L 16 R 483/16

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 23 R 634/12
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 R 483/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 5. Februar 2016 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens Regelaltersrente (RAR) unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten.

Der 1928 in C (Rumänien) geborene Kläger ist Jude und wurde aus diesem Grund Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung. Er ist als Verfolgter nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt und erhielt eine Entschädigung für seinen in der Zeit von 1. August 1941 bis 30. März 1944 erlittenen Freiheitsschaden. Im dieser Entscheidung vorangegangenen Antragsverfahren hatte der Kläger im März 1958 ua eidesstattlich versichert, am 11. Oktober 1941 in Czernowitz in das dortige Ghetto eingewiesen worden zu sein und dieses aufgrund einer Sonderbewilligung im November 1941 wieder verlassen zu haben. Diese Darstellung war von zwei Zeuginnen (R S und S F) in deren im April 1958 bzw Juni 1958 abgegebenen eidesstattlichen Versicherungen bestätigt worden.

Seit 1946 lebt der Kläger in P bzw I; er besitzt seit Juli 1952 die dortige Staatsangehörigkeit. Im Oktober 1990 stellte der Kläger einen Antrag auf Nachentrichtung von Beiträgen und RAR unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG), den die Beklagte ablehnte (Bescheide vom 8. und 9. Dezember 1991). Der Kläger hatte seinerzeit angegeben, er habe Mitte des Jahres 1942 bis Anfang des Jahres 1944 als Aushilfsarbeiter bei der Lebensmittelverteilung für die jüdische Bevölkerung gearbeitet und sei von der Kultusgemeinde bezahlt worden.

Im September 2002 stellte der Kläger unter Verweis auf eine Beschäftigung von "Juni 1942" bis "März 1944" (5 Tage wöchentlich mit 5-6 Stunden täglich) als Aushilfsarbeiter bei der Lebensmittelverteilung für die jüdische Bevölkerung in Czernowitz, die mit Lebensmitteln entgolten worden sei, erneut einen Antrag auf RAR unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach dem zwischenzeitlich in Kraft getretenen Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 29. September 2003 ab, da das ZRBG nicht anwendbar sei. Der Beschäftigungsort des Klägers habe nicht in einem vom Deutschen Reich eingegliederten oder besetzten Gebiet gelegen.

Am 25. August 2010 stellte der Kläger einen Überprüfungsantrag. Im "Auskunftsbogen für die Beantragung von Anträgen nach dem ZRBG" teilte der Kläger am 1. Juni 2008 mit, er habe sich von "10/1941 bis Ende 10/1941" im Ghetto Czernowitz aufgehalten und habe in dieser Zeit in der Lebensmittelverteilung gearbeitet. Diese Arbeit sei ihm vom Judenrat vermittelt worden. Den Überprüfungsantrag des Klägers lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 6. April 2011, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 11. November 2011, mit der Begründung ab, Ghetto-Beitragszeiten könnten nicht anerkannt werden, weil die Arbeitszeit vom 1. Juni 1942 bis 31. März 1944 im Ghetto Czernowitz in der Bukowina nicht in einem vom Deutschen Reich eingegliederten oder vom Deutschen Reich besetzten Gebiet zurückgelegt worden sei und deshalb nach dem ZRBG nicht berücksichtigt werden könne. Der Ort habe sich auf dem Gebiet Rumäniens befunden, hierbei habe es sich um einen souveränen Staat gehandelt, die nationalsozialistische Einflussnahme reiche für die Anwendung des ZRBG nicht aus.

