S 49 AS 305/16

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Potsdam (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
49
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 49 AS 305/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 29 AS 1644/17
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Beschränkung der Aufrechnung eines Mietkautionsdarlehens auf insgesamt drei Jahre in verfassungskonformer Auslegung des § 42a SGB II, anlehnend an § 43 Abs. 4 S. 2 SGB II.
1. Der Bescheid vom 23. September 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Januar 2016 wird abgeändert und Ziffer 2 des Tenors des Bescheides wie folgt gefasst: Der Rückzahlungsanspruch wird ab dem 01. Oktober 2015 bis zum 30. September 2018 durch monatliche Aufrechnung des Regelbedarfs in Höhe von 39,90 EUR getilgt, insgesamt in Höhe von 1.436,40EUR. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Beklagte hat dem Kläger 40 von Hundert seiner notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit der Aufrechnung eines Mietkautionsdarlehens über insgesamt vier Jahre und zehn Monate.

Mit Bescheid vom 31. August 2015 erhielt der Kläger die Zusicherung zu einem Umzug aufgrund der Trennung von seiner zwischenzeitlich geschiedenen Ehefrau mit Einzug der gemeinsamen fünf Kinder auf der Grundlage des sogenannten Wechselmodells.

Laut Mietvertrag vom 04. September 2015 betrug die monatliche Grundmiete für das ab 1. Oktober 2015 beginnende Mietverhältnis 764 Euro, die Vorauszahlungen auf die kalten Betriebskosten 134 Euro und auf die Heizkosten 124 Euro, insgesamt 1.022,00 Euro. Als Kaution war gemäß § 12 des Mietvertrages bei Abschluss des Vertrages eine Mietsicherheit in Höhe von 2.292,00 Euro fällig.

Am 8. September 2015 beantragte der Kläger die Übernahme der Mietkaution als Darlehen für die angemietete Wohnung. Der Beklagte übernahm mit Bescheid vom 23. September 2015 die Mietkaution in voller Höhe als Darlehen. Gleichzeitig entschied er unter Ziffer 2.: "Der Rückzahlungsanspruch wird ab dem 01.10.2015 bis zum 30.06.2020 durch monatliche Aufrechnung in Höhe von 39,90 Euro und vom 01.07.2020 bis 31.07.2020 in Höhe von 17,70 Euro getilgt." Zur Begründung führte der Beklagte aus, die Voraussetzungen für die darlehensweise Übernahme der Kaution als Darlehen gem. § 22 Abs. 6 S. 1 2. Halbsatz SGB II lägen vor, weil der Kläger den Bedarf weder durch ungeschütztes noch durch geschütztes Vermögen oder auf sonstige Weise decken könne. Zu Ziffer 2) des Bescheides führte er aus, Rückzahlungsansprüche aus dem Darlehen seien ab dem Monat, der auf die Auszahlung folgt, durch monatliche Aufrechnung in Höhe von 10 von Hundert des maßgeblichen Regelbedarfs getilgt, wobei der monatliche Regelbedarf 399 Euro betrage. Im Übrigen sei der Rückzahlungsanspruch aus dem Darlehen sofort in Höhe des noch nicht getilgten Betrages bei Rückzahlung durch den Vermieter bzw. bei Beendigung des Leistungsbezugs fällig.

Den Widerspruch des Klägers gegen die Tilgungsbestimmung im Bescheid vom 23. September 2015 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20. Januar 2016 als unbegründet zurück. Dabei führte er unter anderem aus, es sei kein atypischer Fall darin zu entdecken, dass die auf § 42 a Abs. 2 SGB II basierende Kürzung des Regelbedarfs über einen längeren Zeitraum erfolge, da die Aufrechnung nach § 42 a Abs. 2 SGB II zwingende gesetzlich vorgeschriebene Rechtsfolge der Darlehensgewährung nach § 22 Abs. 6 S. 3 SGB II sei. Auch ein nicht nur vorübergehender Zeitraum begründe keinen atypischen Fall. § 42 a SGB II sei auch keine Ermessensnorm, so dass von der Aufrechnung nicht abgesehen werden könne. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 42 a SGB II bestünden nicht.

