S 20 R 1861/13

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Nordhausen (FST)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
20
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 20 R 1861/13
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid der Beklagten vom 20.03.2013 in Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.07.2013 wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.10.2012 in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Streitig ist eine Rente wegen Erwerbsminderung.

Die am geborene Klägerin beantragte am 13.09.2012 bei der Beklagten eine Erwerbsmin-derungsrente.

Die Beklagte zog diverse medizinische Unterlagen bei, holte ein Gutachten auf internistischem Fachgebiet ein und lehnte mit Bescheid vom 20.03.2013 den Antrag der Klägerin ab.

Dagegen legte die Klägerin am 05.04.2013 Widerspruch ein.

Mit Widerspruchsbescheid vom 09.07.2013 wurde der Widerspruch als unbegründet zurück-gewiesen, da nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen bei der Klägerin noch ein Leistungsvermögen für Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich vorliege.

Hiergegen hat die Klägerin am 17.07.2013 Klage erhoben.

Sie führt an, dass aufgrund der Gesamtheit der diagnostizierten Erkrankungen eine Arbeitsfä-higkeit nicht mehr gegeben sei.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 20.03.2013 in Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.07.2013 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung im gesetzlichen Umfang ab Antragstellung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist auf ihre Bescheide.

Das Gericht hat Befundberichte von , und ... und beigezogen. Ferner wurde ein psychiatrisch-psychosomatisches Gutachten bei Dr ... und gemäß § 109 SGG ein psychiatri-sches Gutachten bei Dr ... eingeholt. Dem Gericht liegen ferner vor ergänzende Stellung-nahmen von Dr ... vom 30.09.204, 16.03.2016 und 23.06.2016.

Nach dem Gutachten von Dr. vom 17.06.2014 bestehen folgende Gesundheitsstörungen:

Symptomdiagnosen:

• Angst und Depression gemischt (chronisch-dysthyme Verstimmung und sonstige phobische Störung bei Zustand nach Herzinfarkt mit Schon- und sozialem Meideverhalten); (ICD 10: F41.2), • Verdacht auf Traumafolgestörung durch Inhaftierung wegen Republikflucht, 9 Monate (1986); (ICD 10: F43.01), • Nikotinabhängigkeit, derzeit 3 bis 4 Zigaretten, bis zum Herzinfarkt 20 bis 30 Zigaretten pro Tag (ICD 10: F 17.202), • Spannungskopfschmerzen (ICD 10: F54/G 44.2)

Strukturdiagnosen:

• Phobisch-meidende Bildung der Persönlichkeit mit noch ausreichender individueller Belastbarkeit und Kompensationsfähigkeit der Struktur

Körperliche Diagnosen im Übrigen:

• Leichtgradige bewegungs- und belastungsabhängige Schmerzen und Funktionsstörungen des Ellenbogens rechts, rezidivierend der LWS, bei degenerativen Erkrankungen, • koronare Herzerkrankung bei Zustand nach Myokardinfarkt in 8/2010 mit Stentsetzung, kompensierte Herzleistung, • arterielle Hypertonie, medikamentös eingestellt • geringgradige Trikuspidalklappeninsuffizienz ohne hämodynamische Auswirkung, • Arteriosklerose im Bereich der A. carotis interna rechts größer als links, ohne Hinweis auf relevante Strömungsbehinderung • Alopecia areata, Haarausfall • Fettstoffwechselstörung.

Die Klägerin könne noch täglich unter 6 aber mindestens 3 Stunden leichte Arbeiten verrichten. Als Zeitpunkt des Leistungsfalls wurde der Zeitpunkt der Untersuchung vorgeschlagen. Bei einer teilstationären psychosomatischen Klinikbehandlung verbunden mit einer anschließenden stationären Rehamaßnahme sei innerhalb von 6 Monaten ein vollschichtiges Leistungsvermögen erreichbar.

Die Beklagte hielt eine ambulante Psychotherapie, die von der Klägerin auch in Anspruch genommen wurde, für ausreichend.

In der ergänzenden Stellungnahme vom 12.04.2016 hielt Dr. ein Leistungsvermögen von unter 3 Stunden seit dem 06.01.2015, dem Zeitpunkt der Aufnahme der Behandlung in der Tagesklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in ... unter Berücksichtigung des Arztbriefes vom 11.02.2015 dieser Einrichtung für gegeben.