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Berlin hat der Kläger geltend gemacht, er habe Anspruch auf RAR unter Berücksichtigung von Beitragszeiten im Ghetto Czernowitz von Oktober 1941 bis November 1941. Der Kläger hat vorgetragen, er sei nach Errichtung des Ghettos Czernowitz gemeinsam mit seiner Familie dort eingewiesen worden. Nach einem Monat sei die Ausgangssperre gelockert worden und er habe das Ghetto verlassen können und im jüdischen Viertel der Stadt gelebt. Dieser Stadtteil sei zwar nicht mehr abgesperrt gewesen, er habe jedoch Ghettocharakter gehabt. Ab dieser Zeit habe er bis zur Befreiung durch die Russen für den Judenrat die Lebensmittel an die Menschen im Ghetto verteilt. Er habe deshalb tatsächlich bis zur Befreiung der Stadt im Ghetto gearbeitet und sei deshalb in den Geltungsbereich des ZRBG einzubeziehen.

Durch Gerichtsbescheid vom 5. Februar 2016 hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 6. April 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides, Rücknahme des Ablehnungsbescheides vom 29. Januar 2004 und auf Gewährung von RAR aufgrund von Ghetto-Beitragszeiten. Zwar habe sich nach In-Kraft-Treten des ZRBG-Änderungsgesetzes zum 1. August 2014 die Rechtslage insoweit geändert, als nunmehr auch das Ghetto C vom Anwendungsbereich des ZRBG erfasst werde. Der Kläger habe gleichwohl keinen Anspruch auf die von ihm begehrte RAR aufgrund von Ghetto-Beitragszeiten, weil diese weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht worden seien. Es sei bereits nicht nachgewiesen oder glaubhaft gemacht, dass sich der Kläger im geltend gemachten Zeitraum von Oktober 1941 bis November 1942 (gemeint wohl November 1941) im Ghetto Czernowitz aufgehalten habe, denn der Kläger habe hierzu im Entschädigungsverfahren und im Rentenantragsverfahren widersprüchliche Angaben gemacht. Da aufgrund dieser widersprüchlichen Angaben schon nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Kläger sich im Ghetto Czernowitz im streitigen Zeitraum aufgehalten habe, sei jedenfalls weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht, dass er in diesem Zeitraum eine Tätigkeit ausgeübt habe, die aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen und entgeltlich ausgeübt worden sei. Da der Kläger keinen Anspruch auf Anerkennung von Ghetto-Beitragszeiten habe, komme auch die Anerkennung von Ersatzzeiten gemäß § 250 Abs. 1 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) nicht in Betracht.

Mit seiner Berufung macht der Kläger geltend, er habe durchgehend sowohl im Entschädigungsverfahren als auch im Rentenantragsverfahren bei der Beklagten ausgeführt, dass er im Zeitraum Juni 1942 bis März 1944 als Aushilfsarbeiter bei der Lebensmittelverteilung für die jüdische Bevölkerung im jüdischen Ghetto vom Judenrat in Czernowitz beschäftigt worden und hierfür vom Judenrat mit Lebensmitteln entlohnt worden sei. Durch die eidesstattlichen Versicherungen sowohl des Klägers als auch der damaligen Zeuginnen im Entschädigungsverfahren sei auch nachgewiesen, dass er sich vom 11. Oktober 1941 bis November 1941 im Ghetto Czernowitz befunden habe. Ab dem 16. November 1941 habe Czernowitz als ein sog. offenes Ghetto existiert, welches erst nach Kriegsende aufgelöst worden sei. Die jüdische Bevölkerung habe sich ab diesem Zeitpunkt zwar nicht mehr in dem Viertel aufhalten müssen, in dem zuvor das geschlossene Ghetto existiert hatte, sondern habe prinzipiell im gesamten Stadtgebiet wohnen dürfen, die Freiheitsbeschränkungen für die jüdischen Häftlinge hätten jedoch in vollem Umfang weiter gegolten. Es sei deshalb unerheblich, in welchem Stadtteil die jüdische Bevölkerung gelebt hätte, es komme nicht auf einen Wohnsitz im vormals geschlossenen Ghetto an. Er selbst habe seinen Aufenthaltsort bis zur Befreiung 1944 beibehalten. Die Sonderbewilligung habe ihm lediglich ermöglich, sich auch außerhalb der Ghettogrenzen zu bewegen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 5. Februar 2016 und den Bescheid der Beklagten vom 6. April 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. November 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 29. September 2003 zurückzunehmen und dem Kläger Altersrente unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten von 1. Juni 1942 bis 31. März 1944 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Insbesondere sei nicht glaubhaft gemacht, dass der Kläger sich im streitgegenständlichen Zeitraum im Ghetto aufgehalten habe.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten, der Entschädigungsakte des Landesamtes für Finanzen/Amt für Wiedergutmachung und der Gerichtsakte verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung und Entscheidung geworden sind.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG -).

