Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
5
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 4 KA 4403/13
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 5 KA 3515/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 23.07.2015 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 5.000 EUR endgültig festgesetzt.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen eine Disziplinarmaßnahme (Verweis).
Der 1950 geborene Kläger nimmt seit 29.06.1994 (Approbation als Arzt am 06.08.1993) mit einem vollen Versorgungsauftrag in Einzelpraxis an der vertragsärztlichen Versorgung teil (seit 01.01.1996 hausärztlicher Versorgungsbereich). Zum 14.01.2002 erwarb er die Fachgebietsbezeichnung "Facharzt für Allgemeinmedizin".
Mit Bescheid vom 19.07.2007 forderte die Beklagte Honorar für die Quartale 1/2004 bis 4/2006 i.H.v. 19.721,19 EUR zurück. Eine auf Antrag der A. durchgeführte Prüfung habe ergeben, dass der Kläger Vorsorgeuntersuchungen (Krebsfrüherkennungsuntersuchungen, Gesundheitsuntersuchungen) unter Verstoß gegen die einschlägigen Regelungen des Sozialgesetzbuchs Fünftes Buch (SGB V) und des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für vertragsärztliche Leistungen (EBM) im jeweiligen Abrechnungszeitraum mehrfach abgerechnet habe. Ihr Vorstand behalte sich weitere Maßnahmen vor.
Mit Schreiben vom 18.08.2007 erhob der Kläger Widerspruch. Er habe die Vorsorgeuntersuchungen wegen des jeweiligen Beschwerdekomplexes, der Wünsche der Patienten und der medizinischen Notwendigkeit durchgeführt. Bei einer Fortbildungsveranstaltung der Beklagten sei mitgeteilt worden, Hausärzte dürften erneute Vorsorgeuntersuchungen auch vor Ablauf von 2 Jahren durchführen, wenn das medizinisch notwendig sei.
Mit Schreiben vom 15.11.2007 teilte die Beklagte dem Kläger mit, die Honorarabrechnung für das Quartal 1/2007 sei einer Plausibilitätsprüfung unterzogen worden; die Abrechnung sei plausibel. Bei der Plausibilitätsprüfung der genannten Honorarabrechnung sei aufgefallen, dass der Kläger Präventionsberatungen nach Gebührenordnungsposition (GOP) 99830 EBM 2000plus in deutlich mehr Fällen als die Fachgruppe abgerechnet habe. Im Gegensatz dazu werde die Ausstellung der Präventionsempfehlung nach GOP 99831 EBM 2000plus nur in sehr geringem Umfang abgerechnet. Der Verdacht auf fehlende Plausibilität habe anhand der vorgelegten 20 Patientendokumentationen vollständig ausgeräumt werden können.
Am 26.03.2008 beschloss der Vorstand der Beklagten, beim Disziplinarausschuss die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen den Kläger zu beantragen. Die Angaben des Klägers zu Schulungen der Beklagten seien nicht glaubhaft. Die Zahl der Fehlansätze und die Äußerungen des Klägers, der die maßgeblichen Abrechnungsfristen offenbar gekannt habe, wiesen auf zumindest grob schuldhaftes Verhalten hin.
Mit Widerspruchsbescheid vom 01.09.2008 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen den Rückforderungsbescheid vom 19.07.2007 zurück.
Am 30.09.2008 erhob der Kläger Klage gegen den Rückforderungsbescheid vom 19.07.2007 (Widerspruchsbescheid vom 01.09.2008) beim Sozialgericht Stuttgart (SG, Verfahren S 11 KA 6559/08). Die Beklagte trat der Klage entgegen.
Mit Schreiben vom 13.10.2009 teilte die Beklagte dem Kläger mit, gegen ihn werde ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Er habe in den Quartalen 1/2004 bis 4/2006 Gesundheitsuntersuchungen insgesamt 638mal zu Unrecht abgerechnet. Angesichts der Zahl von Fehlansätzen und in der Gesamtschau mit den Einlassungen des Klägers im Rahmen des Rückforderungsverfahrens müsse womöglich von nicht nur fahrlässigem Verhalten ausgegangen werden. Der Kläger erhalte Gelegenheit zur Stellungnahme bis 30.10.2009.
Mit Schreiben vom 28.10.2009 trug der Kläger vor, er weise alle Behauptungen über seine medizinischen Leistungen zurück. Man möge für jeden Patienten Einzelabrechnungen vorlegen, damit er und die Patienten die Honorarsituation in seinem Fall und im Durchschnitt vergleichen könnten. Die nicht vergüteten Leistungen werde er den Patienten als privatärztliche Leistungen in Rechnung stellen. Bei einem im Jahr 1994 abgehaltenen Vorbereitungsseminar der Beklagten sei erklärt worden, Gesundheitsuntersuchungen könnten grundsätzlich vor Ablauf von 2 Jahren erbracht und abgerechnet werden, wenn der Patient darauf bestehe oder der Arzt das für notwendig halte. In ihm von Patienten vorgelegten Werbebriefen der Krankenkassen sei darauf hingewiesen worden, man könne kostenlos einen jährlichen "Check-up" durchführen lassen.
Mit Urteil vom 17.06.2010 (- S 11 KA 6559/08 -) wies das SG die Klage des Klägers gegen den Rückforderungsbescheid vom 19.07.2007 (Widerspruchsbescheid vom 01.09.2008) ab.
Am 01.08.2010 legte der Kläger Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg ein (Verfahren L 5 KA 3569/10).
Mit Bescheid vom 12.04.2010 forderte die Beklagte Honorar für die Quartale 4/2005 bis 4/2006 i.H.v. 397,15 EUR wegen zu Unrecht abgerechneter Vorsorgeuntersuchungen zurück. Man verweise auf den Rückforderungsbescheid vom 19.07.2007; bei weiteren Prüfungen seien zusätzliche, in dem genannten Bescheid noch nicht berücksichtigte Fälle festgestellt worden.
