S 5 R 737/16 ER

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
SG Magdeburg (SAN)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 5 R 737/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 29. Februar 2016 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 7. Juni 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Juli 2016 wird angeordnet.

Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Antragstellers zu 4/5.

Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung unter Beiordnung von Frau Rechtsanwältin ... bewilligt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller wendet sich im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Verrechnung seiner Regelaltersrente mit einer Beitragsforderung der Berufsgenossenschaft für Transport und Verkehrswirtschaft (BG).

Der am ... 1945 geborene Antragsteller bezieht seit dem 1. August 2013 eine Altersrente iHv zuletzt 688,82 EUR netto. Er bewohnt eine Mietwohnung mit einer Wohnfläche von ca. 67 m² und einer Warmmiete iHv 461,60 EUR monatlich.

Die Antragsgegnerin hörte mit Schreiben vom 16. November 2015 zu einer beabsichtigen Verrechnung an, nachdem die BG ein Verrechnungsbegehren zu einer Forderung von 4.531,12 EUR (mit Fälligkeit zum 15. November 1991) konkretisiert hatte. Der Antragsteller führte aus, dass er hilfebedürftig im Sinne des SGB XII sei, da er seinen Bedarf iHv 865,60 EUR mit dem Einkommen aus seiner Rente iHv 690,36 EUR und dem Einkommen aus der Nebenbeschäftigung iHv 221,00 EUR nach Bereinigung um 78,70 EUR nicht decken könne. Er ginge einer Nebenbeschäftigung nach, um gerade nicht Leistungen vom Träger der Grundsicherungsleistungen zu beziehen. Zudem entstünden ihm wegen der gesundheitlich bedingten Notwendigkeit, eine Schlafmaske zu tragen, erhöhte Stromkosten (110,00 EUR monatlich). Der Einkommensüberhang, zu dem das Sozialamt in seiner Berechnung gelangt sei, berücksichtige geringere Aufwendungen für die Kosten von Unterkunft und Heizung. Es sei nicht ersichtlich, wie das Sozialamt hier einen Betrag von 325,17 EUR (anstatt von 461,60 EUR) ermittelt habe. Die tatsächlichen Kosten seien wenigstens 6 Monate zu berücksichtigen, wenn ein Umzug zumutbar wäre. Die Zumutbarkeit sei jedoch wegen des Alters des Antragstellers und der fehlenden finanziellen Mittel für einen Umzug nicht gegeben.

Mit Bescheid vom 29. Februar 2016 verrechnete die Antragsgegnerin die Forderung der BG ab dem 1. Mai 2016 mit der Altersrente iHv 110,69 EUR monatlich. Eine Hilfebedürftigkeit trete bei der Verrechnung angesichts der Bedarfsbescheinigung nicht ein. Ab Mai 2016 gelangten mithin 578,13 EUR an den Antragsteller zur Auszahlung. Hiergegen wandte sich der Antragsteller unter Bezugnahme auf den bisherigen Schriftverkehr am 29. März 2016 mit Widerspruch.

Der Antragsteller hat am 3. Juni 2016 beim Sozialgericht Magdeburg um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Er sei bereits ohne Verrechnung hilfebedürftig und hätte grundsätzlich einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII. Es errechne sich ein Bedarf iHv 39,68 EUR monatlich. Er übe eine geringfügige Beschäftigung aus. Die Berechnung der Unterkunftskosten durch die Landeshauptstadt M. sei nicht nachvollziehbar. Die Antragsgegnerin habe nicht ausreichend beachtet, dass es sich um eine Ermessensentscheidung handele und das Ermessen sogar auf Null reduziert sei. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs sei zu beachten. Nur hilfsweise sei auszuführen, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides bestünden. Zudem führe die Vollziehung für ihn zu einer unbilligen Härte.