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 6. April 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. November 2011 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf Rücknahme des – in Bestandskraft (vgl § 77 SGG) erwachsenen - Bescheides vom 29. September 2003 und auf Gewährung von RAR unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten. Bei Erlass des Ablehnungsbescheides vom 29. September 2003 hat die Beklagte weder das Recht unrichtig angewandt noch ist sie von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen (vgl § 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - SGB X). Dies folgt indes nicht schon daraus, dass nach der seinerzeit maßgeblichen, bis 14. Juli 2014 geltenden Fassung des ZRBG (vgl § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr 2 ZRBG) dieses nur für Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto galt, das sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, was bei dem seit 1919 zu Rumänien gehörenden Czernowitz nicht der Fall war. Indes bestimmt die am 15. Juli 2014 mWv 1. Juli 1997 in Kraft getretene Fassung des ZRBG, dass es ausreicht, wenn das Ghetto in einem Gebiet des nationalsozialistischen Einflussbereichs lag, wozu Rumänien in den streitbefangenen Zeiträumen zählte. Der Kläger hatte und hat jedoch ungeachtet dessen keinen Anspruch auf RAR aus der deutschen Rentenversicherung, weil er die hierfür erforderliche allgemeine Wartezeit nicht erfüllt.

Nach § 35 Satz 1 SGB VI haben Versicherte Anspruch auf Regelaltersrente, wenn sie die Regelaltersgrenze erreicht und die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Die allgemeine Wartezeit beträgt nach § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI fünf Jahre. Auf die allgemeine Wartezeit werden gemäß § 51 Abs. 1 SGB VI Kalendermonate mit Beitragszeiten und Ersatzzeiten (vgl § 51 Abs. 4 SGB VI) angerechnet. Beitragszeiten sind gemäß § 55 Abs. 1 SGB VI Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind. Nach § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind Pflichtbeitragszeiten auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten. Als eine solche Vorschrift erweist sich § 2 Abs. 1 ZRBG. Der Kläger kann indes keine Ghetto-Beitragszeiten im Sinne dieser Vorschrift geltend machen. Da für ihn auch keine Beitrags- bzw Beschäftigungszeiten nach dem FRG zu berücksichtigen sind, weil er ersichtlich nicht dem Personenkreis der §§ 1, 17a FRG bzw des § 20 des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) angehört, kommt daher im Ergebnis auch die Anerkennung der Verfolgungszeit als Ersatzzeit iSv § 250 Abs. 1 SGB VI nicht in Betracht.