Mit Beschluss vom 28.09.2011 setzte der Disziplinarausschuss das Disziplinarverfahren gegen den Kläger im Hinblick auf das anhängige Berufungsverfahren (L 5 KA 3569/10) gegen den Rückforderungsbescheid vom 19.07.2007 aus.
Mit Urteil vom 29.08.2012 (- L 5 KA 3569/10 -) wies das LSG Baden-Württemberg die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG vom 17.06.2010 (- S 11 KA 6559/08 -) zurück. Das Urteil ist rechtskräftig.
Mit Schreiben vom 05.12.2012 teilte die Beklagte dem Kläger mit, das ruhende Disziplinarverfahren werde wieder angerufen.
Mit Schreiben vom 13.05.2013 wurde der Kläger zur mündlichen Verhandlung des Disziplinarausschusses am 19.06.2013 geladen.
Mit Schreiben vom 03.06.2013 teilte der damalige Verfahrensbevollmächtigte des Klägers der Beklagten die Beendigung seines Mandats mit.
Mit Schreiben vom 05.06.2013 stellte der Kläger einen Terminsverlegungsantrag; er wolle einen anderen Verfahrensbevollmächtigten mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragen. Er betreibe eine Praxis mit überdurchschnittlicher Fallzahl. Die Versorgung der Patienten habe Vorrang. Man möge die mündliche Verhandlung um 4 Monate verschieben.
Mit Schreiben vom 06.06.2013 lehnte die Beklagte den Terminsverlegungsantrag ab; ein erheblicher Grund für eine Terminsverlegung liege nicht vor.
Am 19.06.2013 fand die mündliche Verhandlung des Disziplinarausschusses statt. Der Kläger nahm an der mündlichen Verhandlung nicht teil.
Mit Beschluss vom 19.06.2013/Disziplinarbescheid vom 03.07.2013 stellte der Disziplinarausschuss fest, dass der Kläger seine Pflichten als Vertragsarzt verletzt habe und erteilte ihm einen Verweis. Der Kläger habe mit der fehlerhaften Abrechnung von Vorsorgeuntersuchungen (635 fehlerhafte Abrechnungen in den Quartalen 1/2004 bis 4/2006) die vertragsärztliche (Grund-)Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung verletzt. Insoweit sei von fahrlässigem Verhalten auszugehen. Dass er die fehlerhaft abgerechneten Leistungen tatsächlich erbracht habe, sei unerheblich. Der Kläger habe die Abrechnungsfristen für Vorsorgeuntersuchungen nicht eingehalten. Das habe die Beklagte - aus datenschutzrechtlichen Gründen - nicht überprüfen können; hierzu seien nur die Krankenkassen befugt. Man habe dem Kläger daher entsprechende Hinweise nicht erteilen können. Die fehlerhafte Abrechnung sei weder in vorsätzlicher Bereicherungsabsicht noch grob fahrlässig, sondern fahrlässig vorgenommen worden, indem sich der Kläger von der Einhaltung der Abrechnungsfristen nicht überzeugt habe. Soweit der Kläger geltend mache, bei einem Vorbereitungsseminar im Jahr 1994 sei erklärt worden, die Vorsorgeuntersuchungen dürften bei entsprechendem Patientenwunsch oder medizinischer Notwendigkeit auch vor Ablauf von 2 Jahren (wiederholt) durchgeführt werden, und er habe deswegen angenommen, rechtsfehlerfrei abzurechnen, brauche das Vorliegen eines Irrtums nicht abschließend geklärt zu werden, da es sich allenfalls um einen vermeidbaren Verbotsirrtum handeln würde. Bei der Auswahl der Disziplinarmaßnahme sei man davon ausgegangen, dass der in Rede stehende Fehler als schwerwiegend einzustufen sei. Die vertragsärztliche Leistungserbringung beruhe in hohem Maße auf dem Vertrauen zu den Leistungserbringern und der Richtigkeit der Leistungsabrechnung. Deswegen bestehe eine besondere Sorgfaltspflicht, nur Leistungen abzurechnen, die in vollem Umfang den gesetzlichen und vertraglichen Vorgaben entsprächen. Zu Gunsten des Klägers werde berücksichtigt, dass er zum ersten Mal disziplinarisch aufgefallen sei. Unter Berücksichtigung aller Umstände werde ein Verweis für ausreichend erachtet, um den Kläger zukünftig zu veranlassen, sich strikt an die einschlägigen Bestimmungen zu halten und auch dafür Sorge zu tragen, künftig besondere Sorgfalt bezüglich der Leistungserbringung anzuwenden.
Am 01.08.2013 erhob der Kläger Klage beim SG. Er habe bei mehreren Patienten Vorsorgeuntersuchungen bewusst mehr als einmal in 2 Jahren durchgeführt. Vor der Praxiseröffnung habe er ein (Vorbereitungs-)Seminar der (Rechtsvorgängerin der) Beklagten besucht. Dort sei mitgeteilt worden, dass Gesundheitsuntersuchungen normalerweise alle zwei Jahre durchzuführen seien. Wenn jedoch ein Patient darauf bestehe, dürften diese Untersuchungen auch öfter erbracht werden. Das sei deutlich betont worden. Dadurch würden die Kosten für stationäre Behandlungen, Facharztbehandlungen und Arzneimittel geringgehalten. Bei der Honorarabrechnung werde auf diese Kriterien geachtet. Danach habe er gehandelt. Er habe deutlich weniger Krankenhauseinweisungen (Abweichung zur Fachgruppe -47%).
