSJ ausgesetzt gewesen. Die (beigefügte) Stellungnahme des Geschäftsbereiches Prävention mit der Berechnung der FSJ sei Teil des Bescheides. Die kumulative Feinstaubdosis er-rechne sich aus der Feinstaubkonzentration in der Luft am Arbeitsplatz in Milligramm pro Kubikmeter (mg/m³) multipliziert mit der Anzahl der Expositionsjahre, bezogen auf 220 verfahrene Schichten zu je 8 Stunden. Dagegen legte der Kläger am 00.00.0000 Widerspruch ein, ohne diesen zu begründen. Mit Widerspruchsbescheid vom 00.00.0000 wies die Beklagte den Widerspruch unter Ver-tiefung des bisherigen Vortrags als unbegründet zurück. Ergänzend führte sie aus, die Feststellung der BK 4111 setze den Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 FSJ voraus, weil Bergleute erst dann durch ihre besondere berufliche Belastung in erheblich höherem Ausmaß als die übrige Bevölkerung an einer chronischen obstruktiven Bronchitis oder einem Lungenemphysem erkranken könnten.

Hiergegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage. Der Kläger führt aus, die Be-klagte habe lediglich die Staubbelastung unter Tage zugrunde gelegt und unberücksichtigt gelassen, dass die obstruktive Bronchitis mit Emphysem auch durch die Tätigkeit über Tage ursächlich begründet sei. Das Erreichen von 100 FSJ sei nach aktueller Rechtspre-chung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 15.09.2011, B 2 U 25/10 R) nicht mehr zwin-gende Voraussetzung für das Vorliegen der BK 4111.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 00.00.0000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 00.00.0000 zu verurteilen, dem Antrag auf Anerken-nung einer Berufskrankheit nach Nr. 4111 der Berufskrankheiten-Liste stattzugeben und ihm eine entsprechende Rente zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich, die Klage abzuweisen.

Sie hält an ihrer bisherigen Auffassung fest. Mit Verfügung vom 15.04.2015 hat das Gericht die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechsel-ten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht kann über die Klage ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächli-cher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und den Beteiligten Gelegenheit zur Stel-lungnahme gegeben wurde, § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gegenstand der Klage ist allein die Frage der Anerkennung einer BK Nr. 4111 BKV und deren Entschädigung. Denn nur darüber hat die Beklagte in den angefochtenen Beschei-den tatsächlich entschieden.

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Er hat keinen Anspruch auf Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 4111 der Anlage 1 zur BKV und Entschädigung hierfür.

Bei dem Kläger liegt eine Berufskrankheit im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) i.V.m. Nr. 4111 der Anlage 1 zur BKV nicht vor. Für die Entschädigung von Folgen einer Erkrankung als BK nach Nr. 4111 der Anlage zur BKV müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein: Es muss eine chronisch obstruktive Bronchitis oder ein Emphysem vorliegen. Der Versicherte muss als Bergmann unter Tage im Steinkohlenbergbau bei versicherter Tätigkeit der Einwirkung einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 FSJ ausgesetzt gewesen sein. Weitere Voraussetzung ist, dass die Krankheit mit Wahrscheinlichkeit durch die Einwir-kung der kumulativen Dosis von in der Regel 100 FSJ bei - versicherter - Tätigkeit als Bergmann unter Tage zumindest wesentlich mitbedingt gewesen ist. Versicherte Tätigkeit, schädigende Einwirkung und Erkrankung müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender, vernünftige Zweifel ausschließender Wahrscheinlichkeit nachge-wiesen sein. Außerdem müssen die genannten Anspruchsvoraussetzungen ursächlich miteinander verknüpft sein; insbesondere muss zwischen versicherter Tätigkeit und schä-digenden Einwirkungen einerseits und zwischen schädigenden Einwirkungen und der Er-krankung andererseits ein ursächlicher Zusammenhang nach der im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung bestehen, wobei für die Bejahung eines solchen Zusammenhangs die hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), vgl. etwa BSG, Urteil v. 02.02.1978, 8 RU 66/77 und Urteil v. 30.04.1985, 2 RU 24/84, jeweils juris).

Im vorliegenden Fall fehlt es am Nachweis der sogenannten arbeitstechnischen Voraus-setzungen. Die sich aus der Legaldefinition der BK Nr. 4111 ergebende arbeitsbedingte Belastungs-größe 100 FSJ errechnet sich aus den jeweiligen Feinstaubkonzentrationen in der Luft am Arbeitsplatz in mg/m³ multipliziert mit der Anzahl der Jahre, die der Versicherte unter den üblichen Arbeitsbedingungen unter Tage verbracht hat. Dabei berücksichtigt sind nicht nur die Staubkonzentrationen im Untertagebetrieb von Steinkohlenbergwerken, sondern auch das Zusammenwirken von besonderen klimatischen Bedingungen mit Exposition gegen-über Hitze, Gasen und Dämpfen, gemeinsam mit schwerer körperlicher Belastung (Mehr-tens/Brandenburg, BKV Stand Juni 2015, M 4111 Rn. 2). Die Grenze einer kumulativen Dosis von 100 FSJ ist mit der durch die Beklagte errechne-ten Belastung von 46,6 mg-FSJ sehr deutlich unterschritten. Der Geschäftsbereich Prä-vention der Beklagten hat – bei Unterstellung ungünstiger Staubverhältnisse – lediglich 46,6 mg-FSJ (Stellungnahme vom 18.07.2014) ermittelt. Dabei hat dieser eine worst-case Berechnung vorgenommen: Staubkonzentration von 16,5 mg/m³ vor Ort bzw. 13,2 mg/m³ bezogen auf die 8 Stundenschicht als Mittelwert entsprechend dem 80%-Percentil der Staubmessung aus dem Abbaubereich von 56-64; 260 Schichten für das Jahr 1956, 240 Schichten für die Jahre 1957 und 1958, 220 Schichten für die Jahre 1959 und 1960. Dar-aus ergab sich entsprechend dem durchschnittlichen Zahlenverfahren Schichten im Ruhr-bergbau die anzunehmende kumulierte Feinstaubbelastung wie folgt:

1956 260 Schichten 0,5/12 13,2 mg/m³ 0,7 mg-FSJ 1957 240 Schichten 1 13,2 mg/m³ 14,4 mg-FSJ 1958 240 Schichten 1 13,2 mg/m³ 14,4 mg-FSJ 1959 220 Schichten 1 13,2 mg/m³ 13,2 mg-FSJ 1960 220 Schichten 0,3/12 13,2 mg/m³ 3,9 mg-FSJ

46,6 mg-FSJ

Die vorgenommene Berechnung überzeugt die Kammer, so dass sie sich dieser vollum-fänglich anschließt. Insbesondere hat der Kläger keine Gründe vorgetragen, die gegen die Richtigkeit dieser Berechnung sprechen könnten.

Soweit der Kläger vorträgt, es könne auch nach unten von der Dosis von 100 FSJ abgewi-chen werden, trifft dies zu. Allerdings ergibt sich dies entgegen dem Vorbringen des Klä-gers nicht erst aus dem Urteil des BSG vom 15.09.2011, sondern bereits aus der Definiti-on der BK Nr. 4111 BKV selbst. Die darin getroffene Formulierung "in der Regel" lässt als Ausnahmen auch niedrigere Belastungswerte genügen. Grund für die gewählte Formulie-rung ist insbesondere, dass aus epidemiologischen Studien grundsätzlich nur "Schätzgrö-ßen" mit einem Unsicherheitsbereich innerhalb eines Konfidenzintervalls berechnet werden können und aus den zu Grunde gelegten Studien ein punktueller Expositionswert für eine Risikoverdopplung nicht präzise abgeleitet werden kann. Deshalb täuscht ein absoluter Grenzwert eine wissenschaftlich nicht begründbare Sicherheit vor (vgl. Mehr-tens/Brandenburg, BKV Stand Juni 2015, M 4111 Rn. 2.1). Für die Ermittlung der stattge-habten Einwirkungen ist daher nach Rechtsprechung des BSG (Urteil v. 15.09.2011, B 2 U 25/10 R, juris) jeweils ein realitätsgerechter Maßstab zugrunde zu legen, weil die Einwir-kungen im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen müssen. Das Gericht hat bei seinen Schätzungen deshalb eine möglichst an den tatsächlichen Verhältnissen angelehnte Berechnung vorzunehmen. Allerdings kann im Einzelfall eine sogenannte worst-case-Schätzung der Einwirkungen ausreichen, wenn mit ihr eine Einwirkungsdosis errechnet wird, die auf keinen Fall geeignet ist, die BK zu verur-sachen (BSG, Urteil v. 15.09.2011 a.a.O.). Ein solcher irrelevanter Wert liegt nach Auffas-sung der Kammer bei den geschätzten 46,6 FSJ, der nicht einmal die Hälfte der für den Regelfall vorgegebenen Einwirkungsdosis von 100 FSJ ausmacht, vor. Aus diesem Grun-de sah die Kammer sich nicht gehalten, weitere Ermittlungen zum Vorliegen der arbeits-technischen Voraussetzungen einzuleiten.

Entgegen den Ausführungen des Klägers hat die Beklagte auch zutreffend allein die Tätig-keiten des Klägers im Steinkohlenbergbau unter Tage berücksichtigt und nicht auch weite-re Tätigkeiten als Mischerarbeiter oder in der Kokerei. Denn bereits aus der Legaldefinition der BKV Nr. 4111 ergibt sich eindeutig, dass nur eine chronische obstruktive Bronchitis oder ein Emphysem von Bergleuten unter Tage im Steinkohlebergbau erfasst sind. Nur für die Angehörigen dieser Berufsgruppe ist erwiesen, dass sie nach einer kumulativen Feinstaubexposition von 100 FSJ in erheblich höherem Maße gefährdet sind, an einer chronischen obstruktiven Bronchitis oder an einem Lungenemphysem zu erkranken (vgl. Merkblatt für die ärztliche Untersuchung des BMA v. 01.12.1997, BArbBl. 1997 H. 12 S. 35). Damit ist auch nur die Tätigkeit unter Tage als versicherte Tätigkeit erfasst. Etwas anderes ergibt sich entgegen dem Vortrag des Klägers auch nicht aus der Entscheidung des BSG vom 15.09.2011.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 105 Abs. 1 Satz 3, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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