Nach dem Gutachten von Dr. vom 13.06.2016 bestehen folgende Gesundheits-störungen:

• Angst und depressive Störung gemischt (ICD 10 F 41,2) symptomdiagnostisch psy-chodynamisch als Traumafolgestörung zu verstehen • Nikotinabhängigkeit • Spannungskopfschmerz • Myokardinfarkt (8/2010) • Koronare Herzkrankheit (KHK) Zustand nach Stentsetzung (ED 8/2010) • essentielle arterielle Hypertonie • Trikuspidalklappeninsuffizienz I. - II. Grades • Zustand nach Ileus-Operation (1975) • Appendektomie (1971).

Die Klägerin könne nur noch weniger als 2 Stunden leichte körperliche Arbeiten ausüben.

Dieses Leistungsvermögen bestünde seit August 2010.

Dem Gericht liegen ferner die ergänzenden Stellungnahmen von Dr ... vom 30.12.2014, 30.06.2016 und 15.05.2017 vor.

In der letztgenannten Stellungnahme führte der Gutachter auf Nachfrage des Gerichts aus, dass die Klägerin schon seit Dezember 2011 ohne die nicht erfolgten aber notwendigen therapeutische Maßnahmen nicht in der Lage gewesen sei mit zumutbarer Willensanspannung, die zeitliche Leistungsminderung, die in den Arbeitsunfähigkeitszeiten dokumentiert sei, zu überwinden. Seit dem Zeitpunkt der Rentenantragstellung und danach habe Arbeitsunfähigkeit für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes bestanden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozess- und Be-klagtenakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung waren.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig.

Sie ist auch begründet, denn die angegriffenen Bescheide verletzen die Klägerin in ihren Rechten.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab Ren-tenantragstellung.

Nach § 43 Abs. 1 und 2 SGB VI in der ab dem 01.01.2001 gültigen Fassung (n.F.) haben Ver-sicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen voller oder teil-weiser Erwerbsminderung, wenn sie

1. erwerbsgemindert sind,

2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet haben oder

3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeits-marktes mindestens 3 Stunden erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs.1 S 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbs-gemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Die Klägerin ist seit Rentenantragstellung erwerbsgemindert.

Die Klägerin leidet unter Erkrankungen auf internistischem, orthopädischem und psychiatrisch-psychosomatischem Fachgebiet, die länger als 6 Monate bestehen und einen leistungs-mindernden Dauereinfluss auf die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben haben. Auf die in den Gutachten angeführten Diagnosen und beschriebenen Leistungseinschränkungen wird verwiesen.

Die Kammer hat keine Zweifel, dass die Sachverständigen die medizinischen Befunde zutreffend erhoben und aus ihnen die richtigen sozial-medizinischen Schlussfolgerungen gezogen haben. Die von den Sachverständigen gezogenen Schlussfolgerungen entsprechen auch den allgemein anerkannten Begutachtungsmaßstäben. Sie stimmen jedoch hinsichtlich der Einschätzung, wann der Leistungsfall eingetreten ist, nicht überein. Diese Diskrepanz beruht allerdings nur zum Teil auf einer unterschiedlichen medizinischen Einschätzung hinsichtlich der Besserungsaussichten bei einer konsequenten Therapie, ganz wesentlich jedoch in der rechtlichen Zuordnung dieser Einschätzung zum Begriff des Leistungsfalls bzw. des sog. Behandlungsfalls.

Die Gutachter stimmen insoweit überein, dass bei der Klägerin zumindest seit dem Zeitpunkt der Rentenantragstellung Arbeitsunfähigkeit für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes bestanden hat. Strittig ist dabei nur, inwieweit die Klägerin zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung oder danach als sogenannter "Behandlungsfall" anzusehen ist. Dieser Terminus hat folgenden rechtlichen Hintergrund:

Nach der Rechtsprechung des BSG tritt der Leistungsfall für die Rentengewährung auch dann nicht ein, wenn zwar die Erwerbsfähigkeit zurzeit nicht besteht, aber durch eine Behandlung wieder hergestellt werden kann. (vgl. hierzu: BSG, Urteil vom 29. März 2006 – B 13 RJ 31/05 R –, BSGE 96, 147-153, SozR 4-2600 § 102 Nr. 2 Leitsatz: Die Behebung einer rentenberechtigenden Leistungsminderung ist nicht unwahrscheinlich mit der Folge, dass ausnahmsweise Rente wegen Erwerbsminderung als Dauerrente zu gewähren wäre, solange die therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft sind. Hierzu zählen alle anerkannten Behandlungsmethoden, auch geläufige Operationen, die zur Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit führen können, soweit nicht aus dem Gesundheitszustand des Versicherten abzuleitende spezifische Kontraindikationen entgegenstehen.)