Der Kläger hat hiergegen am 18. Februar 2016 Klage vor dem Sozialgericht Potsdam erhoben. Er ist der Ansicht, das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 klargestellt, dass eine dauerhafte Kürzung des Existenzminimums, wie sie hier mit den Mietkautionsleistungen verbunden sei, nicht erfolgen solle und verfassungswidrig sei. Er ist der Ansicht, die Höhe des Aufrechnungsbetrages sei in keiner Weise gesetzlich berechnet oder auch nur in Bedarfspositionen festgelegt, sondern rein willkürlich bestimmt. Die pauschale prozentuale Kürzung ignoriere den tatsächlichen Bedarf. Für die Gewährung einer Mietkaution sei ein Betrag nicht im Rahmen der Berechnung des Regelsatzes enthalten. Er ist weiterhin der Ansicht, eine fast fünf Jahre bestehende Aufrechnung käme einer dauerhaften Kürzung unter das Existenzminimum gleich und hält die Regelung des § 42 a SGB II für verfassungswidrig. Vergleichbar würde bei gleichem Sachverhalt für Leistungsempfänger nach dem SGB XII die Tilgung eines Darlehens nur 5 von Hundert des Regelbedarfs betragen, § 37 Abs. 4 SGB XII.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 23. September 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Januar 2016 hinsichtlich des Verfügungssatzes über den Rückzahlungsanspruch zu 2. aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er wiederholt den Vortrag aus den angegriffenen Bescheiden. Das beim Bundessozialgericht anhängige Verfahren zur Thematik sei vor dem Termin für erledigt erklärt worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, insbesondere der Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 14. Juni 2017 sowie der beigezogenen Verwaltungsakten, 5 Bände zu BG-Nr. Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage hat im ausgeurteiltem Umfang Erfolg, im Übrigen war sie abzuweisen. Angegriffen ist nicht die Übernahme der Mietkaution als Darlehen als solche, sondern einzig die Tilgungsbestimmung unter Ziffer 2 des Bescheides vom 23. September 2015.

Eine Beschränkung der Klage auf diesen Teil ist auch zulässig. Denn die schriftliche Aufrechnungsbestimmung gegenüber dem Darlehensnehmer stellt einen selbständig angreifbaren Verwaltungsakt dar, vgl. Wortlaut § 42 a Abs. 2 S. 2 SGB II. Ziffer 2 des Bescheides vom 23. September 2015 regelt die Rückzahlungsmodalitäten aus der Darlehensbewilligung unter Ziffer 1). Diese sind trennbar und könnten auch mit gesondertem Bescheid geregelt werden.

Hinsichtlich der Aufrechnung von Darlehen besteht die Sondervorschrift des § 42 a SGB II. Danach werden gemäß § 42 a Abs. 2 S. 1 SGB II Rückzahlungsansprüche aus Darlehen ab dem Monat, der auf die Auszahlung folgt, durch monatliche Aufrechnung in Höhe von 10 Prozent des maßgeblichen Regelbedarfs getilgt. Für Aufrechnungen im Rahmen von § 43 SGB II bei Erstattungsansprüchen und Ersatzansprüchen gilt eine prozentuale Spanne von 10 bis maximal 30 Prozent des Regelbedarfs als aufrechenbarer Betrag. Während eine Höchstanzahl der Monate der Aufrechnung im § 42 a SGB II zur Tilgung eines Darlehens nicht vorgegeben ist, endet gem. § 43 Abs. 4 S. 2 SGB II die Aufrechnung in den Fällen des § 43 SGB II spätestens drei Jahre nach dem Monat, der auf die Bestandskraft der in Absatz 1 genannten Entscheidungen folgt.

Durch die Aufrechnung nach § 42a SGB II ist das verfassungsrechtliche Existenzminimum nach Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) betroffen, so dass auch nach Schaffung der gesetzlichen Grundlage für die Aufrechnung der in dem vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 09. Februar 2010 (Az.: 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09) betonte Grundsatz zu beachten ist, dass die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein muss (Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 02. Januar 2014 – L 9 AS 1089/13 B –, Rn. 10, juris). Daher ist im Einzelfall sicherzustellen, dass durch eine Aufrechnung nicht über einen längeren Zeitraum eine verfassungsrechtlich nicht hinnehmbare Bedarfsunterdeckung erfolgt, etwa weil außer Grundsicherungsleistungen kein weiteres einsetzbares Einkommen vorhanden ist. Dies gilt umso mehr, als es sich bei einem Mietkautionsdarlehen nicht um einen aus der Regelleistung anzusparenden Bedarf handelt (vgl. Thüringer Landessozialgericht, ebd.).