Er beantragt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 24. März 2016 gegen den Bescheid vom 29. Februar 2016 festzustellen und die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Antragsteller die monatliche Rente aus dem Bescheid vom 31. März 2016 in Höhe von 688,82 EUR ohne Verrechnung bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache auszuzahlen, hilfsweise, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 24. März 2016 gegen den Bescheid vom 29. Februar 2016 anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzuweisen.

Sie weist darauf hin, dass sie von der BG ermächtigt worden sei, die Forderung zu verrechnen und dass sich aus der Bescheinigung der Landeshauptstadt ... ein übersteigendes Einkommen iHv 110,69 EUR monatlich ergäbe. Die Prüfung des Vorliegens der Sozialhilfebedürftigkeit erfolge durch das Sozialamt nach den Vorschriften des SGB XII. Eine Änderung der zu berücksichtigenden Miethöhe könne die Antragsgegnerin daher nicht vornehmen. Der Antragsteller erhalte tatsächlich eine Rente iHv 688,82 EUR anstelle von 690,36 EUR, so dass der zu verrechnende Betrag zu korrigieren sei.

Mit Bescheid vom 7. Juni 2016 hat die Antragsgegnerin den Betrag der Verrechnung auf 99,15 EUR monatlich reduziert.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14. Juli 2016 hat die Antragsgegnerin den Widerspruch im Übrigen zurückgewiesen. In Ausübung ihres Ermessens seien die Interessen des Betroffenen und der Allgemeinheit abzuwägen. Hier werde keine Möglichkeit gesehen, auf die Verrechnung zu verzichten. Der Antragsteller hat unter dem Aktenzeichen S 5 R 1017/16 beim Sozialgericht Magdeburg Klage erhoben.

Das Gericht hat die Landeshauptstadt ..., Sozial- und Wohnungsamt, um ergänzende Stellungnahme gebeten. Auf die Blätter 94/95 der Gerichtsakte wird Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin und die Gerichtsakte ergänzend verwiesen.

II.

Der zulässige Hilfsantrag ist begründet. Im Übrigen war der Antrag jedoch abzulehnen.

Einschlägig kann vorliegend nur der Hilfsantrag des Antragstellers zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch bzw. (in Auslegung seines Begehrens) seiner Klage sein. Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, diese ganz oder teilweise anordnen. § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG sieht den Wegfall der aufschiebenden Wirkung bei Entscheidungen über Beitragspflichten sowie der Anforderung von Beiträgen vor. Darunter fallen alle Verwaltungsakte, die zur Realisierung eines behördlichen Anspruches auf Beitreibung öffentlicher Abgaben ergehen (vgl. Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Auflage, Seite 171; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. § 86a Rn. 13; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. Oktober 2007 - L 8 B 1205/07 R ER). Widerspruch und Klage gegen den Verrechnungsbescheid der Antragsgegnerin haben somit keine aufschiebende Wirkung (vgl. auch LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24. Juli 2006 - L 3 B 11/06 R ER).

Ob die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anzuordnen ist oder nicht, entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen auf der Grundlage einer Abwägung, bei der das private Interesse des Bescheidadressaten an der Aufschiebung der Vollziehung gegen das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes abzuwägen ist. Dabei gilt der Grundsatz, dass, je größer die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens sind, umso geringer die Anforderungen an das Aussetzungsinteresse des Antragstellers zu stellen sind (vgl. hierzu: Keller in Meyer-Ladewig/Leitherer, SGG, 11. Aufl., 2014, § 86b Rn. 12e ff). Denn an der Vollziehung eines offenbar rechtswidrigen Verwaltungsaktes besteht kein öffentliches Interesse. Andererseits ist die aufschiebende Wirkung bei einer aussichtslosen Klage nicht anzuordnen. Abzuwägen sind bei offenem Ausgang die Folgen, die eintreten würden, wenn die Eilentscheidung zugunsten des Antragstellers nicht erginge, die Klage aber später Erfolg hätte, mit denen die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erginge, die Klage aber erfolglos bliebe.