Die Beklagte trat der Klage unter Bezugnahme auf die Begründung des Disziplinarbescheids entgegen. Der Kläger habe die Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung fahrlässig verletzt (vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 29.08.2012, - L 5 KA 3569/10 -). Er habe Vorsorgeuntersuchungen in einigen Fällen sogar in unmittelbar aufeinander folgenden Quartalen erbracht und abgerechnet. Auf etwaige (Falsch-)Auskünfte in dem vom Kläger erwähnten (Vorbereitungs-)Seminar komme es nicht an. Vertrauensschutz folge daraus nicht. Mit einem Verweis sei das Fehlverhalten des Klägers angemessen und ermessensfehlerfrei sanktioniert.
Mit Urteil vom 23.07.2015 hob das SG den Disziplinarbescheid vom 03.07.2013 auf. Zur Begründung führte es aus, der Disziplinarbescheid sei rechtswidrig. Er beruhe auf § 81 Abs. 5 SGB V i.V.m. § 3 Abs. 2 der Satzung der Beklagten und den Vorschriften ihrer Disziplinarordnung (DiszO, insbesondere § 13 Abs. lc DiszO). Danach könne die Beklagte gegenüber ihren Mitgliedern, die ihre vor allem aus dem Gesetz und der Satzung folgenden Pflichten nicht ordnungsgemäß erfüllten, Disziplinarmaßnahmen verhängen. Als Disziplinarmaßnahme komme je nach Schwere der Verfehlung eine Verwarnung, ein Verweis, eine Geldbuße bis 10.000,- EUR oder die Anordnung des Ruhens der Zulassung bis zu 2 Jahren in Betracht (§ 13 Abs. 1 DiszO). Die gegen den Kläger verhängte Disziplinarmaßnahme sei unabhängig davon, ob er die Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung schuldhaft verletzt habe oder nicht, jedenfalls unverhältnismäßig. Sie habe ihren Zweck, den Kläger zu einem pflichtgemäßen Verhalten anzuhalten, nämlich nicht mehr erreichen können. Bereits bei Mitteilung der Einleitung des Disziplinarverfahrens im Oktober 2009 habe das beanstandete (Abrechnungs-)Verhalten zwischen 3 und 5 Jahren zurückgelegen, bei Erlass des Disziplinarbescheides sogar zwischen 7 und 9 Jahren. Zudem habe die Beklagte dem Kläger vor Einleitung des Disziplinarverfahrens eine plausible Abrechnung bescheinigt. Die verhängte Disziplinarmaßnahme sei daher bei Ergehen des Disziplinarbescheids nicht mehr erforderlich gewesen, um den Kläger zu pflichtgemäßer Abrechnung anzuhalten. Die Disziplinarmaßnahme sei zudem auch unangemessen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) könne und müsse sich eine überlange Verfahrensdauer bei solchen Disziplinarmaßnahmen als Milderungsgrund auswirken, die, wie hier, der Pflichtenmahnung dienten. Dabei stehe die Überlegung im Vordergrund, dass das Disziplinarverfahren als solches belastend sei und der von ihm ausgehende andauernde Druck und die mit ihm verbundenen Nachteile bereits pflichtenmahnende Wirkung hätten. Deswegen sei eine pflichtenmahnende Disziplinarmaßnahme unvereinbar mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn das Disziplinarverfahren unverhältnismäßig lange dauere (Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.02.2015, - OVG 80 d 2.12 -, in juris). Bei Fortbestand des Pflichtenverhältnisses könne das durch ein Vergehen ausgelöste Sanktionsbedürfnis gemindert werden oder sogar - wie im vorliegenden Fall - entfallen, weil die mit dem Disziplinarverfahren verbundenen Nachteile positiv auf den Betroffenen eingewirkt hätten (BVerwG, Beschluss vom 11.05.2010, - 2 B 5.10 -, in juris; OVG Berlin-Brandenburg, a.a.O.). Hier stelle sich die Dauer des Verfahrens mit teilweise bis zu 9 Jahren nach der Pflichtverletzung als unverhältnismäßig lang dar, was mit dem im Disziplinarrecht geltenden Beschleunigungsgebot unvereinbar sei. Das gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Kläger nach dem Rückforderungsbescheid vom 19.07.2007 sein Abrechnungsverhalten korrigiert habe, was die Beklagte ihm auch bestätigt habe.