Wann die monatliche Kürzung nicht mehr nur vorübergehender Natur ist, ist in der Rechtsprechung umstritten und bislang nicht höchstrichterlich entschieden. Das LSG Berlin-Brandenburg hat in seinem Beschluss vom 17. Februar 2016, AZ: L 32 AS 516/15 B PKH, bei einem Zeitraum von 21 Monaten bereits verfassungsrechtliche Bedenken geäußert. Demgegenüber hatte zuvor der 20. Senat in seinem Urteil vom 12. März 2015, AZ: L 20 AS 261/13, keine verfassungsrechtliche Bedenken in einem Fall von 35 Monaten der Aufrechnung. Er führt dazu aus, dass bei Anwendung der Aufrechnungsregelung noch ausreichend laufende Mittel verbleiben, die es ermöglichen, den Bedarf für den laufenden Lebensunterhalt zu decken. Die Regelung des § 24 Abs. 1 SGB II stelle dabei sicher, dass unabweisbare Bedarfe, für die keine Ansparungen z.B. aus zeitlichen Gründen vorgenommen werden konnten oder weil weitere Mittel für Ansparungen nicht zur Verfügung standen, im Einzelfall über Sachleistungen oder Geldleistungen in Form von Darlehen zu decken sind. Das LSG Nordrhein-Westfalen hält im Beschluss vom 27. März 2014, AZ: L 19 AS 332/14 B, eine verfassungskonforme Auslegung des § 42 a SGB II im Hinblick auf die zeitliche Dauer einer Aufrechnung zur Darlehenstilgung dann für geboten, wenn der Tilgungsvorgang länger als der in § 43 Abs. 4 S. 2 SGB II vorgesehene Aufrechnungszeitraum von drei Jahren dauert (alle Entscheidungen zitiert aus www.juris.de).

Die Kammer schließt sich der Auffassung an, dass jedenfalls bei einem Zeitraum ab mehr als drei Jahren entsprechend der Regelung des § 43 Abs. 4 S. 2 SGB II eine Kappungsgrenze durch verfassungskonforme Auslegung gesetzt wird. Dabei hält die Kammer eine Aufrechnung für bis zu drei Jahre noch für verfassungsgemäß. Ausgehend von üblichen Mietkautionshöhen des Dreifachen der Nettokaltmiete dürfte es in der Regel bei Bedarfsgemeinschaften von 2 bis 4 Personen im Zuständigkeitsbereich des Beklagten um Beträge handeln, die innerhalb von drei Jahren mit der Aufrechnung getilgt sein dürften. Sie entsprechen dem im Tenor genannten Betrag von 1.436,40 Euro. Hier erfolgt die Aufrechnung über weitere 22 Monate, insgesamt 58 Monate, was in jedem Fall auf verfassungsrechtliche Bedenken stößt.

Die Kammer hat bei der Entscheidung auch beachtet, dass der Differenzbetrag dem Beklagten nicht verloren geht. Das Abwarten ist nach Überzeugung der Kammer dem Beklagten zuzumuten. Der Rückzahlungsanspruch aus dem Darlehen wird sofort in Höhe des noch nicht getilgten Betrages bei Rückzahlung durch den Vermieter bzw. bei Beendigung des Leistungsbezugs fällig, vgl. § 22 Abs. 3 S. 1, Abs. 4 S. 1 SGB II. Damit kann der aufgrund des Endes der Tilgungsaufrechnung im Monat September 2018 verbleibende Restbetrag aus der Mietkaution in Höhe von 855,60 Euro als Differenz aus 2.292,00 Euro abzüglich 1.436,40 Euro vom Beklagten zu einem späteren Zeitpunkt zurückgefordert werden.

2) Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG und entspricht dem Anteil des Obsiegens des Klägers.

3) Die Entscheidung ist für beide Beteiligte berufungsfähig, weil die Berufungssumme in jedem Fall erreicht ist.

Rechtsmittelbelehrung:

Diese Entscheidung kann mit der Berufung angefochten werden.

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Försterweg 2-6 14482 Potsdam,

schriftlich, in elektronischer Form oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem

Sozialgericht Potsdam Rubensstraße 8 14467 Potsdam,

schriftlich, in elektronischer Form oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

Die Berufungsschrift muss innerhalb der Frist bei einem der vorgenannten Gerichte eingehen. Sie soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung der Berufung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Auf Antrag kann vom Sozialgericht durch Beschluss die Revision zum Bundessozialgericht zugelassen werden, wenn der Gegner schriftlich zustimmt. Der Antrag auf Zulassung der Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Sozialgericht Potsdam schriftlich oder in elektronischer Form zu stellen. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag beizufügen. Lehnt das Sozialgericht den Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluss ab, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Berufungsfrist von neuem, sofern der Antrag auf Zulassung der Revision in der gesetzlichen Form und Frist gestellt und die Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt war.

Die elektronische Form wird nur durch eine qualifiziert signierte Datei gewahrt, die nach den Maßgaben der "Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr im Land Brandenburg" in das elektronische Gerichtspostfach des jeweiligen Gerichts zu übermitteln ist. Unter der Internetadresse www.erv.brandenburg.de können weitere Informationen über die Rechtsgrundlagen, Bearbeitungsvoraussetzungen und das Verfahren des elektronischen Rechtsverkehrs abgerufen werden.

Die Vorsitzende der 49. Kammer
Rechtskraft
Aus
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