Dies wird von einigen Sozialgerichten und deren Gutachtern so verstanden, dass, wenn eine Besserung durch ambulante oder stationäre Psychotherapie möglich ist, automatisch ein soge-nannter Behandlungsfall vorliegt, der eine Rentengewährung ausschließt. (vgl. z. B. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 21. Januar 2015 – L 19 R 394/10 –, juris RdNr. 74: "Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts werden psychische Erkrankungen erst dann rentenrechtlich relevant, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant und stationär) davon auszugehen ist, dass ein Versicherter die psychischen Einschränkungen dauerhaft nicht überwinden kann - weder aus eigener Kraft, noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe (BSG Urteil vom 12.09.1990 5 RJ 88/89; BSG Urteil vom 29.02.2006 - B 13 RJ 31/05 R - jeweils zitiert nach juris; BayLSG Urteil vom 21.03.2012 - L 19 R 35/08, Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 25. Mai 2016 – L 5 R 4194/13 –, juris). Von zentraler Bedeutung ist im vorliegenden Fall, dass bei den Erkrankungen des Klägers auf psychischem Gebiet nach Aussage praktisch aller ärztlichen Sachverständigen die Behandlungsoptionen tatsächlich noch nicht ausgeschöpft erscheinen und somit ein nicht mehr beeinflussbarer Gesundheitszustand in dieser Hinsicht nicht besteht")

Diese Aussage lässt sich aus der zitierten Rechtsprechung des BSG jedoch nicht herleiten. In der Entscheidung vom 29. März 2006 – B 13 RJ 31/05 R ging es um die Frage, ob bei be-stehender Behandlungsmöglichkeit eine Rente auf Dauer oder befristet zu gewähren ist.

In der älteren Entscheidung BSG, Urteil vom 12. September 1990 – 5 RJ 88/89 –, juris hat das BSG ausgeführt: Das BSG hat sich mit der Frage, inwieweit seelische Erkrankungen zu Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit führen können, mehrfach beschäftigt (BSG SozR Nrn. 38, 39, 76 zu § 1246 RVO). Seelisch bedingte Störungen sind danach wie eine körperliche Krankheit anzusehen, wenn sie durch Willensentschlüsse des Betroffenen nicht oder nicht mehr zu beheben sind (BSG SozR Nr 39 zu § 1246 Aa 28). Zu prüfen ist, ob der Versicherte die seelischen Hemmungen entweder aus eigener Kraft oder unter ärztlicher Mithilfe überwinden kann. Wenn das möglich ist, muss der Versicherte alle verfügbaren "Mittel seines Willens" einsetzen (BSG SozR Nr. 76 zu § 1246 Aa 69). Kann im Einzelfall die Prognose zuverlässig gestellt werden, dass die Ablehnung der Rente bei dem betroffenen Versicherten die neurotischen Erscheinungen ohne weiteres verschwinden lässt, dann muss die Rente versagt werden, weil es mit dem Sinn und Zweck der Rentengewährung bei Berufsunfähigkeit unvereinbar ist, dass gerade die Rentengewährung den Zustand aufrechterhält, dessen nachteilige Folgen sie ausgleichen soll (BSG SozR Nr. 39 zu § 1246 Aa 29). Die Vorschriften über die Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit (§§ 1236 ff RVO) zeigen den gegebenen Weg, um der Neurose in der Praxis zu begegnen. Diese Leistungen haben Vorrang vor der Rentengewährung. Der Rentenversicherungsträger soll dem Einzelnen nur in dem Maße und in der Weise helfend zur Seite stehen, als dieser der Hilfe bedarf, um die Fähigkeit verantwortlicher Selbstbestimmung zurückzugewinnen (BSG SozR Nr. 38 zu § 1246 RVO Aa 27 Rücks). (BSG, Urteil vom 12. September 1990 – 5 RJ 88/89 –, Rn. 17, juris) wurde die Sache zur weiteren Sachaufklärung zurückverwiesen. Dem erstinstanzlichen Urteil lag dabei folgende ärztliche Bewertung zugrunde: Die Klägerin könne durch ärztliche Behandlung teilweise aus der Fehlhaltung gelöst werden, und zwar durch eine ambulante nervenärztliche Behandlung mit kombinierter medikamentöser und psycho-therapeutischer Intervention. Eine Besserung durch eine solche Behandlung sei innerhalb von wenigen Wochen zu erzielen. (BSG, Urteil vom 12. September 1990 – 5 RJ 88/89 –, Rn. 4, juris).

Gerade aus der Entscheidung des BSG 29. März 2006 – B 13 RJ 31/05 R folgt aber, dass, sofern nicht innerhalb von 6 Monaten eine Besserung zu erwarten ist, eine befristete Rentengewährung in Betracht kommt.