Gegen das ihr am 03.08.2015 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 20.08.2015 Berufung eingelegt. Sie trägt unter Bezugnahme auf die Begründung des Disziplinarbescheids vor, der Disziplinarbescheid sei rechtmäßig, verstoße insbesondere nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Er könne seinen Zweck, den Kläger zu pflichtgemäßer Abrechnung anzuhalten, noch erreichen. Der Kläger sei nach wie vor vertragsärztlich tätig und könne Vorsorgeuntersuchungen auch jederzeit erbringen und abrechnen, da eine Abrechnungsgenehmigung hierfür nicht erforderlich sei. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wäre daher allenfalls dann verletzt, wenn der Kläger über die (hier nicht notwendige) Abrechnungsgenehmigung nicht mehr verfügte oder sie die (hier nicht notwendige und daher auch nicht erteilte) Abrechnungsgenehmigung widerrufen hätte. Das Disziplinarverfahren sei mit der gebotenen Beschleunigung durchgeführt worden. Man habe den Ausgang des Rechtsstreits gegen den Rückforderungsbescheid vom 19.07.2007 abwarten und das Disziplinarverfahren so lange aussetzen dürfen (§ 8 DiszO). Eine überlange Verfahrensdauer liege nicht vor und die verhängte Disziplinarmaßnahme sei nicht unangemessen. Das LSG Baden-Württemberg habe im Urteil vom 29.08.2012 (- L 5 KA 3569/10 -) bestätigt, dass die seinerzeit verfügte Honorarrückforderung rechtmäßig sei. Das sei Grundlage des Disziplinarbescheids. Das SG habe nicht bedacht, aus welchen Gründen es zu der (seiner Auffassung nach) überlangen Verfahrensdauer gekommen sei. Aus den vom SG angeführten Entscheidungen des BVerwG und des OVG Berlin-Brandenburg gehe hervor, dass sich eine überlange Verfahrensdauer bei den der Pflichtenmahnung dienenden Disziplinarmaßnahmen nur "unter Umständen" und nicht pauschal als Milderungsgrund auswirken müsse. Man müsse auch die Gründe, die zu der langen Verfahrensdauer geführt hätten, berücksichtigen. Hier sei die Aussetzung des Disziplinarverfahrens angezeigt gewesen. Im Fall des OVG Berlin-Brandenburg (a.a.O.) habe auch zugleich strafbares Verhalten eines Beamten vorgelegen. Unerheblich sei, dass man dem Kläger (mit Schreiben vom 15.11.2007) plausibles Abrechnungsverhalten bescheinigt habe, da dem Disziplinarbescheid keine Plausibilitätsprüfung, sondern eine nachgehende sachlich-rechnerische Berichtigung fehlerhafter Abrechnungen in den Quartalen 1/2004 bis 4/2006 zugrunde liege. Der Kläger habe die Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung fahrlässig verletzt, indem er sich nicht davon überzeugt habe, ob die jeweils für die Abrechnung der Vorsorgeleistungen geltenden zeitlichen Intervalle eingehalten seien. Erst mit Ergehen des Urteils des LSG Baden-Württemberg vom 29.08.2012 (- L 5 KA 3569/10 -) habe die Pflichtverletzung festgestanden und man habe den Kläger auch erst zu diesem Zeitpunkt zu pflichtgemäßem Verhalten ermahnen und anhalten können.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 23.07.2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Er habe sein Abrechnungsverhalten nach Ergehen des Rückforderungsbescheids vom 19.07.2007, also schon 6 Jahre vor Ergehen des Disziplinarbescheids, korrigiert; das habe die Beklagte auch bestätigt.
Am 12.04.2017 hat eine Erörterungsverhandlung stattgefunden. Die Beklagte hat erklärt, die Rücknahme der Berufung komme nicht in Betracht.
Die Beteiligten haben sich mit einer Senatsentscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des SG und des Senats Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Im Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).
Die Berufung der Beklagten ist gemäß §§ 143, 144, 151 SGG statthaft und auch sonst zulässig, jedoch nicht begründet. Das SG hat den Disziplinarbescheid vom 03.07.2013 zu Recht aufgehoben. Der Senat teilt die Rechtsauffassung des SG, wonach der Disziplinarbescheid gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt, weil er seinen Zweck, den Kläger zu (künftigem) pflichtgemäßem Verhalten anzuhalten, nicht mehr erfüllen kann, hierfür also ungeeignet ist. Der Senat nimmt auf die entsprechenden Ausführungen in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG). Ergänzend ist anzumerken:
Der Disziplinarbescheid vom 03.07.2013 (Beschluss vom 19.06.2013) hat (weder vorsätzliches noch grob fahrlässiges, sondern fahrlässiges) Fehlverhalten des Klägers in der Zeit vom Quartal 1/2004 bis zum Quartal 4/2006 sanktioniert. Ab dem Quartal 1/2007 hat der Kläger das sanktionierte Fehlverhalten beendet. Seitdem erbringt er Vorsorgeuntersuchungen nach Maßgabe der hierfür geltenden Vorschriften; bei einer Plausibilitätsprüfung der Honorarabrechnungen des Klägers im Quartal 1/2007 (dazu das Schreiben der Beklagten vom 15.11.2007: Verdacht auf fehlende Plausibilität vollständig ausgeräumt) und ersichtlich auch in der Folgezeit ist Anderes jedenfalls nicht festgestellt worden. Der vom Disziplinarausschuss im Juni 2013 und damit 6 ½ Jahre nach dem beendeten Fehlverhalten des Klägers (zuletzt) im Quartal 4/2006 ausgesprochene Verweis als Tadel pflichtwidrigen Verhaltens mit der Aufforderung zu gehöriger Pflichterfüllung (§ 13 Abs. 1 Satz 2 DiszO) hat den mit ihm (konkret) bezweckten Erfolg, nämlich den Kläger - so der Disziplinarbescheid vom 03.07.2013 - zukünftig zu veranlassen, sich strikt an die einschlägigen Bestimmungen zu halten, nicht mehr erreichen können und ist deshalb als hierfür ungeeignete und damit insgesamt unverhältnismäßige Maßnahme rechtswidrig; unerheblich ist, dass Disziplinarmaßnahmen im Allgemeinen neben spezialpräventiven auch generalpräventive Zwecke verfolgen können (vgl. Hauck/Noftz, SGB V § 81 Rdnr. 36). Ob der im Disziplinarbescheid ausgesprochene Verweis, wie das SG angenommen hat, zudem unangemessen gewesen ist, weil schon die Dauer des Disziplinarverfahrens ausreichende pflichtenmahnende Wirkung gehabt hat, kann der Senat offen lassen; es kommt entscheidungserheblich hierauf nicht mehr an. Unerheblich ist auch, dass der Kläger nach wie vor vertragsärztlich tätig ist und Vorsorgeuntersuchungen erbringen und abrechnen darf.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG; zur Streitwertfestsetzung in Disziplinarverfahren BSG, Beschluss vom 01.02.2005, - B 6 KA 70/04 B -, in juris Rdnr. 7).