Nach § 1 ZRBG gilt dieses Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist und gegen Entgelt ausgeübt wurde (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nrn 1a und 1b ZRBG). "Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto" iSv § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG erfasst jegliche Beschäftigung innerhalb und außerhalb des räumlichen Bereichs eines Ghettos, die von Verfolgten ausgeübt wurde, während sie sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten haben (vgl BSG, Urteil vom 2. Juni 2009 - B 13 R 81/08 R = SozR 4-5075 § 1 Nr 7). Beschäftigung in diesem Sinne meint - wie der Beschäftigungsbegriff im übrigen Sozialversicherungsrecht auch - jede nichtselbständige Arbeit. Anhaltspunkte für das Bestehen einer solchen Arbeit sind eine von Weisungen eines anderen hinsichtlich Zeit, Ort, Dauer, Inhalt oder Gestaltung abhängige Tätigkeit sowie eine gewisse funktionale Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Unternehmens oder Weisungsgebers, wobei die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls und das sich daraus ergebende Gesamtbild der ausgeübten Tätigkeit maßgeblich sind. Eine Beschäftigung wurde "gegen Entgelt" iSv § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b ZRBG ausgeübt, wenn für die geleistete Arbeit irgendeine Art der Entlohnung erhalten wurde, ob in Geld, Naturalien oder in Gutscheinen, unabhängig von Quantität, Qualität und Transferweg (vgl BSG, Urteil vom 2. Juni 2009 - B 13 R 139/08 R = SozR 4-5075 § 1 Nr 5). Die Beschäftigung ist "aus eigenem Willensentschluss" iSv § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1a ZRBG - im Unterschied zu Zwangsarbeit - zustande gekommen, wenn der Ghetto-Bewohner hinsichtlich des Zustandekommens oder der Durchführung der Arbeit noch eine Dispositionsbefugnis zumindest dergestalt hatte, dass er die Annahme oder Ausführung der Arbeit auch ohne Gefahr für Leib, Leben oder seine Restfreiheit ablehnen konnte (vgl BSG, Urteil vom 2. Juni 2009 - B 13 R 81/08 R – Rn 20). Auch die Annahme einer wie vorliegend vom Judenrat angebotenen Arbeit ist eine aus eigenem Willensentschluss zustande gekommene Beschäftigung (vgl BSG aaO Rn 21). Schließlich steht auch ein bestimmtes Lebensalter im Sinne einer Altersuntergrenze nicht der Annahme einer aus eigenem Willensentschluss aufgenommen Beschäftigung iSd § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 a ZRBG entgegen (vgl BSG, Urteil vom 2. Juni 2009 - B 13 R 139/08 R – Rn 24). So ist im Hinblick auf die grundsätzliche Arbeitsfähigkeit jedenfalls elf- und zwölfjähriger Kinder, die in diesem Alter unter den extremen Verhältnissen des Ghettos bereits denselben Bedingungen wie Erwachsene unterlagen, ein freier Willensentschluss zur Aufnahme und Ausübung einer bestimmten Arbeit in der Rechtsprechung bejaht worden, wenn es sich der Art nach um solche Verrichtungen handelte, die Kinder körperlich zu leisten im Stande sind und die insofern als typische Kinderarbeit angesehen werden können. Allerdings ist bei besonders jungen Ghettobewohnern zu prüfen, ob die gesamten Umstände des Einzelfalls (zB nach der Art der angegebenen Arbeit an sich, nach den dafür erforderlichen Anforderungen an die individuelle Körperkraft, nach den dafür erforderlichen Anforderungen an die kognitiv-intellektuellen Fähigkeiten und an das Ausdauer- und Konzentrationsvermögen sowie nach den sonstigen Rahmenbedingungen, unter denen die angegebenen Verrichtungen erfolgten) noch für einen eigenen Willensentschluss im Sinne einer freien Willensentscheidung zur Aufnahme einer Beschäftigung sprechen.

Für die Feststellung der für die Anwendung von § 1 Abs. 1 Satz 1 Nrn 1a und 1b ZRBG erforderlichen Tatsachen genügt es nach § 1 Abs. 2 ZRBG iVm § 3 Abs. 1 Satz 1 WGSVG, dass sie glaubhaft gemacht sind. Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist (§ 1 Abs. 2 ZRBG iVm § 3 Abs. 1 Satz 2 WGSVG). Glaubhaftmachung bedeutet danach mehr als das Vorhandensein einer bloßen Möglichkeit, aber auch weniger als die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Es genügt die "gute Möglichkeit", dass der entscheidungserhebliche Vorgang sich so zugetragen hat, wie behauptet wird. Es muss mehr für als gegen den behaupteten Sachverhalt sprechen. Als Mittel der Glaubhaftmachung kommen neben der eidesstattlichen Versicherung alle Mittel in Betracht, die geeignet sind, die Wahrscheinlichkeit der Tatsache in ausreichendem Maße darzutun. Dabei sind ausgesprochen naheliegende, der Lebenserfahrung entsprechende Umstände zu berücksichtigen. Bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten muss das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten sein, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Tatsache spricht.

