Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
7
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 14 VE 18/11
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 7 VE 10/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Umstritten ist die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG).
Die 2005 geborene Klägerin beantragte am 18. Februar 2009, dabei vertreten durch das Jugendamt des Landkreises B., dem die Amtspflegschaft übertragen worden war, bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Zur Begründung gab sie an, durch ein Alkohol-Syndrom der Mutter im Empfängniszeitraum vom 6. November 2004 bis 5. März 2005 geschädigt worden zu sein. Es bestehe ein globaler Entwicklungsrückstand, ein Mikrocephalus (Schädelfehlbildung in Form eines zu kleinen Kopfes) und ein fetales Alkohol-Syndrom. Täterin sei die 1968 geborene Mutter S. M., Tatort deren Wohnung in D. Im parallel geführten Schwerbehindertenverfahren stellte der Beklagte mit Bescheid vom 10. März 2009 aufgrund des am 1. Oktober 2008 gestellten Antrages der Klägerin bei dieser einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 ab 7. Oktober 2008 fest. Diese Entscheidung stützte er auf die Funktionsbeeinträchtigung "Globale Entwicklungsverzögerung bei Alkohol-Embryopathie". Mit Aktenvermerk vom 30. April 2009 hielten die zuständigen Mitarbeiter des Beklagten eine Prüfung des angeschuldigten Tatvorwurfs des Alkoholmissbrauchs der Mutter während der Schwangerschaft durch weitere Sachverhaltsermittlung für nicht erforderlich. Selbst wenn der Vorwurf zuträfe, handelte es sich bei einer Alkoholabhängigkeit um das Erscheinungsbild einer Erkrankung im Rahmen einer Suchterkrankung. Der Verzehr des Alkohols sei Ausdruck eines krankhaften Suchtverhaltens und sei ohne Vorsatz in fahrlässiger, leichtfertiger Weise erfolgt. Der Tatbestand eines vorsätzlichen tätlichen Angriffs i. S. des OEG sei damit nicht verwirklicht. Des Weiteren setze der Entschädigungsanspruch nach dem OEG den Angriff auf eine rechtsfähige natürliche Person voraus, was durch den Wortlaut im Gesetzestext "wer" zum Ausdruck gebracht werde. Eine natürliche Person sei ein Mensch, dessen Rechtsfähigkeit nach § 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) mit der Vollendung der Geburt beginnt. Das ungeborene Leben im Mutterleib erfülle die Voraussetzungen einer rechtsfähigen natürlichen Person noch nicht.
Mit Bescheid vom 30. April 2009 lehnte der Beklagte aus den vorgenannten Gründen die Beschädigtenversorgung nach dem OEG ab. Mit dem am 22. Mai 2009 eingelegten Widerspruch machte die Klägerin geltend, ihrer Ansicht nach seien die Voraussetzungen für eine Opferentschädigung gegeben. Der Anspruch scheitere nicht daran, dass das Kind erst nach dem schädigenden Ereignis auf die Welt gekommen sei. Dies sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im "Lues-Fall" (Urteil vom 15.10.1963, Az. 11 RV 1292/61, BSGE 20, S. 41) sowie auch nach dem Urteil vom 16.04.2002, B 9 VG 1/01 R, juris = BSGE 89, S. 199) anerkannt. Bei Alkoholmissbrauch handele es sich um eine anerkannte Krankheit. Die Kindesmutter habe gewusst, welche gesundheitlichen Schäden für das ungeborene Kind durch Alkoholmissbrauch entstehen können. Zwei weitere ältere Kinder seien bereits verstorben, das zuletzt verstorbene Kind wahrscheinlich an den Folgen des Alkoholmissbrauches der Mutter. Leistungen nach dem OEG seien auch zu gewähren, wenn der Täter schuldunfähig sei. Eine Körper- und Gesundheitsverletzung könne auch schon an einer Leibesfrucht entstehen, wobei sich mit der Geburt die Schädigung auswirke.
Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Juni 2011 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung gab er an, dass nach § 1 Abs. 1 OEG der Tatbestand des vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs erfüllt sein müsse. Dies setze das Vorhandensein einer natürlichen Person, nämlich eines Menschen voraus, der als solcher rechtsfähig ist. Ein Kind werde mit Vollendung seiner Geburt rechtsfähig. Das BSG habe den Versorgungsschutz nach dem OEG aber auch auf Personen ausgedehnt, die im Zeitpunkt der schädigenden Einwirkung noch nicht geboren sind, aber unter den Folgen dieser Entwicklung zu leiden haben. Damit sei auch die gezeugte noch ungeborene Leibesfrucht – der sog. nasciturus – als anspruchsberechtigt anzusehen. Demzufolge werde an der insoweit ablehnenden Begründung im Ausgangsbescheid vom 30. April 2009 nicht mehr festgehalten. Allerdings sei die Klägerin nicht Opfer eines vorsätzlichen tätlichen Angriffs i. S. des OEG geworden. Fraglich sei bereits, ob ein tätlicher Angriff vorliegt. Zwar sei nach der Rechtsprechung des BSG nicht mehr die feindselige Willensrichtung im Sinne einer gewaltsamen und in der Regel handgreiflichen Einwirkung zu verlangen, da es der besonderen Feststellung der Feindseligkeit als innere Tatsache dann nicht mehr bedürfe, wenn es sich um eine Straftat handelt. Der Alkoholmissbrauch der Mutter aufgrund ihrer Abhängigkeitserkrankung und ihrer damit verbundenen Selbstgefährdung stelle aber zweifellos kein strafrechtlich relevantes Verhalten dar. Ob und inwieweit sie damit gleichzeitig in strafbarer Weise die körperliche Integrität ihrer Leibesfrucht verletzt hat, sei strafrechtlich ungeklärt. Tatbestandlich könnte es sich um eine Körperverletzung handeln. Sofern eine solche im strafrechtlichen Sinn vorliege, sei allerdings zusätzliche Voraussetzung, dass die Begehensweise gegenüber der Leibesfrucht vorsätzlich erfolgt ist. Dies könne im Fall einer alkoholkranken und alkoholabhängigen Mutter nicht angenommen werden. Abhängigkeitskranke hätten das Ziel, ihre Sucht zu befriedigen. Dabei spielten Suchtmotive wie Schmerzlinderung, Lösung von Verstimmungszuständen, der Wunsch nach Betäubung und Ähnliches eine Rolle. Sie nähmen bewusst die Entwicklung physischer und psychischer Abhängigkeitserkrankungen ihrer eigenen Person in Kauf. Insoweit handelten sie bezüglich der Verletzung ihrer eigenen körperlichen Integrität vorsätzlich. Dies gelte jedoch nicht bezüglich ihrer Leibesfrucht. Insoweit könne nur eine fahrlässige Handlungsweise in Betracht kommen. Da fahrlässiges Handeln einer schwangeren Frau keinen vorsätzlichen Angriff im Sinne des OEG darstelle, könne dies keinen Versorgungsanspruch zugunsten eines von der Geburt an durch den Konsum alkoholtoxischer Substanzen der Mutter in seiner Gesundheit geschädigten Kindes begründen.
Mit ihrer am 29. Juni 2011 vor dem Sozialgericht (SG) Magdeburg erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt und vorgetragen, geistig-seelisch und körperlich schwer geschädigt zu sein. Der Anspruch scheitere nicht daran, dass die Kindesmutter unter einer Abhängigkeitserkrankung gelitten habe. Sie habe die gesundheitliche Schädigung des ungeborenen Kindes billigend in Kauf genommen. Deshalb müsse von einem tätlichen Angriff ausgegangen werden; eine Körperverletzung sei gegeben. Leistungen nach dem OEG müssten auch gezahlt werden, wenn der Täter schuldunfähig ist. Den mit der Klage vorgelegten Unterlagen ist unter anderem ein stationärer Aufenthalt der Klägerin im A. Fachklinikum B. vom 14. März bis 5. April 2012 zu entnehmen. Dort wurden die Diagnosen "Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1), Bindungsstörung mit Enthemmung (F94.2), kombinierte Entwicklungsstörung (F83), leichte Intelligenzminderung mit Verhaltensstörungen (F70.1), fetales Alkohol-Syndrom (Q86.0), abweichende Elternsituation, ernsthafte und durchgängige soziale Beeinträchtigung" genannt. Anamnestisch wurde angegeben, dass es sich bei der Klägerin um ein ehemaliges Frühgeborenes der 37. Schwangerschaftswoche (Geburtsgewicht 1740 g, Größe 40 cm) gehandelt habe. Die Schwangerschaft sei durch Nikotin- und Alkoholkonsum sowie durch besondere psychische und soziale Belastungen der Kindesmutter (Verlust von zwei Kindern) belastet gewesen. Die Klägerin habe nach der Geburt Alkoholentzugserscheinungen und eine Übererregbarkeit gezeigt. Sie lebe seit dem zweiten Lebensjahr bei ihren jetzigen Pflegeeltern, besuche seit dem Schuljahr 2012/2013 die Förderschule "N." in H. und werde nach dem Lehrplan der Förderschule für geistige Entwicklung der Unterstufe unterrichtet (Bescheid des Landesschulamtes vom 16. April 2012). Des Weiteren bezieht die Klägerin Leistungen bei Pflegebedürftigkeit nach der Pflegestufe II ab 1. August 2011 in Form einer Geldleistung von monatlich 430 EUR (Bescheid der Pflegekasse der Barmer Ersatzkasse vom 18. Oktober 2011).