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 5.000 EUR endgültig festgesetzt.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen eine Disziplinarmaßnahme (Verweis).
Der 1950 geborene Kläger nimmt seit 29.06.1994 (Approbation als Arzt am 06.08.1993) mit einem vollen Versorgungsauftrag in Einzelpraxis an der vertragsärztlichen Versorgung teil (seit 01.01.1996 hausärztlicher Versorgungsbereich). Zum 14.01.2002 erwarb er die Fachgebietsbezeichnung "Facharzt für Allgemeinmedizin".
Mit Bescheid vom 19.07.2007 forderte die Beklagte Honorar für die Quartale 1/2004 bis 4/2006 i.H.v. 19.721,19 EUR zurück. Eine auf Antrag der A. durchgeführte Prüfung habe ergeben, dass der Kläger Vorsorgeuntersuchungen (Krebsfrüherkennungsuntersuchungen, Gesundheitsuntersuchungen) unter Verstoß gegen die einschlägigen Regelungen des Sozialgesetzbuchs Fünftes Buch (SGB V) und des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für vertragsärztliche Leistungen (EBM) im jeweiligen Abrechnungszeitraum mehrfach abgerechnet habe. Ihr Vorstand behalte sich weitere Maßnahmen vor.
Mit Schreiben vom 18.08.2007 erhob der Kläger Widerspruch. Er habe die Vorsorgeuntersuchungen wegen des jeweiligen Beschwerdekomplexes, der Wünsche der Patienten und der medizinischen Notwendigkeit durchgeführt. Bei einer Fortbildungsveranstaltung der Beklagten sei mitgeteilt worden, Hausärzte dürften erneute Vorsorgeuntersuchungen auch vor Ablauf von 2 Jahren durchführen, wenn das medizinisch notwendig sei.
Mit Schreiben vom 15.11.2007 teilte die Beklagte dem Kläger mit, die Honorarabrechnung für das Quartal 1/2007 sei einer Plausibilitätsprüfung unterzogen worden; die Abrechnung sei plausibel. Bei der Plausibilitätsprüfung der genannten Honorarabrechnung sei aufgefallen, dass der Kläger Präventionsberatungen nach Gebührenordnungsposition (GOP) 99830 EBM 2000plus in deutlich mehr Fällen als die Fachgruppe abgerechnet habe. Im Gegensatz dazu werde die Ausstellung der Präventionsempfehlung nach GOP 99831 EBM 2000plus nur in sehr geringem Umfang abgerechnet. Der Verdacht auf fehlende Plausibilität habe anhand der vorgelegten 20 Patientendokumentationen vollständig ausgeräumt werden können.
Am 26.03.2008 beschloss der Vorstand der Beklagten, beim Disziplinarausschuss die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen den Kläger zu beantragen. Die Angaben des Klägers zu Schulungen der Beklagten seien nicht glaubhaft. Die Zahl der Fehlansätze und die Äußerungen des Klägers, der die maßgeblichen Abrechnungsfristen offenbar gekannt habe, wiesen auf zumindest grob schuldhaftes Verhalten hin.
Mit Widerspruchsbescheid vom 01.09.2008 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen den Rückforderungsbescheid vom 19.07.2007 zurück.
Am 30.09.2008 erhob der Kläger Klage gegen den Rückforderungsbescheid vom 19.07.2007 (Widerspruchsbescheid vom 01.09.2008) beim Sozialgericht Stuttgart (SG, Verfahren S 11 KA 6559/08). Die Beklagte trat der Klage entgegen.
Mit Schreiben vom 13.10.2009 teilte die Beklagte dem Kläger mit, gegen ihn werde ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Er habe in den Quartalen 1/2004 bis 4/2006 Gesundheitsuntersuchungen insgesamt 638mal zu Unrecht abgerechnet. Angesichts der Zahl von Fehlansätzen und in der Gesamtschau mit den Einlassungen des Klägers im Rahmen des Rückforderungsverfahrens müsse womöglich von nicht nur fahrlässigem Verhalten ausgegangen werden. Der Kläger erhalte Gelegenheit zur Stellungnahme bis 30.10.2009.
Mit Schreiben vom 28.10.2009 trug der Kläger vor, er weise alle Behauptungen über seine medizinischen Leistungen zurück. Man möge für jeden Patienten Einzelabrechnungen vorlegen, damit er und die Patienten die Honorarsituation in seinem Fall und im Durchschnitt vergleichen könnten. Die nicht vergüteten Leistungen werde er den Patienten als privatärztliche Leistungen in Rechnung stellen. Bei einem im Jahr 1994 abgehaltenen Vorbereitungsseminar der Beklagten sei erklärt worden, Gesundheitsuntersuchungen könnten grundsätzlich vor Ablauf von 2 Jahren erbracht und abgerechnet werden, wenn der Patient darauf bestehe oder der Arzt das für notwendig halte. In ihm von Patienten vorgelegten Werbebriefen der Krankenkassen sei darauf hingewiesen worden, man könne kostenlos einen jährlichen "Check-up" durchführen lassen.
Mit Urteil vom 17.06.2010 (- S 11 KA 6559/08 -) wies das SG die Klage des Klägers gegen den Rückforderungsbescheid vom 19.07.2007 (Widerspruchsbescheid vom 01.09.2008) ab.
Am 01.08.2010 legte der Kläger Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg ein (Verfahren L 5 KA 3569/10).
Mit Bescheid vom 12.04.2010 forderte die Beklagte Honorar für die Quartale 4/2005 bis 4/2006 i.H.v. 397,15 EUR wegen zu Unrecht abgerechneter Vorsorgeuntersuchungen zurück. Man verweise auf den Rückforderungsbescheid vom 19.07.2007; bei weiteren Prüfungen seien zusätzliche, in dem genannten Bescheid noch nicht berücksichtigte Fälle festgestellt worden.