Nach dem dargelegten Beweismaßstab sind dem Senat schon keine hinreichenden Tatsachenfeststellungen möglich, nach denen glaubhaft gemacht wäre, dass der Kläger sich in dem Zeitraum der behaupteten Beschäftigung von "Juni 1942" bis "März 1944" tatsächlich in einem Ghetto zwangsweise aufgehalten hatte (vgl § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG).

Der Senat geht zwar aufgrund der durchweg glaubhaften Angaben des Klägers im Entschädigungs- und Rentenverfahren, die im Einklang mit historischen Erkenntnissen stehen, davon aus, dass der seinerzeit in der "Synagogenstr. " (gemeint wohl Synagogengasse ; rumänische Umbenennung in Str. Wilson, vgl auch die entsprechende Angabe des Klägers zu seinem Wohnsitz in Rumänien bis März 1944 in dem Fragebogen der Beklagten über zurückgelegte Beschäftigungs-, Versicherungs-, Anrechnungs- und Militärdienstzeiten in Rumänien vom 21. April 2003), dh im alten und innerhalb der Ghettogrenzen gelegenen jüdischen Viertel von Czernowitz wohnhafte Kläger sich in der Zeit von der Errichtung des Ghettos am 11. Oktober 1941 an jedenfalls bis Ende Oktober/Anfang November 1941 dort auch zwangsweise aufgehalten hatte. Durch Anordnung des Gouverneurs der Bukowina General Calotescu vom 11. Oktober 1941 wurde auf Entscheidung des Oberkommandierenden der deutschen Wehrmacht ein durch die Benennung der entsprechenden Straßen bzw Straßenabschnitte begrenzter Teil des Stadtgebiets um das alte jüdische Viertel in Bahnhofsnähe und um den Schlachthof von Czernowitz zum Ghetto erklärt, in das sich die gesamte jüdische Bevölkerung bis 18.00 Uhr desselben Tages einzufinden hatte (Anordnung in rumänischer Sprache unter http://hauster.blogspot.de/2011/06/czernowitz-ghetto-of-1941.html mit Kartenmaterial zur stadträumlichen Ausdehnung des Ghettos; englische Übersetzung der Anordnung vom 11. Oktober 1941 und der Ghettoregeln unter http://www.jewishgen.org/yizkor/bukowinabook/buk2 049.html). Entsprechend seiner Angaben im Renten- und Berufungsverfahren ist zudem davon auszugehen, dass der Kläger seinen Wohnsitz auch nach Erteilung der "Sonderbewilligung" zum Verlassen des Ghettos dort beibehielt und nicht in das übrige Stadtgebiet verlegte. Auch die Tatsache der Erteilung solcher Sondergenehmigungen selbst nach dem sofort einsetzenden Beginn der Deportationen von tausenden Ghettobewohnern nach T ist historisch belegt, ohne dass es in Anbetracht der glaubhaften Angaben des Klägers hierzu Anlass zu weiteren Sachermittlungen gegeben hätte:

"October 17, 1941 Various lists are made up for presentation to the authorities, classifying the Jews by their professions. Representatives of the various professions like bureaucrafts, retirees, reserve officers, industrialists, hand workers, engineers, doctors, lawyers, etc. came to the school on Landhausgasse to request authorization to remain in the city. In the meanwhile, 15,000 authorizations were given out in Czernowitz. A part of he authorizations given out by General Calotescu were torn up by General Ionescu, since he has explained,"too many Jews would remain in the city" " (Auszug aus "Diary Pages from Czernowitz and Transnistrien” by Dr. Nathan Getzler, translated by Jerome Silverbush- http://www.museumoffamilyhistory.com/ce/ghetto/czernowitz.htm).