Der angegriffene Bescheid ist überwiegend wahrscheinlich rechtswidrig. Auch überwiegt unter Berücksichtigung dieser Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides das Interesse des Antragstellers am Aufschub der Vollziehung das Interesse der Allgemeinheit an der Zahlung der Beiträge, weil sich die Verrechnung im Bereich des geschützten soziokulturellen Existenzminimums bewegt. Die Folgen des Unterschreitens dieser Grenzen sind insbesondere nicht durch Nachholung (iS eines Erfolgs im Klageverfahren) auszugleichen.

Die Verrechnung durfte wohl nicht erfolgen. Nach § 52 Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Erstes Buch - Allgemeine Vorschriften (SGB I) kann der für eine Geldleistung zuständige Leistungsträger mit Ermächtigung eines anderen Leistungsträgers dessen Ansprüche gegen den Berechtigten mit der ihm obliegenden Geldleistung verrechnen, soweit nach § 51 Abs. 1 SGB I die Aufrechnung zulässig ist. Nach § 51 Abs. 1 SGB I kann der zuständige Leistungsträger gegen Ansprüche auf Geldleistungen mit Ansprüchen gegen den Berechtigten aufrechnen, soweit die Ansprüche auf Geldleistungen nach § 54 Abs. 2 und 4 SGB I pfändbar sind. Mit - wie vorliegend - Beitragsansprüchen kann der zuständige Leistungsträger gegen Ansprüche auf laufende Geldleistungen bis zu deren Hälfte aufrechnen, wenn der Leistungsberechtigte nicht nachweist, dass er dadurch hilfebedürftig im Sinne der Vorschriften des Zwölften Buches über die Hilfe zum Lebensunterhalt oder der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch wird (§ 51 Abs. 2 SGB I).

Hier hat die BG die Antragsgegnerin als für die Zahlung der Altersrente zuständigen Leistungsträger ermächtigt, ihre Ansprüche gegen den Antragsteller auf Zahlung rückständiger Beiträge der Unternehmerpflichtversicherung für die Mitgliedschaft vom 29. Mai 1986 bis 28. Februar 1990 zu verrechnen. Sie hat ihre Forderung wohl hinreichend bestimmt bezeichnet. Die Antragsgegnerin hat die Verrechnung verfahrensrechtlich einwandfrei nach Anhörung durch Verwaltungsakt verfügt (vgl. BSG, Urteil vom 31. Oktober 2012 - B 13 R 13/12 R).

Eine Verrechnungslage dürfte ebenfalls gegeben sein. Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Antragsteller gemäß § 51 Abs. 2 SGB I nachgewiesen hat, im Verrechnungsfall hilfebedürftig nach Maßgabe des Sozialgesetzbuchs - Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII) zu werden.

Der Nachweis von Hilfebedürftigkeit kann etwa durch Vorlage eines (sozialhilferechtlichen) Leistungsbescheids oder in der Regel ohne großen Aufwand durch eine Bedarfsbescheinigung des örtlich zuständigen Sozialhilfe- bzw. Grundsicherungsträgers geführt werden. Der Nachweis kann jedoch auch auf andere Weise erbracht werden. Die in § 51 Abs. 2 SGB I festgelegte (Nachweis-)Obliegenheit des Leistungsberechtigten beseitigt den Amtsermittlungsgrundsatz nicht, weshalb das Gericht ermitteln muss, ob infolge der Verrechnung Hilfebedürftigkeit eintritt (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Oktober 2015 - L 5 R 4256/13). Hierzu kann im Rahmen des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes auf die vom Antragsteller vorgelegten Unterlagen - auch auf die Angaben und Belege im PKH-Verfahren - zurückgegriffen werden, nachdem der Antragsteller sich hierauf bezogen hat. Die Hilfebedürftigkeit ist hinreichend glaubhaft gemacht.