Mit Beschluss vom 28.09.2011 setzte der Disziplinarausschuss das Disziplinarverfahren gegen den Kläger im Hinblick auf das anhängige Berufungsverfahren (L 5 KA 3569/10) gegen den Rückforderungsbescheid vom 19.07.2007 aus.
Mit Urteil vom 29.08.2012 (- L 5 KA 3569/10 -) wies das LSG Baden-Württemberg die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG vom 17.06.2010 (- S 11 KA 6559/08 -) zurück. Das Urteil ist rechtskräftig.
Mit Schreiben vom 05.12.2012 teilte die Beklagte dem Kläger mit, das ruhende Disziplinarverfahren werde wieder angerufen.
Mit Schreiben vom 13.05.2013 wurde der Kläger zur mündlichen Verhandlung des Disziplinarausschusses am 19.06.2013 geladen.
Mit Schreiben vom 03.06.2013 teilte der damalige Verfahrensbevollmächtigte des Klägers der Beklagten die Beendigung seines Mandats mit.
Mit Schreiben vom 05.06.2013 stellte der Kläger einen Terminsverlegungsantrag; er wolle einen anderen Verfahrensbevollmächtigten mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragen. Er betreibe eine Praxis mit überdurchschnittlicher Fallzahl. Die Versorgung der Patienten habe Vorrang. Man möge die mündliche Verhandlung um 4 Monate verschieben.
Mit Schreiben vom 06.06.2013 lehnte die Beklagte den Terminsverlegungsantrag ab; ein erheblicher Grund für eine Terminsverlegung liege nicht vor.
Am 19.06.2013 fand die mündliche Verhandlung des Disziplinarausschusses statt. Der Kläger nahm an der mündlichen Verhandlung nicht teil.
Mit Beschluss vom 19.06.2013/Disziplinarbescheid vom 03.07.2013 stellte der Disziplinarausschuss fest, dass der Kläger seine Pflichten als Vertragsarzt verletzt habe und erteilte ihm einen Verweis. Der Kläger habe mit der fehlerhaften Abrechnung von Vorsorgeuntersuchungen (635 fehlerhafte Abrechnungen in den Quartalen 1/2004 bis 4/2006) die vertragsärztliche (Grund-)Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung verletzt. Insoweit sei von fahrlässigem Verhalten auszugehen. Dass er die fehlerhaft abgerechneten Leistungen tatsächlich erbracht habe, sei unerheblich. Der Kläger habe die Abrechnungsfristen für Vorsorgeuntersuchungen nicht eingehalten. Das habe die Beklagte - aus datenschutzrechtlichen Gründen - nicht überprüfen können; hierzu seien nur die Krankenkassen befugt. Man habe dem Kläger daher entsprechende Hinweise nicht erteilen können. Die fehlerhafte Abrechnung sei weder in vorsätzlicher Bereicherungsabsicht noch grob fahrlässig, sondern fahrlässig vorgenommen worden, indem sich der Kläger von der Einhaltung der Abrechnungsfristen nicht überzeugt habe. Soweit der Kläger geltend mache, bei einem Vorbereitungsseminar im Jahr 1994 sei erklärt worden, die Vorsorgeuntersuchungen dürften bei entsprechendem Patientenwunsch oder medizinischer Notwendigkeit auch vor Ablauf von 2 Jahren (wiederholt) durchgeführt werden, und er habe deswegen angenommen, rechtsfehlerfrei abzurechnen, brauche das Vorliegen eines Irrtums nicht abschließend geklärt zu werden, da es sich allenfalls um einen vermeidbaren Verbotsirrtum handeln würde. Bei der Auswahl der Disziplinarmaßnahme sei man davon ausgegangen, dass der in Rede stehende Fehler als schwerwiegend einzustufen sei. Die vertragsärztliche Leistungserbringung beruhe in hohem Maße auf dem Vertrauen zu den Leistungserbringern und der Richtigkeit der Leistungsabrechnung. Deswegen bestehe eine besondere Sorgfaltspflicht, nur Leistungen abzurechnen, die in vollem Umfang den gesetzlichen und vertraglichen Vorgaben entsprächen. Zu Gunsten des Klägers werde berücksichtigt, dass er zum ersten Mal disziplinarisch aufgefallen sei. Unter Berücksichtigung aller Umstände werde ein Verweis für ausreichend erachtet, um den Kläger zukünftig zu veranlassen, sich strikt an die einschlägigen Bestimmungen zu halten und auch dafür Sorge zu tragen, künftig besondere Sorgfalt bezüglich der Leistungserbringung anzuwenden.
Am 01.08.2013 erhob der Kläger Klage beim SG. Er habe bei mehreren Patienten Vorsorgeuntersuchungen bewusst mehr als einmal in 2 Jahren durchgeführt. Vor der Praxiseröffnung habe er ein (Vorbereitungs-)Seminar der (Rechtsvorgängerin der) Beklagten besucht. Dort sei mitgeteilt worden, dass Gesundheitsuntersuchungen normalerweise alle zwei Jahre durchzuführen seien. Wenn jedoch ein Patient darauf bestehe, dürften diese Untersuchungen auch öfter erbracht werden. Das sei deutlich betont worden. Dadurch würden die Kosten für stationäre Behandlungen, Facharztbehandlungen und Arzneimittel geringgehalten. Bei der Honorarabrechnung werde auf diese Kriterien geachtet. Danach habe er gehandelt. Er habe deutlich weniger Krankenhauseinweisungen (Abweichung zur Fachgruppe -47%).