"In spite of the fact the ghetto wall enclosed only a small part of the city; many Jews were successful in escaping the grip of the police and the gendarmes. Approximately 5000 people either sought out invisible hiding places or secretly slipped out of the ghetto. Later, with authorization from Popovici, they were permitted to leave the ghetto. Many remained in the infirmary and the old people s home because they were not capable of being transported. Approximately 15,000 Jews received authorization from the governor to return to their homes outside the ghetto.” (Auszug aus: History of the Jews in Bukovina (1919-1944) by Dr. Manfred Reifer- http://www.jewishgen.org/yizkor/bukowinabook/buk2 003.html)

"Die 20000 in Czernowitz verbliebenen Juden hatten Kennkarten erhalten, die ihnen bescheinigten, sie seien "nützlich” für die Wirtschaft”. (Enzyklopädie des Holocaust, Band I, hrsg von Eberhard Jäckel, Peter Longerich, Julius H. Schoeps, Czernowitz S 298).

Der Senat hegt angesichts dessen auch keine durchgreifenden Zweifel daran, dass der Kläger – wie in seiner Berufungsbegründung ausgeführt – mit dieser Sonderbewilligung die Möglichkeit hatte, das Ghetto zu verlassen und sich außerhalb der Ghettogrenzen zu bewegen, ohne seinen Wohnsitz in der im Gebiet des Ghettos gelegenen Sgasse aufzugeben. Hieraus folgt indes nicht, dass auch zu der Zeit, in der der Kläger die von ihm glaubhaft beschriebene Beschäftigung bei der Verteilung von Lebensmitteln an die jüdische Bevölkerung in Czernowitz ausgeübt hatte, nämlich von Juni 1942 bis März 1944, noch von einem Aufenthalt in einem Ghetto iSv § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG ausgegangen werden kann. Der Kläger hat selbst erklärt, dass bereits ab 16. November 1941 (nur) noch ein sog offenes Ghetto existiert habe, das erst am 29. März 1944 aufgelöst worden sei, wobei die gesamte Stadt Czernowitz ein derartiges "offenes" Ghetto gewesen sei. Die jüdische Bevölkerung habe prinzipiell im gesamten Stadtgebiet wohnen können, wobei die Freiheitsbeschränkungen indes weiter bestanden hätten. Schon nach diesem tatsächlichen Vorbringen ist im Streitzeitraum nicht von einem zwangsweisen Ghettoaufenthalt auszugehen.

Eine gesetzliche Definition des Begriffes Ghetto existiert nicht. Nach der Rechtsprechung des BSG ist ein Zwangsaufenthalt in einem Ghetto dann anzunehmen, wenn der Aufenthalt rechtlich oder tatsächlich auf ein bestimmtes Wohngebiet beschränkt und die Aufenthaltsbeschränkung durch die Androhung schwerster Strafen oder durch Gewaltmaßnahmen erzwungen wurde (vgl BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 4 R 29/06 R – Rn 84), wobei die Maßnahmen zur Absonderung und Ein-schränkungen der Freizügigkeit eine Intensität erreicht haben müssen, die in vergleichbarer Weise den Aufenthalt beschränken wie Mauern oder Zäune. Merkmale eines Ghettos sind, dass es sich um ein abgegrenztes Wohnviertel in einer Stadt/einem städtischen Gefüge gehandelt hat und dass anstelle einer zentralen fremdbestimmten Leitung eine (formale) Selbstverwaltung durch Judenräte oder Judenälteste existierte. In Ghettos wurde zumindest in einem gewissen Rahmen der Schein eines selbstbestimmten Lebens aufrechterhalten. Es handelte sich um Orte, an denen sich Ghettobewohner auch bilden und kulturell betätigen konnten und die somit einen Lebensraum, in dem Arbeit aus einem eigenen Willensentschluss noch möglich war, darstellten (vgl die entsprechenden Ausführungen des Historikers Prof. Dr. Wolfgang Bens auf der Internetseite der Bundeszentrale für politische Bildung unter https://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/141448/ghettos-in-osteuropa.de sowie in "Ghetto": die juristische Definition, wissenschaftlicher Artikel von Werner Himmelmann, abzurufen auf der Internetseite der Universität Potsdam unter http://publishup.uni-potsdam.de/frontdoor/index/index/docId/5937). Unter Zugrundelegung dieser Kriterien ist dem Kläger die Glaubhaftmachung eines nach dem ZRBG beachtlichen Ghettoaufenthaltes für die geltend gemachten Beitragszeiten schon nach seinem eigenen Vorbringen jedenfalls in dem geltend gemachten Beschäftigungszeitraum nicht gelungen, weil eine Aufenthaltsbeschränkung auf das Gebiet des (früheren) Ghettos nicht mehr bestand, wenngleich sich seine Wohnung weiterhin in dem Gebiet befand, das zum (früheren) Ghetto gehörte. In Czernowitz wurde zwar nachweislich auf einem Teil des Stadtgebietes (vgl die oben genannten Quellen) ein Ghetto errichtet, dieses umfasste jedoch nicht das gesamte Stadtgebiet, in welchem auch Bürger mit anderen Staatsangehörigkeiten (Rumänen, Deutsche etc) lebten, so dass es sich schon aus diesem Grunde verbietet, von der gesamten Stadt Czernowitz als geschlossenem bzw offenem Ghetto zu sprechen. Entsprechende historische Hinweise oder Anhaltspunkte sind auch nicht ersichtlich.