Der Beklagte ist der Klage unter Hinweis auf ein Urteil des SG Regensburg vom 5. April 2013 (Az. S 13 VG 2/09) entgegengetreten. Er hat angegeben, ein Kind, das im Mutterleib durch Drogenkonsum der Mutter geschädigt worden sei, habe keinen Anspruch auf Versorgung nach dem OEG. Der übermäßige Drogenkonsum stelle eine Selbstschädigung der Mutter dar. Da Mutter und Kind bis zur Geburt des Kindes eine Einheit bildeten, sei bei dem ungeborenen Kind ebenfalls von einer Selbstschädigung auszugehen. Dies gelte auch, wenn keine Drogen, sondern Alkohol konsumiert würde. Eine Selbstschädigung von Mutter und ungeborenem Kind unterliege nicht dem Schutzbereich des OEG.
Das SG hat in der mündlichen Verhandlung vom 12. Februar 2015 die leibliche Mutter der Klägerin als Zeugin vernommen. Diese hat ausgesagt, bereits vor der Schwangerschaft mit der Klägerin Alkohol konsumiert zu haben. Sie habe deswegen auch schon einen Sohn verloren, der 2000 geboren und 2002 eines plötzlichen Kindestodes gestorben sei. Sie habe auch während der Schwangerschaft mit der Klägerin Alkohol konsumiert, mal ein Glas Wein, aber auch mal einen Schnaps. Ihr sei klar gewesen, dass das Kind dadurch geschädigt werde. Sie habe sich auch gesagt, sie dürfe so nicht weitermachen. Trotzdem habe sie immer wieder angefangen zu trinken. Sie sei schon der Meinung, dass sie das mit dem Alkoholkonsum steuern könne. Manchmal trinke sie tagelang nichts. Der ebenfalls als Zeuge vernommene leibliche Vater der Klägerin hat angegeben, die Kindesmutter habe bereits während der Schwangerschaft mit dem gemeinsamen Sohn, der später verstorben sei, Alkohol konsumiert. Allerdings nicht so viel, wie bei der Schwangerschaft mit der Klägerin. Er denke, dass der Verlust des Sohnes zu dem erhöhten Alkoholkonsum beigetragen hat. Es habe noch eine weitere Schwangerschaft vor der Geburt der Klägerin gegeben. Diese Tochter sei im sechsten Schwangerschaftsmonat als Frühchen zur Welt gekommen. Sie sei zu Hause geboren worden, habe aber dann nur noch zwei Tage gelebt und sei in der Klinik verstorben. Der Alkoholkonsum der Kindesmutter habe überwiegend in Mixgetränken wie z. B. Schnaps mit Cola bestanden. Er denke, dass ihr durchaus bewusst gewesen sei, dass das nicht gut für die Gesundheit des Kindes war. Sie habe auch weniger trinken wollen, es aber nicht geschafft. Nach der Schwangerschaft mit der Klägerin habe sie eine Therapie gemacht, was erst mal auch gut gelaufen sei, aber dann sei das mit dem Trinken wieder von vorn losgegangen.
In Auswertung der Zeugenaussagen hat der Beklagte vorgetragen, es sei bestätigt, dass die Klägerin während der Schwangerschaft einem massiven Alkoholkonsum der Mutter ausgesetzt gewesen sei. Deshalb bestehe bei der Klägerin auch unstreitig ein sogenanntes fetales Alkoholsyndrom. Die Aussagen hätten aber auch verdeutlicht, dass die Kindesmutter während und auch nach der Schwangerschaft mit der Klägerin den Alkohol nicht konsumiert habe, um primär den Fetus zu schädigen, sondern weil sie alkoholkrank gewesen sei und wohl immer noch ist. Vor diesem Hintergrund stehe der Klägerin kein Anspruch auf Versorgung nach dem OEG zu.
Demgegenüber hat die Klägerin (nunmehr vertreten durch den Sozialverband Deutschland e. V.) hervorgehoben, das Ziel des OEG bestehe darin, Opfer von Gewalttaten, denen der Staat nicht habe beistehen können, zu entschädigen. Dies sei bei der Klägerin unstreitig der Fall. Nach § 1 Abs. 2 OEG stehe einem tätlichen Angriff im Sinne des Absatzes 1 die vorsätzliche Beibringung von Gift oder die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen gleich. Zweifellos sei der hochprozentige Alkohol, den die Mutter der Klägerin während der Schwangerschaft zu sich genommen habe, als Gift aufzufassen. Der Mutter sei auch klar gewesen, dass dadurch das ungeborene Kind geschädigt werde. Insoweit müsse mindestens von Fahrlässigkeit ausgegangen werden. Gemäß § 223 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) mache sich derjenige, der wissentlich und/oder gewollt eine andere Person körperlich misshandele oder an der Gesundheit schädige, einer Körperverletzung strafbar. Das BSG habe in seinen bereits angeführten Urteilen das Vorliegen eines tätlichen Angriffs auch bei einer Schädigung des noch ungeborenen Kindes angenommen. Darüber hinaus sei Ziel des tätlichen Angriffs in den beiden genannten Fällen nicht das ungeborene oder sogar noch nicht einmal gezeugte Kind, sondern jeweils die Mutter gewesen. Das BSG habe insoweit auf die enge vorgeburtliche Verbundenheit zwischen Mutter und Kind hingewiesen. Ob nun der Klägerin der Schaden direkt durch schädigende Einwirkung der Mutter auf die Leibesfrucht oder durch Dritte auf die Mutter und somit auch auf das Kind zugefügt worden ist, mache im Ergebnis keinen Unterschied. In jedem Fall bleibe das Versagen der staatlichen Organe und die sich daraus ergebende Entschädigungspflicht maßgeblich.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 10. Juli 2015 abgewiesen und in den Entscheidungsgründen im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin habe weder einen unmittelbaren noch einen mittelbaren Anspruch auf die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach § 1 OEG. Die direkte Anwendung von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG scheide aus, da der Wortlaut dieser Vorschrift ("wer infolge eines Angriffs gegen seine oder eine andere Person") offensichtlich voraussetze, dass die geschädigte Person im Zeitpunkt des Angriffs bereits gelebt habe. Diese Voraussetzung sei weder im Fall der Leibesfrucht (nasciturus) noch im Fall des gleichzeitig mit der Gewalttat erzeugten Kindes erfüllt. Insofern bestehe nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 16. April 2002, B 9 VG 1/01R, juris) eine Regelungslücke. Die Klägerin sei im Zeitpunkt der Schädigung durch den Alkoholkonsum ihrer Mutter noch nicht geboren gewesen, sodass allenfalls eine analoge Anwendung der Regelung des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Betracht komme. Allerdings lägen hierfür die Voraussetzungen nicht vor. Der Richter sei zur Ausfüllung einer Gesetzeslücke im Wege der Rechtsfortbildung nur berufen, wo das Gesetz mit Absicht schweigt, weil es die Regelung der Rechtsprechung überlassen wollte oder das Schweigen auf einem Versehen oder darauf beruht, dass sich der nicht geregelte Tatbestand erst nach Erlass des Gesetzes durch eine Veränderung der Lebensverhältnisse ergeben hat. Grundsätzlich spreche nichts dafür, dass der Gesetzgeber die Leibesfrucht und auch das noch nicht gezeugte Kind bewusst von der Entschädigungsregelung habe ausnehmen wollen. Allerdings müsse eine zu den geregelten Fällen gleichgelagerte Interessenlage bestehen. Es müsse mithin ein rechtswidriger vorsätzlicher tätlicher Angriff gegen eine Person vorliegen und dadurch müsse ein Gesundheitsschaden verursacht worden sein (BSG, Urteil vom 16. April 2002, a.a.O.). Zu den sog. Inzestfällen habe das BSG in der zitierten Entscheidung eine gleichlautende Interessenlage bejaht, wenn es sich bei dem Geschlechtsverkehr im Rahmen der Inzestbeziehung um einen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff gehandelt habe. Der Unterschied dieser Fälle zu den geregelten Tatbeständen bestehe im Wesentlichen darin, dass sich die Gewalttat auf einen gleichzeitig mit ihr gezeugten oder nur wenig später werdenden Menschen auswirke, indem sie ihn mit Gesundheitsschäden entstehen lasse. Dieser Unterschied habe aber im Vergleich zu den von § 1 OEG erfassten Fällen und angesichts des Zwecks der gesetzlichen Regelung untergeordnete Bedeutung und rechtfertige gegenüber den gesund gezeugten, aber vorgeburtlich geschädigten Opfern keine unterschiedliche Behandlung. Eine vergleichbare Interessenlage sei für die Fälle, in denen die Mutter durch den Konsum von Alkohol oder Drogen die Leibesfrucht während der Schwangerschaft schädige, nicht gegeben.