Die Beklagte trat der Klage unter Bezugnahme auf die Begründung des Disziplinarbescheids entgegen. Der Kläger habe die Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung fahrlässig verletzt (vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 29.08.2012, - L 5 KA 3569/10 -). Er habe Vorsorgeuntersuchungen in einigen Fällen sogar in unmittelbar aufeinander folgenden Quartalen erbracht und abgerechnet. Auf etwaige (Falsch-)Auskünfte in dem vom Kläger erwähnten (Vorbereitungs-)Seminar komme es nicht an. Vertrauensschutz folge daraus nicht. Mit einem Verweis sei das Fehlverhalten des Klägers angemessen und ermessensfehlerfrei sanktioniert.
Mit Urteil vom 23.07.2015 hob das SG den Disziplinarbescheid vom 03.07.2013 auf. Zur Begründung führte es aus, der Disziplinarbescheid sei rechtswidrig. Er beruhe auf § 81 Abs. 5 SGB V i.V.m. § 3 Abs. 2 der Satzung der Beklagten und den Vorschriften ihrer Disziplinarordnung (DiszO, insbesondere § 13 Abs. lc DiszO). Danach könne die Beklagte gegenüber ihren Mitgliedern, die ihre vor allem aus dem Gesetz und der Satzung folgenden Pflichten nicht ordnungsgemäß erfüllten, Disziplinarmaßnahmen verhängen. Als Disziplinarmaßnahme komme je nach Schwere der Verfehlung eine Verwarnung, ein Verweis, eine Geldbuße bis 10.000,- EUR oder die Anordnung des Ruhens der Zulassung bis zu 2 Jahren in Betracht (§ 13 Abs. 1 DiszO). Die gegen den Kläger verhängte Disziplinarmaßnahme sei unabhängig davon, ob er die Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung schuldhaft verletzt habe oder nicht, jedenfalls unverhältnismäßig. Sie habe ihren Zweck, den Kläger zu einem pflichtgemäßen Verhalten anzuhalten, nämlich nicht mehr erreichen können. Bereits bei Mitteilung der Einleitung des Disziplinarverfahrens im Oktober 2009 habe das beanstandete (Abrechnungs-)Verhalten zwischen 3 und 5 Jahren zurückgelegen, bei Erlass des Disziplinarbescheides sogar zwischen 7 und 9 Jahren. Zudem habe die Beklagte dem Kläger vor Einleitung des Disziplinarverfahrens eine plausible Abrechnung bescheinigt. Die verhängte Disziplinarmaßnahme sei daher bei Ergehen des Disziplinarbescheids nicht mehr erforderlich gewesen, um den Kläger zu pflichtgemäßer Abrechnung anzuhalten. Die Disziplinarmaßnahme sei zudem auch unangemessen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) könne und müsse sich eine überlange Verfahrensdauer bei solchen Disziplinarmaßnahmen als Milderungsgrund auswirken, die, wie hier, der Pflichtenmahnung dienten. Dabei stehe die Überlegung im Vordergrund, dass das Disziplinarverfahren als solches belastend sei und der von ihm ausgehende andauernde Druck und die mit ihm verbundenen Nachteile bereits pflichtenmahnende Wirkung hätten. Deswegen sei eine pflichtenmahnende Disziplinarmaßnahme unvereinbar mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn das Disziplinarverfahren unverhältnismäßig lange dauere (Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.02.2015, - OVG 80 d 2.12 -, in juris). Bei Fortbestand des Pflichtenverhältnisses könne das durch ein Vergehen ausgelöste Sanktionsbedürfnis gemindert werden oder sogar - wie im vorliegenden Fall - entfallen, weil die mit dem Disziplinarverfahren verbundenen Nachteile positiv auf den Betroffenen eingewirkt hätten (BVerwG, Beschluss vom 11.05.2010, - 2 B 5.10 -, in juris; OVG Berlin-Brandenburg, a.a.O.). Hier stelle sich die Dauer des Verfahrens mit teilweise bis zu 9 Jahren nach der Pflichtverletzung als unverhältnismäßig lang dar, was mit dem im Disziplinarrecht geltenden Beschleunigungsgebot unvereinbar sei. Das gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Kläger nach dem Rückforderungsbescheid vom 19.07.2007 sein Abrechnungsverhalten korrigiert habe, was die Beklagte ihm auch bestätigt habe.