Der Bedarf bestimmt sich nach § 42 SGB XII. Der Regelbedarf des Antragstellers ist mit 404,00 EUR (nach der Anlage zu § 28 SGB XII) zu berechnen. Zunächst sind die Kosten von Unterkunft und Heizung auch nach den Regelungen des SGB XII in voller Höhe zu berücksichtigen (461,60 EUR). Hierzu hat der Antragsteller eine Kopie des Mietvertrages und der Mietbescheinigung vorgelegt. Ob nach einer möglichen Kostensenkungsaufforderung eine Reduzierung auf angemessene Kosten beachtlich wäre, kann offen bleiben. Voraussetzung für eine solche Reduzierung bei der Berechnung der Leistungen bzw. des Hilfebedarfs wäre die Schlüssigkeit des Konzepts des Sozialhilfeträgers für angemessene Kosten von Unterkunft und Heizung. Der Antragsteller ist aber schon mangels eines Antrags auf Leistungen nach dem SGB XII durch den Sozialhilfeträger nicht auf eine Unangemessenheit hingewiesen und zur Senkung der Kosten aufgefordert worden. Ein Zeitraum von in der Regel längstens 6 Monaten gemäß §§ 35 Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGB XII kann daher nicht abgelaufen sein.

Auf den Bedarf iHv 865,60 EUR monatlich ist das Einkommen des Antragstellers gemäß § 43 Abs. 1 iVm § 82 Abs. 2 und 3 SGB XII, bestehend aus 718,07 EUR netto (bzw. 688,82 EUR netto bis 30. Juni 2016) Altersrente und 221,00 EUR brutto = netto Arbeitsentgelt nach Bereinigung um 66,30 EUR und 5,20 EUR (mithin 867,57 EUR) anzurechnen. Hinsichtlich eines verbleibenden einzusetzenden Einkommens iHv weniger als 2,00 EUR monatlich kann dahinstehen, ob die belegten Versicherungen angemessen iSv § 82 Abs. 2 Nr. 3 SGB XII sind. Jedenfalls fallen Fahrtkosten an wenigstens 4 Arbeitstagen monatlich (lt. Lohnzettel 26 Stunden) an, die nach § 82 Abs. 2 Nr. 4 SGB XII iVm DVO zu berücksichtigen sind. Die Kosten für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel liegen über dem Differenzbetrag.

Nach den Angaben in der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse verfügt der Antragsteller nicht über Vermögen.

Bei einer Verrechnung wäre der Kläger hilfebedürftig iS des SGB XII.

Selbst wenn die Antragsgegnerin sich an die Prüfung durch den Sozialhilfeträger gebunden fühlt, darf - lediglich ergänzend - angemerkt werden, dass sie die vorgetragenen Umstände zur höheren Miete im Rahmen der Ermessensausübung hätte berücksichtigen müssen, anstatt pauschal auszuführen:

"Gesichtspunkte, die für eine Entscheidung zu Ihren Gunsten sprechen, ergeben sich nicht."

Vorliegend darf von einem Ermessensnichtgebrauch ausgegangen werden. Zwar sind Ausführungen hierzu im Widerspruchsbescheid vorhanden. Diese betreffen jedoch nur die Interessen der Allgemeinheit und zeigen keinen konkreten Bezug zum Einzelfall.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entsprechend anzuwenden ist. Hier ist das Unterliegen mit dem Hauptantrag anteilig zu berücksichtigen, kann aber angesichts des Begehrens nicht erheblich ins Gewicht fallen.

III.

Der Antragsteller hat Anspruch auf die beantragte Prozesskostenhilfe gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm §§ 114 ff. Zivilprozessordnung (ZPO). Er kann nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung weist nach obigen Ausführungen eine hinreichende Erfolgsaussicht auf und ist auch nicht mutwillig. Die Beiordnung ist geboten.
Rechtskraft
Aus
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