Allerdings könne in diesem Zusammenhang ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff nicht ohne weiteres ausgeschlossen werden. Der Begriff des "vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs" im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG sei nach dem Willen des Gesetzgebers eigenständig und ohne direkte Bezugnahme auf das Strafgesetzbuch geregelt worden; gleichwohl orientiere sich die Auslegung an der im Strafrecht gewonnenen Bedeutung des auch dort verwendeten rechtstechnischen Begriffs "tätlicher Angriff". Mit Rücksicht auf den das OEG prägenden Gedanken des lückenlosen Opferschutzes sei eine kämpferische feindselige Absicht des Täters nicht erforderlich (BSG, Urteil vom 7. April 2011, B 9 VG 2/10 R, juris). Der vorsätzlichen Beibringung von Gift nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG komme in diesem Zusammenhang kaum noch eigenständige Bedeutung zu. Die vorsätzliche Beibringung von gesundheitsschädlichen Stoffen wie zum Beispiel Alkohol dürfte nach heutigem Verständnis grundsätzlich als tätlicher Angriff anzusehen sein. Im Gegensatz zu einer gewaltsamen Zeugung eines Kindes im Rahmen einer Inzestbeziehung liege selbst bei einer bedingt vorsätzlichen Schädigung des Kindes durch den Alkoholkonsum der Mutter keine Straftat vor. Es widerspräche dem Sinn und Zweck des OEG, diese Fälle in den Anwendungsbereich des OEG einzubeziehen. Zwar würden in der zivilrechtlichen Literatur mögliche Schadensersatzansprüche des Kindes gegen die Mutter diskutiert, es müssten aber unterschiedliche Wertungen von Ansprüchen nach dem OEG und im Zivilrecht in Kauf genommen werden. Für die Anwendung des OEG sei maßgeblich, dass eine Gewalttat, die ursächlich für einen gesundheitlichen Defekt gewesen ist, nicht verhindert worden sei. Das OEG diene nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers nur der Entschädigung von Körperschäden nach Gewaltkriminalität. Dabei sei nicht jede körperliche Folge einer strafbaren Handlung in die Entschädigungsverpflichtung einbezogen worden, und das Gesetz diene nicht jeglichem Individualrechtsgüterschutz. Die Begrenzung der Entschädigung auf Opfer von Gewalttaten orientiere sich daran, dass die Opferrolle nach einer Gewalttat eine wesentlich andere sei, als die nach einem beliebigen schweren Unglücksfall. Bei Unglücksfällen mangele es an einem willentlichen Bruch der Rechtsordnung durch körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person; es fehle die Enttäuschung der Erwartung der Unverbrüchlichkeit des wesentlichen Kerns der Friedensordnung innerhalb der Gesellschaft. Deswegen sei auch davon abgesehen worden, Unfallschäden in die Entschädigung nach dem OEG einzubeziehen, und zwar selbst dann, wenn bei der Entstehung des Unfalls leichtere strafbare Handlungen gewirkt hätten. Dieses sei auch konsequent, wenn bedacht werde, dass die Gewährung von Opferentschädigung mit einem Versagen des staatlichen Gewaltmonopols begründet werde, also mit einem Versagen des Staates, die Bürger vor Gewaltkriminalität zu schützen (BSG, Urteil vom 12. Juni 2003, B 9 VG 11/02 B, juris). Hierin liege auch der wesentliche Unterschied zu den Fällen, bei denen ein ungeborenes Kind durch eine Gewalttat von einem Dritten oder durch die Mutter selbst geschädigt werde. Im ersteren Fall sei eine Anknüpfung an das OEG durch die strafrechtlich relevante Gewalthandlung eines Dritten gerechtfertigt. In diesem Fall sei ein Versagen des Gewaltmonopols des Staates gegeben, welches Grundlage der Regelungen der OEG ist. Bei der Schädigung eines ungeborenen Kindes durch den Alkohol- oder Drogenkonsum der Mutter liege ein solches Versagen aber nicht vor. Selbst bei Bekanntwerden einer solchen Verhaltensweise hätte der Staat keine Möglichkeit einzugreifen, da dieses Verhalten zwar sicherlich ethisch verwerflich ist, aber durch die Rechtsordnung nicht sanktioniert werde. Die Entscheidung des Gesetzgebers, dieses Verhalten grundsätzlich nicht zu sanktionieren, sondern vielmehr über Aufklärung dem embryonalen Alkoholsyndrom gegenüberzutreten, könne bei der Prüfung der Ausweitung des Anwendungsbereiches von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG auf diese Fälle nicht unberücksichtigt bleiben.
Das SG hat die Sprungrevision nach § 161 SGG in Verbindung mit § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, da die Rechtssache eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung aufweise.
Die Klägerin greift das ihr am 3. August 2015 zugestellte Urteil mit ihrer am 19. August 2015 erhobenen Berufung an. Sie macht mit Berufungsbegründung vom 6. Mai 2016 weiterhin einen Anspruch auf der Grundlage von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geltend, dessen Anwendungsbereich unstreitig eröffnet sei. Sie lässt vortragen, es sei in Literatur und Rechtsprechung allgemein anerkannt, dass auch der nasciturus vom Schutzbereich des § 1 OEG erfasst werde. Hier liege ein Fremdschädigungsverhalten der Mutter vor, weil der Alkoholkonsum einer Schwangeren zwar vorrangig eine Selbstschädigung, zugleich aber auch eine Fremdschädigung in Bezug auf den Fötus darstelle. Diese Fremdschädigung müsse der Mutter auch zugerechnet werden. Es müsse von einem Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 OEG in Form der Beibringung von Gift ausgegangen werden, weil es sich bei dem von der Mutter konsumierten Alkohol hinsichtlich Menge und Konzentration um eine Substanz handele, die als Gift im Sinne dieser Regelung angesehen werden könne. Die Mutter habe bei dem Konsum des Alkohols auch mit bedingtem Vorsatz und nicht lediglich bewusst fahrlässig gehandelt. Sie habe die schädigende Einwirkung des Alkohols auf das ungeborene Leben im Mutterleib und damit die Schädigung des Gesundheitszustandes ihres ungeborenen Kindes für möglich gehalten und die Schädigungsfolgen billigend in Kauf genommen. Die Mutter habe eben nicht lediglich darauf vertraut, dass "alles gut geht", da ihr die Gefährlichkeit ihres Tuns bekannt gewesen sei. Dies sei vor dem Hintergrund der Zeugenaussage der Mutter zu sehen, die angegeben habe, ihr sei klar gewesen, dass das Kind durch das Trinken von Alkohol geschädigt werde. Der Mutter sei somit nicht nur die Gefährlichkeit ihres Tuns bekannt gewesen, was für ein bewusst fahrlässiges Verhalten ausreiche, sondern ihr sei die Möglichkeit der Schädigung ihres Ungeborenen klar gewesen. Dass sie sich dennoch nicht davon habe abhalten lassen, Alkohol in einem gesundheitsgefährdenden Ausmaß zu sich zu nehmen, spreche für bedingten Vorsatz.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 10. Juli 2015 sowie den Bescheid des Beklagten vom 30. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juni 2011 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei der Klägerin eine globale Entwicklungsverzögerung bei Alkohol-Embryopathie als Schädigungsfolge anzuerkennen und eine Beschädigtenrente nach dem OEG nach einem Grad der Schädigung von mindestens 50 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er macht geltend, dass eine Leistungspflicht des Beklagten bereits daran scheitere, dass es sich bei Alkohol- oder Drogenkonsum einer Schwangeren) um eine Selbstschädigung handele, die vom Anwendungsbereich des OEG nicht umfasst werde. Die Mutter bilde eine biologische Einheit mit der Leibesfrucht, weshalb eine Schädigung des ungeborenen Kindes durch die Mutter nicht mit einer Gewalttat durch einen Dritten vergleichbar sei. Ein Versagen des Gewaltmonopols, die Bürger vor Gewaltkriminalität zu schützen, könne daher gerade nicht angenommen werden. Die Rechtsordnung sanktioniere vorgeburtliche Schädigungen durch die Mutter nicht, auch wenn dies ethisch oder moralisch verwerflich erscheint. Ausnahmsweise werde ungeborenes Leben nur nach den §§ 218 ff. StGB geschützt. Zu einem Abbruch der Schwangerschaft habe der Alkoholkonsum der Mutter jedoch unstreitig nicht geführt. Der Anwendungsbereich der §§ 212 und 223 ff. StGB sei erst mit dem "Beginn des Menschseins" eröffnet. Dies werde übereinstimmend ab dem Einsetzen der Eröffnungswehen oder nach dem Öffnen des Uterus bei einem Kaiserschnitt angenommen. Damit gehe der strafrechtliche Schutz bereits über den zivilrechtlichen Lebensschutz hinaus. Denn nach § 1 BGB beginne die Rechtsfähigkeit eines Menschen erst mit Vollendung der Geburt. Die Schädigung habe jedoch bereits vor Beginn der Geburtswehen stattgefunden. Die fehlende Sanktionierung vorgeburtlicher Schädigungen dürfe aber nicht zu einer Ausdehnung des Anwendungsbereiches des OEG führen. Es sei nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber den "nasciturus" ebenso wie natürliche Personen in den Schutzbereich des OEG habe stellen wollen. Im Falle der Annahme einer Fremdschädigung durch die Mutter fehle es an einem darauf gerichteten Vorsatz. Wie den Aussagen der Mutter in der Zeugenvernehmung zu entnehmen sei, habe sie versucht, der Sucht zu widerstehen, weil ihr die schädliche Wirkung des Alkohols auf das ungeborene Kind bewusst war. Hieraus werde deutlich, dass die Mutter mit der Schädigung gerade nicht einverstanden gewesen sei und diese habe verhindern wollen. Die Schädigung sei auch nicht rechtswidrig erfolgt. Der Schutzbereich der §§ 212, 223 ff. StGB wirke erst mit Beginn des Lebens, sei hier zum Zeitpunkt der Schädigung also noch nicht eröffnet gewesen. Es sei nicht ersichtlich, welche anderen gesetzlichen Regelungen dem Erwerb und Konsum von Alkohol während der Schwangerschaft entgegenstehen. Auch komme insoweit keine Strafbarkeit nach dem Betäubungsmittelgesetz in Betracht. Abgesehen davon, dass Alkohol nicht unter die Betäubungsmittel des § 1 Betäubungsmittelgesetz falle, wäre auch ein unterstellter Drogenkonsum nicht mit Strafe bewährt.
Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Die Zulassung der Sprungrevision durch das SG gemäß § 161 Abs. 1 Satz 1 SGG hat für die Klägerin die Möglichkeit geschaffen, unter Verzicht auf die Berufungsinstanz als zweiter Tatsacheninstanz sofort das Revisionsgericht anzurufen. Allerdings war sie dazu nicht verpflichtet, sondern konnte wählen, ob sie Berufung oder Revision einlegt (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl., RdNr. 9a zu § 161). Die Berufung ist auch zulässig, insbesondere form- und fristgerecht gemäß § 151 Abs. 1 SGG erhoben.
Die Berufung ist jedoch unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Beschädigtenrente nach dem OEG. Die angefochtenen Bescheide und das Urteil des SG sind rechtmäßig.
Rechtsgrundlage für den von der Klägerin mit der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG) verfolgten Anspruch ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG (i.d.F. vom 19.06.2006, BGBl. I S. 1305) i.V. mit § 31 Bundesversorgungsgesetz (BVG). Danach erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Einem tätlichen Angriff in diesem Sinne steht die vorsätzliche Beibringung von Gift gleich (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 BVG).
Die erlittene physische oder psychische Schädigung muss in einem Gesundheitsschaden bestehen, der geeignet ist, einen Anspruch nach dem OEG zu begründen. Die Schädigung muss auf einen "tätlichen Angriff" zurückzuführen sein. Insoweit ist entscheidend, ob der Primärschaden und eventuelle Folgeschäden gerade die zurechenbare Folge einer körperlichen Gewaltanwendung gegen eine Person sind (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R - BSGE 118, S. 63 = SozR 4-3800 § 1 Nr. 21).
Der geltend gemachte Anspruch ist nicht erfüllt, weil ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff hier nicht gegeben ist.
Festzustellen ist zunächst, dass eine oder mehrere (fortgesetzte) Schädigungshandlungen der Mutter vorgeburtlich auf die Klägerin eingewirkt und eine Schädigung (u.a.) in Form eines fetalen Alkohol-Syndroms mit globaler Entwicklungsverzögerung herbeigeführt haben. Denn nach Ermittlungen des SG, das Mutter und Vater als Zeugen vernommen hat, ist davon auszugehen, dass die Mutter während der Schwangerschaft wiederholt Alkohol in erheblichen Mengen zu sich genommen und die Klägerin dadurch gesundheitliche Schäden im beschriebenen Sinne davongetragen hat. Da dieser Sachverhalt feststeht, ist die Frage nach Einzelheiten von Ort, Zeitpunkt bzw. Zeitraum und Menge des konsumierten Alkohols nicht von Belang.
Des Weiteren ist davon auszugehen, dass es sich bei dem Verzehr von Alkohol durch eine Schwangere um eine unmittelbare Gewaltanwendung gegenüber dem ungeborenen Kind im Sinne der Rechtsprechung des BSG handelt. Das BSG hat klargestellt, dass ein tätlicher Angriff erst vorliegt, wenn körperliche Gewalt gegen eine Person ausgeübt wird (Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R - BSGE 118, S. 63 = SozR 4-3800 § 1 Nr. 21). Nach diesen Grundsätzen ist hier eine unmittelbare physische Einwirkung eines schädlichen Stoffes (Alkohol) auf das ungeborene Leben der Klägerin anzunehmen. Denn die biologische Einheit von Mutter und Embryo bedeutet, dass der Konsum von Alkohol durch die Mutter zugleich auch eine physische Wirkung auf das ungeborene Leben der Klägerin entfaltet hat. Darauf, ob dieser Vorgang auch unter § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG (Beibringung von Gift) zu subsumieren ist, kommt es deshalb nicht entscheidend an.
Die weiteren Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 OEG liegen jedoch nicht vor, weil die Klägerin bei dem Alkoholmissbrauch durch die Mutter keinem vorsätzlichen rechtswidrigen Angriff ausgesetzt war.
Das BSG hat für den Begriff "vorsätzlicher, rechtswidriger (tätlicher) Angriff" in ständiger Rechtsprechung grundsätzlich auf eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame physische Einwirkung abgestellt (BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R – a.a.O; Urteil vom 29.04.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, S. 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr. 17, RdNr. 25 m.w.N.; Urteil vom 02.10.2008 - B 9 VG 2/07 R – juris, RdNr. 14 m.w.N.). Eine feindselige Willensrichtung ist schon dann gegeben, wenn es dem Täter auf den Eintritt des Erfolgs ankommt, er also bewusst und mit Vorsatz rechtsfeindlich gehandelt hat. Weitere subjektive Merkmale wie zum Beispiel eine kämpferische, feindselige Absicht des Täters gegen das Opfer sind hingegen nicht erforderlich (Grundgedanke des möglichst lückenlosen Opferschutzes durch das OEG, stRspr. seit 1995; vgl. hierzu BSG, Urteile vom 17.04.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, S. 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr. 20, SozR 4-3900 § 15 Nr. 1 – juris, RdNr. 27 und - B 9 V 3/12 R – juris, RdNr. 28, jeweils unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, S. 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, RdNr. 32 m.w.N.).
Ein vorsätzlicher tätlicher Angriff gegen eine Person im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG kann auch dann vorliegen, wenn der Täter hinsichtlich eines strafrechtlich relevanten Erfolges mit bedingtem Vorsatz (dolus eventualis) handelt (BSG, Urteil vom 04.02.1998, B 9 VG 5/96 R, juris). Daher kann es auch ausreichen, wenn der Täter zwar nicht wissentlich und willentlich sein Verhalten auf die Verwirklichung eines durch Eintritt eines Erfolges wie zum Beispiel die Verletzung oder den Tod des Opfers gekennzeichneten Straftatbestandes ausgerichtet, den Erfolg aber für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat (BSG, Urteil vom 04.02.1998, a.a.O.). Ein bedingter Vorsatz der Mutter ist hier anzunehmen, denn ihre Zeugenaussage vor dem SG "Ich habe dann auch während der Schwangerschaft mit der Klägerin Alkohol konsumiert, mal ein Glas Wein aber auch mal ein Schnaps. Mir war klar, dass das Kind dadurch geschädigt wird. Ich habe mir auch immer gesagt, ich darf nicht mehr weitermachen. Habe aber immer wieder angefangen zu trinken." lässt erkennen, dass ihr die schädliche Wirkung des Alkohols auf das ungeborene Kind bewusst war und sie diese Schädigung auch in Kauf genommen hat. Dies geht über grobe Fahrlässigkeit hinaus, denn die Mutter ist davon ausgegangen, dass das Kind geschädigt wird, hat also nicht darauf vertraut oder gehofft, es werde nichts passieren. Im Übrigen wusste die Mutter durch den Tod bzw. die Schädigung der anderen Kinder bei der Schwangerschaft mit der Klägerin genau, zu welchen Konsequenzen Alkoholmissbrauch in ihrem Falle führen kann. Hiervon zu trennen ist die Frage, ob die Mutter möglicherweise infolge einer schwerwiegenden Alkoholerkrankung nicht in der Lage war, ihr Verhalten zu steuern. Eine zum Zeitpunkt der schädigenden Handlung möglicherweise krankheitsbedingt bestehende Schuldunfähigkeit steht der Feststellung eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs aber nicht entgegen (BSG, Urteil vom 08.11.2007, B9/9A VG 2/06 R, juris [Orientierungssatz]).