"Das Bild des Ghettos ist geprägt durch den hermetischen Abschluss gegen die nichtjüdische Umwelt. Der Typ des "geschlossenen" Ghettos, an dessen Tor bewaffnete Wachen Juden am Verlassen hindern und Nichtjuden den Eintritt verwehren, war aber auf wenige große Städte beschränkt. Die Regel bildeten die "offenen" Ghettos, die nicht von Zaun oder Mauer umgeben, deren Grenzen nur durch Schilder markiert waren. Trotzdem herrschte keine Freizügigkeit und der Zutritt für Nichtjuden war verboten". (Dieter Pohl, Ghettos, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 9, München 2009, S. 161—191)

"Verbreiteter war der zweite Typ, das offene Ghetto, bei dem sich die bauliche Begrenzung auf bereits vorhandene Mauern oder Gebäudewände beschränkte, die oftmals am Rand von Kleinstädten lagen und zum Land hin offen waren.Obwohl Mauern und manchmal auch Wachpersonalfehlten, unterlagen die Insassen auch in sogenannten offenen Ghettos scharfen Aufenthaltsbeschränkungen und duften ihren Bezirk nur unter bestimmten Bedingungen verlassen". (Ghettorenten, Zeitgeschichte im Gespräch Band 6, hrsg. von Jürgen Zarusky, 2010, S 39/40)

Für Czernowitz ist entsprechend dem Vorbringen des Klägers im Schriftsatz vom 14. September 2016 davon auszugehen, dass zunächst ein geschlossenes Ghetto in den am 11. Oktober 1941 festgelegten Grenzen bestand. Dies entspricht auch der historischen Faktenlage, ohne dass es insoweit in Anbetracht der glaubhaften Einlassungen des Klägers der Einholung eines historischen Sachverständigengutachtens bedurft hätte:

"October 11, 1941 Mass Imprisonment A three meter high wooden fence and barbed wire surround the ghetto. Only at two places is one permitted to leave and enter the ghetto with special permission from the ghetto commandants, all Christians, who live in the ghetto reservation. Jews like., who are urgently needed in the city are only permitted to leave the ghetto escorted by gendarmes carrying rifles with fixed bayonets.” (Auszug aus "Diary Pages from Czernowitz and Transnistrien” by Dr. Nathan Getzler, translated by Jerome Silverbush- http://www.museumoffamilyhistory.com/ce/ghetto/czernowitz.htm).