Dies war nach Überzeugung der Kammer zu keinem Zeitpunkt nach Rentenantragstellung der Fall, denn auch durch eine Intensivierung der Therapie ab Mitte 2014, sowie eine teilstationäre psychiatrische Behandlung Anfang 2015 konnte tatsächlich keine Besserung des Ge-sundheitszustandes der Klägerin erreicht werden. Daher hält die Kammer die entsprechende Leistungseinschätzung des Gutachters Dr. C., der die Klägerin ab 10.06.2014 auch ambulant psychotherapeutisch behandelte jedenfalls aus der ex post Betrachtungsweise des Zeitpunktes der mündlichen Verhandlung für zutreffend.

Unabhängig davon war die Klägerin zumindest seit Zeitpunkt der Rententragstellung zu keinem Zeitpunkt in der Lage, einer Arbeit unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nachzugehen, ein Zustand der tatsächlich länger als 6 Monate bestand und somit einen Leistungsfall begründete. Auch hier hält die Kammer eine ex post Betrachtungsweise für geboten. Eine begriffslogisch denkbare Alternative, nämlich auch bei einem jahrelangen Zustand zu jedem Zeitpunkt dieses Zeitraums im Hinblick auf - im Nachhinein betrachtet - kontrafaktische potentielle Behandlungs- und Besserungsmöglichkeiten zu verneinen (wäre die Klägerin 2012 angemessen behandelt worden, hätte eine Besserungsmöglichkeit bestanden, wäre die Klägerin 2013 angemessen behandelt worden, hätte eine Besserungsmöglichkeit bestanden, wäre die Klägerin 2014 angemessen behandelt worden, hätte eine Besserungsmöglichkeit bestanden usw.) würde zu einer unangemessenen Risikoverlagerung zu Lasten der Versicherten führen, denn das Unterbleiben einer angemessenen psychotherapeutischen Behandlung ist vielfach nicht dem Patienten, sondern der fehlenden ärztlichen Beratung oder dem Fehlen von Therapieplätzen (gerade in ländlichen Bereichen wie dem Gerichtsbezirk des erkennenden Gerichts) zuzurechnen.

Die Unangemessenheit einer solchen Risikoverlagerung zeigt sich auch hier:

Die Klägerin hat sich einer entsprechenden Behandlung nicht verweigert, sondern war seit Mai 2013 in nervenärztlicher und psychiatrischer Behandlung. Die Anregung des Gutachters Dr ..., 2014 der Klägerin ggfs. eine stationäre psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme anzubieten, hat die Beklagte nicht aufgegriffen.

Es ist gemäß § 8 SGB IX die gesetzliche Aufgabe der Beklagten als Sozialleistungs- und Re-habilitationsträger möglichst frühzeitig die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten. Die Prü-fungspflicht nach Absatz 1 und der Vorrang von Teilhabeleistungen nach Absatz 2 dienen der Aktivierung gesundheitlich eingeschränkter Personen zur Steigerung ihrer Beschäftigungsfähigkeit und sozialen Teilhabe. Ziel ist, möglichst frühzeitig einen Antrag auf Teilhabeleistungen oder ein von Amts wegen zu führendes Verfahren auszulösen, trägerübergreifend den Rehabilitationsbedarf zu prüfen und erforderliche Leistungen zu erbringen (Luthe in: Schle-gel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 2. Aufl. 2015, § 8 SGB IX, Rn. 9).

Sofern ein Versicherter seine Mitwirkung verweigert, hat der Gesetzgeber in § 66 Abs. 2 SGB I eine Versagungsmöglichkeit vorgesehen (auch im Hinblick auf notwendige medizinische Behandlungen). Für diesen Fall und im Rahmen des Versagungsverfahrens hat der Gesetzgeber dem Versicherten das Risiko der Folgen des Unterbleibens einer notwendigen Behandlung auferlegt.

In § 8 SGB IX und § 66 SGB I kommt das Leitbild einer Risikoverteilung zum Ausdruck, die nur unter den in § 66 geregelten Umständen zu Lasten des Versicherten geht, nicht aber wenn das Unterbleiben einer erforderlichen Behandlung oder Rehamaßnahme, den Umständen, einem Dritten oder den Sozialleitungsträgen zuzurechnen ist. Nebenbei bemerkt hat auch das BSG im Urteil vom 12. September 1990 – 5 RJ 88/89 - doppeldeutig - von einer Versagung gesprochen.

Zum von der Kammer festgestellten Zeitpunkt des Leistungsfalls waren die versicherungs-rechtlichen Voraussetzungen erfüllt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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