Die (unmittelbare) Anwendung von § 1 OEG scheitert hier aber daran, dass das Verhalten der Mutter nicht als rechtswidriger Angriff zu qualifizieren ist.
Nach der Rechtsprechung des BSG hat der Gesetzgeber mit der gewählten Formulierung "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" die Verletzungshandlung im OEG eigenständig und ohne direkten Bezug auf das StGB geregelt (Urteile vom 16.12.2014 und 07.04.2011 [unter Hinweis auf BT-Drs. 7/2506, S. 10], a.a.O.). Gleichwohl orientiert sich die Auslegung an der im Strafrecht gewonnenen Bedeutung des auch dort verwendeten rechtstechnischen Begriffs des "tätlichen Angriffs" (so deutlich Urteil vom 07.04.2011, a.a.O.). Allerdings leitet das BSG aus dem Merkmal des "tätlichen Angriffs" ab, dass der Gesetzgeber mit diesem Begriff den schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in rechtlich nicht zu beanstandender Weise begrenzt und den im Strafrecht uneinheitlich verwendeten Gewaltbegriff eingeschränkt hat (Urteil vom 16.12.2014, a.a.O., RdNr. 20). In jedem Fall muss durch den Angriff, sei es unmittelbar im Rahmen des Strafrechts unter Anwendung des Strafgesetzbuchs oder durch das OEG bei der Prüfung eines rechtswidrigen, tätlichen Angriffs, eine durch die Rechtsordnung geschützte Rechtsgutverletzung eingetreten sein. Bei diesen Rechtsgütern handelt es sich, wie der Rechtsprechung und auch der Gesetzesbegründung zum OEG zu entnehmen ist, im Wesentlichen um Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Bürger. Der unmittelbare Schutz dieser Rechtsgüter ist im Wesentlichen im StGB geregelt, sodass der Schutz des OEG erst dann eingreift, wenn eine objektive Verletzung eines dieser Schutzgüter erfolgt ist.
Die Schädigung eines ungeborenen Kindes (nasciturus) durch Alkoholmissbrauch der Mutter verletzt (grundsätzlich) keine der Normen des StGB, die im Anwendungsbereich des OEG liegen. Denn der Zeitpunkt des Beginns des durch §§ 211 ff., 223 ff. StGB geschützten Lebens wird normativ, nicht biologisch bestimmt. Maßgebend für den strafrechtlichen Schutz ist daher, anders als beim Beginn der Rechtsfähigkeit nach § 1 BGB, der Beginn des Geburtsaktes, d.h. bei regulärem Geburtsverlauf das Einsetzen der Eröffnungswehen (Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, Rn. 5 vor §§ 211-217 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes [BGH]). Soweit also eine Schwangere durch Missbrauch von Alkohol die Gesundheit ihres ungeborenen Kindes schädigt, handelt sie nicht strafbar nach den vorgenannten Vorschriften des StGB. Da sie nicht strafbar handelt, kann ihr dieses sozial-ethisch und moralisch vorwerfbare Verhalten nicht verboten werden; auch ist es grundsätzlich nicht möglich, gegen ein solches Verhalten mithilfe des Gewaltmonopols des Staates einzuschreiten. Ein im Sinne des StGB und dann auch des OEG rechtswidriges Verhalten der Mutter lag nicht vor. Anhaltspunkte für einen versuchten Schwangerschaftsabbruch gemäß § 218 Abs. 4 StGB sind nicht ersichtlich.
Auf § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG kann sich die Klägerin ebenfalls nicht berufen, weil sie zum Tatzeitpunkt aus den oben dargelegten Gründen noch nicht in den Schutzbereich der korrespondierenden Regelung des § 224 StGB einbezogen war.
Mit ihrer gegenteiligen Ansicht dringt die Klägerin nicht durch. Für die von ihr in Anspruch genommene erweiterte bzw. analoge Anwendung des § 1 OEG kann sie sich nicht mit Erfolg auf die Rechtsprechung des BSG berufen. Zwar trifft es zu, dass das BSG mit den richtungweisenden Urteilen vom 05.10.1963 (11 RV 1292/61, BSGE 20, S. 40) und 16.04.2002 (B 9 VG 1/01 R, juris = BSGE 89, S. 199) entschieden hat, dass auch ein im Mutterleib geschädigtes Kind oder ein aus einer Inzestbeziehung geschädigt geborenes Kind Anspruch auf Versorgung nach dem BVG/OEG haben kann. Es trifft auch zu, dass das BSG im Urteil vom 16.04.2002 (a.a.O., RdNr. 21) festgestellt hat, der Wortlaut des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG setze voraus, dass der Geschädigte im Zeitpunkt des Angriffs bereits gelebt hat, was weder auf eine Leibesfrucht (nasciturus) noch auf ein gleichzeitig mit der Gewalttat gezeugtes Kind zutreffe; und hieraus gefolgert hat, es müsse die dadurch aufgetretene Lücke im Wege der Rechtsfortbildung durch entsprechende Anwendung des OEG geschlossen werden. Den vom BSG entschiedenen Fällen ist gemeinsam, dass eine Schwangere das Opfer schwerster Gewalttaten geworden war, die sich mittelbar auf das ungeborene bzw. durch die Gewalttat gezeugte Kind im Sinne einer Schädigung ausgewirkt haben. Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben, da die Mutter der Klägerin nicht Opfer einer Gewalttat, sondern eigenverantwortlich handelnde Person zum Nachteil ihres ungeborenen Kindes ist. Auf diesen Sachverhalt ist die vorgenannte Rechtsprechung des BSG nicht entsprechend anzuwenden.
Eine über die Rechtsprechung des BSG hinausgehende erweiternde bzw. analoge Anwendung des OEG kommt ebenfalls nicht in Betracht. Der Ansicht, dem Schutz des werdenden Lebens müsse im Rahmen des OEG über eine entsprechende Interpretation des Begriffs "eines anderen" im Sinne des § 823 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch verfassungskonform Rechnung getragen werden (Heinz, Vorsätzlicher Drogenkonsum während der Schwangerschaft, ASR 2017, S. 134-140), ist nicht zu folgen. Eine derart weitgehende Anwendung des OEG ist mit seiner ursprünglichen Zielsetzung, wie sie dem Gesetzgeber seinerzeit vorgeschwebt hat, nicht mehr vereinbar. Der Gesetzgeber hat sich vorgenommen: "Strafrechtsreform und moderne Kriminalpolitik haben zum Ziel, dem Verbrechen vorzubeugen, es zu bekämpfen und den Straftäter zu resozialisieren. Das Schicksal der Opfer von Straftaten darf dabei nicht vergessen werden. Im sozialen Rechtsstaat ist es Aufgabe der Gesellschaft, für eine soziale Sicherung derer zu sorgen, die durch Gewalttaten schwere Nachteile für Gesundheit und Erwerbsfähigkeit erleiden. Ebenso muß den Hinterbliebenen geholfen werden, wenn ihr Ernährer durch eine Gewalttat sein Leben verloren hat. Gesetzliche und private Versicherung decken nicht alle Fälle und nicht das volle Risiko. Der gesetzliche Schadensersatzanspruch gegen den Täter hilft dem Opfer nichts, wenn der Täter nicht gefunden wird oder mittellos ist. Der Gesetzentwurf will diese Lücken schließen. Die unschuldigen Opfer von Gewalttaten sollen gegen die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Straftat weitgehend sichergestellt werden."