Eine Beschäftigung in dem Zeitraum, in dem das o.g. Ghetto Czernowitz bestand, behauptet der Kläger aber gerade nicht. Seine anderslautenden Angaben im Auskunftsbogen für die Bearbeitung von Anträgen nach dem ZRBG vom 1. Juni 2008 (Beschäftigung von "10/1941 – Ende 10/1941") hat er berichtigt. Im hier maßgebenden Zeitraum von Juni 1942 bis März 1944 existierte das Ghetto jedoch nach den Feststellungen des Gerichts und nach dem eigenen Vorbringen des Klägers nicht mehr, und zwar weder als geschlossenes noch als offenes Ghetto. Dass der Kläger bis Oktober 1943 (Abschaffung des gelben Abzeichens und der Einschränkung der Bewegungsfreiheit in Czernowitz, vgl Enzyklopädie des Holocaust, Band I aaO) und ggf bis zur Befreiung durch sowjetische Truppen Ende März 1944 als Jude weiter den unmenschlichen Restriktionen und willkürlichen Behandlungen der Behörden ausgesetzt war und das gelbe Abzeichen tragen musste, stellt als solches noch keinen zwangsweisen Aufenthalt in einem Ghetto iSv § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG dar.

"Then the War Ministry got involved. The police continued to search for Communists and deserters. Show trials were held for the Communists. At the same time, Jews who had run afoul of the army or the Romanian officials were given less public trials. Although, after the last deportation of the year in December, 1941, the visible ghetto walls of wood and barbed wire in Czernowitz were torn down and the Jews who through chance, luck, connections or bribery had been spared deportation were allowed to go back to their earlier dwellings, the intellectual, spiritual and moral ghetto walls were higher and stronger.” (Auszug aus: History of the Jews in Bukovina (1919-1944) by Dr. Manfred Reifer- http://www.jewishgen.org/yizkor/bukowinabook/buk2 003.html)

"Im Frühling 1942 wurde angeordnet, das Ghetto zu liquidieren. Wie mir meine Mutter später erzählte, gab es an dem Tag, an dem wir freigelassen wurden, einen Schneeregen. Wir mussten vier oder fünf Stunden vor dem Ghettoausgang darauf warten, dass man uns hinausgehen ließ, obwohl wir eine ausdrückliche Erlaubnis dazu hatten. Wir wurden soviel als nur möglich gepeinigt. Die überlebenden Juden durften in ihre Wohnungen zurückkehren. Unsere Wohnung jedoch war, als wir zurückkamen, schon von einem rumänischen Offizier besetzt. Er ließ uns nicht herein. So mussten wir in fremden Kellern und Dachgeschossen wohnen. Währenddessen ging das schreckliche Leben auf dem okkupierten Territorium weiter." (Auszug aus Frederik Grinberg, Mein Leben im Ghetto und auf dem okkupierten Territorium – https://muelheim-ruhr.de/cms/mein leben im ghetto und auf dem okkupierten territorium ...)

"Since in the last deportation on June 28, 1942, there were too few Jews collected to fill the cars waiting for them, the order was given to comb through Piteygasse and to simply grab all the Jews that were found and bring them to the train station. Since in earlier deportations several Jews on Piteygasse who had possessed authorizations to remain in Czernowitz, had been left in their homes, these poor people, in spite of that, were seized and sent to a certain death in Transnistrien. With this last deportation of June 28, 1942 the sad story of Jewish deportations had reached its tragic end.” (Auszug aus "Diary Pages from Czernowitz and Transnistrien” by Dr. Nathan Getzler, translated by Jerome Silverbush- http://www.museumoffamilyhistory.com/ce/ghetto/czernowitz.htm).

Dass der Kläger während der Verfolgungszeit einer entgeltlichen Beschäftigung aus freiem Willensentschluss nachgegangen ist, reicht als solches für die Vormerkung einer Ghetto-Beitragszeit nicht aus. Eine entsprechende Erweiterung der Berücksichtigung fiktiver Beitragszeiten bliebe dem Gesetzgeber vorbehalten. Nach alledem kommt die Berücksichtigung einer Ghetto-Beitragszeit und somit die Gewährung einer RAR nicht in Betracht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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