Gegen das ihr am 03.08.2015 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 20.08.2015 Berufung eingelegt. Sie trägt unter Bezugnahme auf die Begründung des Disziplinarbescheids vor, der Disziplinarbescheid sei rechtmäßig, verstoße insbesondere nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Er könne seinen Zweck, den Kläger zu pflichtgemäßer Abrechnung anzuhalten, noch erreichen. Der Kläger sei nach wie vor vertragsärztlich tätig und könne Vorsorgeuntersuchungen auch jederzeit erbringen und abrechnen, da eine Abrechnungsgenehmigung hierfür nicht erforderlich sei. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wäre daher allenfalls dann verletzt, wenn der Kläger über die (hier nicht notwendige) Abrechnungsgenehmigung nicht mehr verfügte oder sie die (hier nicht notwendige und daher auch nicht erteilte) Abrechnungsgenehmigung widerrufen hätte. Das Disziplinarverfahren sei mit der gebotenen Beschleunigung durchgeführt worden. Man habe den Ausgang des Rechtsstreits gegen den Rückforderungsbescheid vom 19.07.2007 abwarten und das Disziplinarverfahren so lange aussetzen dürfen (§ 8 DiszO). Eine überlange Verfahrensdauer liege nicht vor und die verhängte Disziplinarmaßnahme sei nicht unangemessen. Das LSG Baden-Württemberg habe im Urteil vom 29.08.2012 (- L 5 KA 3569/10 -) bestätigt, dass die seinerzeit verfügte Honorarrückforderung rechtmäßig sei. Das sei Grundlage des Disziplinarbescheids. Das SG habe nicht bedacht, aus welchen Gründen es zu der (seiner Auffassung nach) überlangen Verfahrensdauer gekommen sei. Aus den vom SG angeführten Entscheidungen des BVerwG und des OVG Berlin-Brandenburg gehe hervor, dass sich eine überlange Verfahrensdauer bei den der Pflichtenmahnung dienenden Disziplinarmaßnahmen nur "unter Umständen" und nicht pauschal als Milderungsgrund auswirken müsse. Man müsse auch die Gründe, die zu der langen Verfahrensdauer geführt hätten, berücksichtigen. Hier sei die Aussetzung des Disziplinarverfahrens angezeigt gewesen. Im Fall des OVG Berlin-Brandenburg (a.a.O.) habe auch zugleich strafbares Verhalten eines Beamten vorgelegen. Unerheblich sei, dass man dem Kläger (mit Schreiben vom 15.11.2007) plausibles Abrechnungsverhalten bescheinigt habe, da dem Disziplinarbescheid keine Plausibilitätsprüfung, sondern eine nachgehende sachlich-rechnerische Berichtigung fehlerhafter Abrechnungen in den Quartalen 1/2004 bis 4/2006 zugrunde liege. Der Kläger habe die Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung fahrlässig verletzt, indem er sich nicht davon überzeugt habe, ob die jeweils für die Abrechnung der Vorsorgeleistungen geltenden zeitlichen Intervalle eingehalten seien. Erst mit Ergehen des Urteils des LSG Baden-Württemberg vom 29.08.2012 (- L 5 KA 3569/10 -) habe die Pflichtverletzung festgestanden und man habe den Kläger auch erst zu diesem Zeitpunkt zu pflichtgemäßem Verhalten ermahnen und anhalten können.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 23.07.2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Er habe sein Abrechnungsverhalten nach Ergehen des Rückforderungsbescheids vom 19.07.2007, also schon 6 Jahre vor Ergehen des Disziplinarbescheids, korrigiert; das habe die Beklagte auch bestätigt.
Am 12.04.2017 hat eine Erörterungsverhandlung stattgefunden. Die Beklagte hat erklärt, die Rücknahme der Berufung komme nicht in Betracht.
Die Beteiligten haben sich mit einer Senatsentscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des SG und des Senats Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Im Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).
Die Berufung der Beklagten ist gemäß §§ 143, 144, 151 SGG statthaft und auch sonst zulässig, jedoch nicht begründet. Das SG hat den Disziplinarbescheid vom 03.07.2013 zu Recht aufgehoben. Der Senat teilt die Rechtsauffassung des SG, wonach der Disziplinarbescheid gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt, weil er seinen Zweck, den Kläger zu (künftigem) pflichtgemäßem Verhalten anzuhalten, nicht mehr erfüllen kann, hierfür also ungeeignet ist. Der Senat nimmt auf die entsprechenden Ausführungen in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG). Ergänzend ist anzumerken:
Der Disziplinarbescheid vom 03.07.2013 (Beschluss vom 19.06.2013) hat (weder vorsätzliches noch grob fahrlässiges, sondern fahrlässiges) Fehlverhalten des Klägers in der Zeit vom Quartal 1/2004 bis zum Quartal 4/2006 sanktioniert. Ab dem Quartal 1/2007 hat der Kläger das sanktionierte Fehlverhalten beendet. Seitdem erbringt er Vorsorgeuntersuchungen nach Maßgabe der hierfür geltenden Vorschriften; bei einer Plausibilitätsprüfung der Honorarabrechnungen des Klägers im Quartal 1/2007 (dazu das Schreiben der Beklagten vom 15.11.2007: Verdacht auf fehlende Plausibilität vollständig ausgeräumt) und ersichtlich auch in der Folgezeit ist Anderes jedenfalls nicht festgestellt worden. Der vom Disziplinarausschuss im Juni 2013 und damit 6 ½ Jahre nach dem beendeten Fehlverhalten des Klägers (zuletzt) im Quartal 4/2006 ausgesprochene Verweis als Tadel pflichtwidrigen Verhaltens mit der Aufforderung zu gehöriger Pflichterfüllung (§ 13 Abs. 1 Satz 2 DiszO) hat den mit ihm (konkret) bezweckten Erfolg, nämlich den Kläger - so der Disziplinarbescheid vom 03.07.2013 - zukünftig zu veranlassen, sich strikt an die einschlägigen Bestimmungen zu halten, nicht mehr erreichen können und ist deshalb als hierfür ungeeignete und damit insgesamt unverhältnismäßige Maßnahme rechtswidrig; unerheblich ist, dass Disziplinarmaßnahmen im Allgemeinen neben spezialpräventiven auch generalpräventive Zwecke verfolgen können (vgl. Hauck/Noftz, SGB V § 81 Rdnr. 36). Ob der im Disziplinarbescheid ausgesprochene Verweis, wie das SG angenommen hat, zudem unangemessen gewesen ist, weil schon die Dauer des Disziplinarverfahrens ausreichende pflichtenmahnende Wirkung gehabt hat, kann der Senat offen lassen; es kommt entscheidungserheblich hierauf nicht mehr an. Unerheblich ist auch, dass der Kläger nach wie vor vertragsärztlich tätig ist und Vorsorgeuntersuchungen erbringen und abrechnen darf.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG; zur Streitwertfestsetzung in Disziplinarverfahren BSG, Beschluss vom 01.02.2005, - B 6 KA 70/04 B -, in juris Rdnr. 7).
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
Login
BWB
Saved