Konkret hat er zur Begründung der Regelung des § 1 OEG ausgeführt: "Es kann nicht hingenommen werden, daß diejenigen Mitbürger, die unverschuldet durch ein Verbrechen arbeitsunfähig geworden sind, auf allgemeine Sozialhilfeleistungen verwiesen und dadurch in ihrer sozialen Stellung zurückgeworfen werden. Den Staat trifft eine besondere Verantwortung für Personen, die durch eine vorsätzliche Straftat geschädigt werden. Seine Aufgabe ist es, die Bürger namentlich vor Gewalttätern zu schützen. Kann er diese Pflicht nicht erfüllen, so muß er sich für die Entschädigung des Opfers verantwortlich fühlen. Zwar kann es nicht Aufgabe der Allgemeinheit sein, in diesen Fällen Schadensersatz einschließlich eines Schmerzensgeldes: im Sinne des Zivilrechts zu leisten, weil es hier im Gegensatz zur Amtshaftung an einem schuldhaften Verhalten mangelt. Auch eine zivilrechtliche Gefährdungshaftung der für die Verbrechensbekämpfung zuständigen Behörden läßt sich nicht begründen, da für Art und Ausmaß der Kriminalität besondere, zivilrechtlich nicht erfaßbare Entstehungsursachen und Gesetzmäßigkeiten Bedeutung haben. Die zu gewährenden Leistungen sollen nicht vollen Schadensersatz darstellen; sie müssen jedoch der sozialen Verantwortung der Allgemeinheit gerecht werden und über das Bedürftigkeitsprinzip im Sinne des BSHG hinausgehen."
Im Sinne dieser Ziele des Gesetzgebers bei der Schaffung des OEG ist von einer allgemeinen Schutzbedürftigkeit der Bürger auszugehen, die nicht unverschuldet Opfer von Gewalttaten werden sollen. Eine gesteigerte Schutzbedürftigkeit ist für Schwangere und ihre ungeborenen Kinder anzunehmen, sodass es zu rechtfertigen ist, dass der Staat, wenn er diese Schutzpflicht nicht erfüllen kann, entsprechende Entschädigungszahlungen oder sonstige soziale Leistungen zu erbringen hat. Es ist aber nicht zu rechtfertigen, eine Leistungspflicht des Staates und damit auch der Allgemeinheit in den Fällen zu begründen, in denen keine solche (gesteigerte) Schutzpflicht besteht. Staatliche Leistungspflichten und damit eine erweiterte Auslegung des OEG finden ihre Grenze dort, wo eigenverantwortliches Verhalten von Bürgern ungeachtet des Überschreitens sozialethischer oder moralischer Grenzen hingenommen werden muss. Derartige Überlegungen sind auch dem OEG nicht gänzlich fremd, wie sich aus § 2 Abs. 1 ergibt.
Abschließend ist festzustellen, dass nach einer Pressemitteilung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung vom 1. November 2016 (https://www.drogenbeauftragte.de/themen/suchtstoffe-und-abhaengigkeiten/alkohol/alkoholkonsum-in-der-schwangerschaft-und-fetales-alkoholsyndrom.html) jährlich etwa 10.000 Babys mit alkoholbedingten Schädigungen (sog. fetale Alkoholspektrum-Störungen [FASD]) auf die Welt kommen, von denen wahrscheinlich mehr als 2.000 Kinder das Vollbild des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS), einer schwerwiegenden geistigen und körperlichen Behinderung, aufweisen. Das FAS zählt zu den häufigsten bereits bei der Geburt vorliegenden Behinderungen in Deutschland, wobei diese Diagnose nach Ansicht der Drogenbeauftragten der Bundesregierung viel zu selten gestellt wird, da die professionellen Helfer im Gesundheitssystem Hemmungen hätten, einen diesbezüglichen Verdacht auszusprechen oder zu wenig über das Krankheitsbild informiert sind. Des Weiteren hat die Drogenbeauftragte der Bundesregierung auf die S 3 Leitlinie zur Diagnostik des FAS hingewiesen, wonach in Deutschland der Alkoholkonsum während der Schwangerschaft zwischen 14 und 30 Prozent beträgt. Da bereits geringe Mengen Alkohol das ungeborene Kind schädigen könnten, sei nach dieser Ansicht ein vollständiger Alkoholverzicht in der Schwangerschaft unabdingbar.
Da das ungeborene Leben nicht nur durch Alkohol, sondern auch andere Suchtstoffe wie Drogen, Medikamente, Nikotin u. a. geschädigt werden kann, wäre eine erweiterte analoge Anwendung des OEG auf derartige Sachverhalte nicht nur wegen der Vielzahl der betroffenen Fälle mit finanziell kaum überschau- und beherrschbaren Risiken verbunden, sondern wegen der zwangsläufig entstehenden Abgrenzungsprobleme kaum noch praktikabel. Im Hinblick darauf, dass in all diesen Fällen eigenverantwortliches Fehlverhalten der Mütter vorliegt, das der Staat von Rechts wegen nicht verhindern kann, ist ein sozialpolitisches Bedürfnis für eine derart weite Anwendung des OEG nicht zu erkennen und nicht zu rechtfertigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat keine Gründe gesehen, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG). In Anbetracht der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der dadurch geklärten Anwendung des § 1 OEG ist hier keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gegeben.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Umstritten ist die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG).
Die 2005 geborene Klägerin beantragte am 18. Februar 2009, dabei vertreten durch das Jugendamt des Landkreises B., dem die Amtspflegschaft übertragen worden war, bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Zur Begründung gab sie an, durch ein Alkohol-Syndrom der Mutter im Empfängniszeitraum vom 6. November 2004 bis 5. März 2005 geschädigt worden zu sein. Es bestehe ein globaler Entwicklungsrückstand, ein Mikrocephalus (Schädelfehlbildung in Form eines zu kleinen Kopfes) und ein fetales Alkohol-Syndrom. Täterin sei die 1968 geborene Mutter S. M., Tatort deren Wohnung in D. Im parallel geführten Schwerbehindertenverfahren stellte der Beklagte mit Bescheid vom 10. März 2009 aufgrund des am 1. Oktober 2008 gestellten Antrages der Klägerin bei dieser einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 ab 7. Oktober 2008 fest. Diese Entscheidung stützte er auf die Funktionsbeeinträchtigung "Globale Entwicklungsverzögerung bei Alkohol-Embryopathie". Mit Aktenvermerk vom 30. April 2009 hielten die zuständigen Mitarbeiter des Beklagten eine Prüfung des angeschuldigten Tatvorwurfs des Alkoholmissbrauchs der Mutter während der Schwangerschaft durch weitere Sachverhaltsermittlung für nicht erforderlich. Selbst wenn der Vorwurf zuträfe, handelte es sich bei einer Alkoholabhängigkeit um das Erscheinungsbild einer Erkrankung im Rahmen einer Suchterkrankung. Der Verzehr des Alkohols sei Ausdruck eines krankhaften Suchtverhaltens und sei ohne Vorsatz in fahrlässiger, leichtfertiger Weise erfolgt. Der Tatbestand eines vorsätzlichen tätlichen Angriffs i. S. des OEG sei damit nicht verwirklicht. Des Weiteren setze der Entschädigungsanspruch nach dem OEG den Angriff auf eine rechtsfähige natürliche Person voraus, was durch den Wortlaut im Gesetzestext "wer" zum Ausdruck gebracht werde. Eine natürliche Person sei ein Mensch, dessen Rechtsfähigkeit nach § 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) mit der Vollendung der Geburt beginnt. Das ungeborene Leben im Mutterleib erfülle die Voraussetzungen einer rechtsfähigen natürlichen Person noch nicht.
Mit Bescheid vom 30. April 2009 lehnte der Beklagte aus den vorgenannten Gründen die Beschädigtenversorgung nach dem OEG ab. Mit dem am 22. Mai 2009 eingelegten Widerspruch machte die Klägerin geltend, ihrer Ansicht nach seien die Voraussetzungen für eine Opferentschädigung gegeben. Der Anspruch scheitere nicht daran, dass das Kind erst nach dem schädigenden Ereignis auf die Welt gekommen sei. Dies sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im "Lues-Fall" (Urteil vom 15.10.1963, Az. 11 RV 1292/61, BSGE 20, S. 41) sowie auch nach dem Urteil vom 16.04.2002, B 9 VG 1/01 R, juris = BSGE 89, S. 199) anerkannt. Bei Alkoholmissbrauch handele es sich um eine anerkannte Krankheit. Die Kindesmutter habe gewusst, welche gesundheitlichen Schäden für das ungeborene Kind durch Alkoholmissbrauch entstehen können. Zwei weitere ältere Kinder seien bereits verstorben, das zuletzt verstorbene Kind wahrscheinlich an den Folgen des Alkoholmissbrauches der Mutter. Leistungen nach dem OEG seien auch zu gewähren, wenn der Täter schuldunfähig sei. Eine Körper- und Gesundheitsverletzung könne auch schon an einer Leibesfrucht entstehen, wobei sich mit der Geburt die Schädigung auswirke.
Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Juni 2011 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung gab er an, dass nach § 1 Abs. 1 OEG der Tatbestand des vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs erfüllt sein müsse. Dies setze das Vorhandensein einer natürlichen Person, nämlich eines Menschen voraus, der als solcher rechtsfähig ist. Ein Kind werde mit Vollendung seiner Geburt rechtsfähig. Das BSG habe den Versorgungsschutz nach dem OEG aber auch auf Personen ausgedehnt, die im Zeitpunkt der schädigenden Einwirkung noch nicht geboren sind, aber unter den Folgen dieser Entwicklung zu leiden haben. Damit sei auch die gezeugte noch ungeborene Leibesfrucht – der sog. nasciturus – als anspruchsberechtigt anzusehen. Demzufolge werde an der insoweit ablehnenden Begründung im Ausgangsbescheid vom 30. April 2009 nicht mehr festgehalten. Allerdings sei die Klägerin nicht Opfer eines vorsätzlichen tätlichen Angriffs i. S. des OEG geworden. Fraglich sei bereits, ob ein tätlicher Angriff vorliegt. Zwar sei nach der Rechtsprechung des BSG nicht mehr die feindselige Willensrichtung im Sinne einer gewaltsamen und in der Regel handgreiflichen Einwirkung zu verlangen, da es der besonderen Feststellung der Feindseligkeit als innere Tatsache dann nicht mehr bedürfe, wenn es sich um eine Straftat handelt. Der Alkoholmissbrauch der Mutter aufgrund ihrer Abhängigkeitserkrankung und ihrer damit verbundenen Selbstgefährdung stelle aber zweifellos kein strafrechtlich relevantes Verhalten dar. Ob und inwieweit sie damit gleichzeitig in strafbarer Weise die körperliche Integrität ihrer Leibesfrucht verletzt hat, sei strafrechtlich ungeklärt. Tatbestandlich könnte es sich um eine Körperverletzung handeln. Sofern eine solche im strafrechtlichen Sinn vorliege, sei allerdings zusätzliche Voraussetzung, dass die Begehensweise gegenüber der Leibesfrucht vorsätzlich erfolgt ist. Dies könne im Fall einer alkoholkranken und alkoholabhängigen Mutter nicht angenommen werden. Abhängigkeitskranke hätten das Ziel, ihre Sucht zu befriedigen. Dabei spielten Suchtmotive wie Schmerzlinderung, Lösung von Verstimmungszuständen, der Wunsch nach Betäubung und Ähnliches eine Rolle. Sie nähmen bewusst die Entwicklung physischer und psychischer Abhängigkeitserkrankungen ihrer eigenen Person in Kauf. Insoweit handelten sie bezüglich der Verletzung ihrer eigenen körperlichen Integrität vorsätzlich. Dies gelte jedoch nicht bezüglich ihrer Leibesfrucht. Insoweit könne nur eine fahrlässige Handlungsweise in Betracht kommen. Da fahrlässiges Handeln einer schwangeren Frau keinen vorsätzlichen Angriff im Sinne des OEG darstelle, könne dies keinen Versorgungsanspruch zugunsten eines von der Geburt an durch den Konsum alkoholtoxischer Substanzen der Mutter in seiner Gesundheit geschädigten Kindes begründen.
Mit ihrer am 29. Juni 2011 vor dem Sozialgericht (SG) Magdeburg erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt und vorgetragen, geistig-seelisch und körperlich schwer geschädigt zu sein. Der Anspruch scheitere nicht daran, dass die Kindesmutter unter einer Abhängigkeitserkrankung gelitten habe. Sie habe die gesundheitliche Schädigung des ungeborenen Kindes billigend in Kauf genommen. Deshalb müsse von einem tätlichen Angriff ausgegangen werden; eine Körperverletzung sei gegeben. Leistungen nach dem OEG müssten auch gezahlt werden, wenn der Täter schuldunfähig ist. Den mit der Klage vorgelegten Unterlagen ist unter anderem ein stationärer Aufenthalt der Klägerin im A. Fachklinikum B. vom 14. März bis 5. April 2012 zu entnehmen. Dort wurden die Diagnosen "Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1), Bindungsstörung mit Enthemmung (F94.2), kombinierte Entwicklungsstörung (F83), leichte Intelligenzminderung mit Verhaltensstörungen (F70.1), fetales Alkohol-Syndrom (Q86.0), abweichende Elternsituation, ernsthafte und durchgängige soziale Beeinträchtigung" genannt. Anamnestisch wurde angegeben, dass es sich bei der Klägerin um ein ehemaliges Frühgeborenes der 37. Schwangerschaftswoche (Geburtsgewicht 1740 g, Größe 40 cm) gehandelt habe. Die Schwangerschaft sei durch Nikotin- und Alkoholkonsum sowie durch besondere psychische und soziale Belastungen der Kindesmutter (Verlust von zwei Kindern) belastet gewesen. Die Klägerin habe nach der Geburt Alkoholentzugserscheinungen und eine Übererregbarkeit gezeigt. Sie lebe seit dem zweiten Lebensjahr bei ihren jetzigen Pflegeeltern, besuche seit dem Schuljahr 2012/2013 die Förderschule "N." in H. und werde nach dem Lehrplan der Förderschule für geistige Entwicklung der Unterstufe unterrichtet (Bescheid des Landesschulamtes vom 16. April 2012). Des Weiteren bezieht die Klägerin Leistungen bei Pflegebedürftigkeit nach der Pflegestufe II ab 1. August 2011 in Form einer Geldleistung von monatlich 430 EUR (Bescheid der Pflegekasse der Barmer Ersatzkasse vom 18. Oktober 2011).
Der Beklagte ist der Klage unter Hinweis auf ein Urteil des SG Regensburg vom 5. April 2013 (Az. S 13 VG 2/09) entgegengetreten. Er hat angegeben, ein Kind, das im Mutterleib durch Drogenkonsum der Mutter geschädigt worden sei, habe keinen Anspruch auf Versorgung nach dem OEG. Der übermäßige Drogenkonsum stelle eine Selbstschädigung der Mutter dar. Da Mutter und Kind bis zur Geburt des Kindes eine Einheit bildeten, sei bei dem ungeborenen Kind ebenfalls von einer Selbstschädigung auszugehen. Dies gelte auch, wenn keine Drogen, sondern Alkohol konsumiert würde. Eine Selbstschädigung von Mutter und ungeborenem Kind unterliege nicht dem Schutzbereich des OEG.
Das SG hat in der mündlichen Verhandlung vom 12. Februar 2015 die leibliche Mutter der Klägerin als Zeugin vernommen. Diese hat ausgesagt, bereits vor der Schwangerschaft mit der Klägerin Alkohol konsumiert zu haben. Sie habe deswegen auch schon einen Sohn verloren, der 2000 geboren und 2002 eines plötzlichen Kindestodes gestorben sei. Sie habe auch während der Schwangerschaft mit der Klägerin Alkohol konsumiert, mal ein Glas Wein, aber auch mal einen Schnaps. Ihr sei klar gewesen, dass das Kind dadurch geschädigt werde. Sie habe sich auch gesagt, sie dürfe so nicht weitermachen. Trotzdem habe sie immer wieder angefangen zu trinken. Sie sei schon der Meinung, dass sie das mit dem Alkoholkonsum steuern könne. Manchmal trinke sie tagelang nichts. Der ebenfalls als Zeuge vernommene leibliche Vater der Klägerin hat angegeben, die Kindesmutter habe bereits während der Schwangerschaft mit dem gemeinsamen Sohn, der später verstorben sei, Alkohol konsumiert. Allerdings nicht so viel, wie bei der Schwangerschaft mit der Klägerin. Er denke, dass der Verlust des Sohnes zu dem erhöhten Alkoholkonsum beigetragen hat. Es habe noch eine weitere Schwangerschaft vor der Geburt der Klägerin gegeben. Diese Tochter sei im sechsten Schwangerschaftsmonat als Frühchen zur Welt gekommen. Sie sei zu Hause geboren worden, habe aber dann nur noch zwei Tage gelebt und sei in der Klinik verstorben. Der Alkoholkonsum der Kindesmutter habe überwiegend in Mixgetränken wie z. B. Schnaps mit Cola bestanden. Er denke, dass ihr durchaus bewusst gewesen sei, dass das nicht gut für die Gesundheit des Kindes war. Sie habe auch weniger trinken wollen, es aber nicht geschafft. Nach der Schwangerschaft mit der Klägerin habe sie eine Therapie gemacht, was erst mal auch gut gelaufen sei, aber dann sei das mit dem Trinken wieder von vorn losgegangen.
In Auswertung der Zeugenaussagen hat der Beklagte vorgetragen, es sei bestätigt, dass die Klägerin während der Schwangerschaft einem massiven Alkoholkonsum der Mutter ausgesetzt gewesen sei. Deshalb bestehe bei der Klägerin auch unstreitig ein sogenanntes fetales Alkoholsyndrom. Die Aussagen hätten aber auch verdeutlicht, dass die Kindesmutter während und auch nach der Schwangerschaft mit der Klägerin den Alkohol nicht konsumiert habe, um primär den Fetus zu schädigen, sondern weil sie alkoholkrank gewesen sei und wohl immer noch ist. Vor diesem Hintergrund stehe der Klägerin kein Anspruch auf Versorgung nach dem OEG zu.
Demgegenüber hat die Klägerin (nunmehr vertreten durch den Sozialverband Deutschland e. V.) hervorgehoben, das Ziel des OEG bestehe darin, Opfer von Gewalttaten, denen der Staat nicht habe beistehen können, zu entschädigen. Dies sei bei der Klägerin unstreitig der Fall. Nach § 1 Abs. 2 OEG stehe einem tätlichen Angriff im Sinne des Absatzes 1 die vorsätzliche Beibringung von Gift oder die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen gleich. Zweifellos sei der hochprozentige Alkohol, den die Mutter der Klägerin während der Schwangerschaft zu sich genommen habe, als Gift aufzufassen. Der Mutter sei auch klar gewesen, dass dadurch das ungeborene Kind geschädigt werde. Insoweit müsse mindestens von Fahrlässigkeit ausgegangen werden. Gemäß § 223 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) mache sich derjenige, der wissentlich und/oder gewollt eine andere Person körperlich misshandele oder an der Gesundheit schädige, einer Körperverletzung strafbar. Das BSG habe in seinen bereits angeführten Urteilen das Vorliegen eines tätlichen Angriffs auch bei einer Schädigung des noch ungeborenen Kindes angenommen. Darüber hinaus sei Ziel des tätlichen Angriffs in den beiden genannten Fällen nicht das ungeborene oder sogar noch nicht einmal gezeugte Kind, sondern jeweils die Mutter gewesen. Das BSG habe insoweit auf die enge vorgeburtliche Verbundenheit zwischen Mutter und Kind hingewiesen. Ob nun der Klägerin der Schaden direkt durch schädigende Einwirkung der Mutter auf die Leibesfrucht oder durch Dritte auf die Mutter und somit auch auf das Kind zugefügt worden ist, mache im Ergebnis keinen Unterschied. In jedem Fall bleibe das Versagen der staatlichen Organe und die sich daraus ergebende Entschädigungspflicht maßgeblich.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 10. Juli 2015 abgewiesen und in den Entscheidungsgründen im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin habe weder einen unmittelbaren noch einen mittelbaren Anspruch auf die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach § 1 OEG. Die direkte Anwendung von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG scheide aus, da der Wortlaut dieser Vorschrift ("wer infolge eines Angriffs gegen seine oder eine andere Person") offensichtlich voraussetze, dass die geschädigte Person im Zeitpunkt des Angriffs bereits gelebt habe. Diese Voraussetzung sei weder im Fall der Leibesfrucht (nasciturus) noch im Fall des gleichzeitig mit der Gewalttat erzeugten Kindes erfüllt. Insofern bestehe nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 16. April 2002, B 9 VG 1/01R, juris) eine Regelungslücke. Die Klägerin sei im Zeitpunkt der Schädigung durch den Alkoholkonsum ihrer Mutter noch nicht geboren gewesen, sodass allenfalls eine analoge Anwendung der Regelung des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Betracht komme. Allerdings lägen hierfür die Voraussetzungen nicht vor. Der Richter sei zur Ausfüllung einer Gesetzeslücke im Wege der Rechtsfortbildung nur berufen, wo das Gesetz mit Absicht schweigt, weil es die Regelung der Rechtsprechung überlassen wollte oder das Schweigen auf einem Versehen oder darauf beruht, dass sich der nicht geregelte Tatbestand erst nach Erlass des Gesetzes durch eine Veränderung der Lebensverhältnisse ergeben hat. Grundsätzlich spreche nichts dafür, dass der Gesetzgeber die Leibesfrucht und auch das noch nicht gezeugte Kind bewusst von der Entschädigungsregelung habe ausnehmen wollen. Allerdings müsse eine zu den geregelten Fällen gleichgelagerte Interessenlage bestehen. Es müsse mithin ein rechtswidriger vorsätzlicher tätlicher Angriff gegen eine Person vorliegen und dadurch müsse ein Gesundheitsschaden verursacht worden sein (BSG, Urteil vom 16. April 2002, a.a.O.). Zu den sog. Inzestfällen habe das BSG in der zitierten Entscheidung eine gleichlautende Interessenlage bejaht, wenn es sich bei dem Geschlechtsverkehr im Rahmen der Inzestbeziehung um einen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff gehandelt habe. Der Unterschied dieser Fälle zu den geregelten Tatbeständen bestehe im Wesentlichen darin, dass sich die Gewalttat auf einen gleichzeitig mit ihr gezeugten oder nur wenig später werdenden Menschen auswirke, indem sie ihn mit Gesundheitsschäden entstehen lasse. Dieser Unterschied habe aber im Vergleich zu den von § 1 OEG erfassten Fällen und angesichts des Zwecks der gesetzlichen Regelung untergeordnete Bedeutung und rechtfertige gegenüber den gesund gezeugten, aber vorgeburtlich geschädigten Opfern keine unterschiedliche Behandlung. Eine vergleichbare Interessenlage sei für die Fälle, in denen die Mutter durch den Konsum von Alkohol oder Drogen die Leibesfrucht während der Schwangerschaft schädige, nicht gegeben.
Allerdings könne in diesem Zusammenhang ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff nicht ohne weiteres ausgeschlossen werden. Der Begriff des "vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs" im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG sei nach dem Willen des Gesetzgebers eigenständig und ohne direkte Bezugnahme auf das Strafgesetzbuch geregelt worden; gleichwohl orientiere sich die Auslegung an der im Strafrecht gewonnenen Bedeutung des auch dort verwendeten rechtstechnischen Begriffs "tätlicher Angriff". Mit Rücksicht auf den das OEG prägenden Gedanken des lückenlosen Opferschutzes sei eine kämpferische feindselige Absicht des Täters nicht erforderlich (BSG, Urteil vom 7. April 2011, B 9 VG 2/10 R, juris). Der vorsätzlichen Beibringung von Gift nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG komme in diesem Zusammenhang kaum noch eigenständige Bedeutung zu. Die vorsätzliche Beibringung von gesundheitsschädlichen Stoffen wie zum Beispiel Alkohol dürfte nach heutigem Verständnis grundsätzlich als tätlicher Angriff anzusehen sein. Im Gegensatz zu einer gewaltsamen Zeugung eines Kindes im Rahmen einer Inzestbeziehung liege selbst bei einer bedingt vorsätzlichen Schädigung des Kindes durch den Alkoholkonsum der Mutter keine Straftat vor. Es widerspräche dem Sinn und Zweck des OEG, diese Fälle in den Anwendungsbereich des OEG einzubeziehen. Zwar würden in der zivilrechtlichen Literatur mögliche Schadensersatzansprüche des Kindes gegen die Mutter diskutiert, es müssten aber unterschiedliche Wertungen von Ansprüchen nach dem OEG und im Zivilrecht in Kauf genommen werden. Für die Anwendung des OEG sei maßgeblich, dass eine Gewalttat, die ursächlich für einen gesundheitlichen Defekt gewesen ist, nicht verhindert worden sei. Das OEG diene nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers nur der Entschädigung von Körperschäden nach Gewaltkriminalität. Dabei sei nicht jede körperliche Folge einer strafbaren Handlung in die Entschädigungsverpflichtung einbezogen worden, und das Gesetz diene nicht jeglichem Individualrechtsgüterschutz. Die Begrenzung der Entschädigung auf Opfer von Gewalttaten orientiere sich daran, dass die Opferrolle nach einer Gewalttat eine wesentlich andere sei, als die nach einem beliebigen schweren Unglücksfall. Bei Unglücksfällen mangele es an einem willentlichen Bruch der Rechtsordnung durch körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person; es fehle die Enttäuschung der Erwartung der Unverbrüchlichkeit des wesentlichen Kerns der Friedensordnung innerhalb der Gesellschaft. Deswegen sei auch davon abgesehen worden, Unfallschäden in die Entschädigung nach dem OEG einzubeziehen, und zwar selbst dann, wenn bei der Entstehung des Unfalls leichtere strafbare Handlungen gewirkt hätten. Dieses sei auch konsequent, wenn bedacht werde, dass die Gewährung von Opferentschädigung mit einem Versagen des staatlichen Gewaltmonopols begründet werde, also mit einem Versagen des Staates, die Bürger vor Gewaltkriminalität zu schützen (BSG, Urteil vom 12. Juni 2003, B 9 VG 11/02 B, juris). Hierin liege auch der wesentliche Unterschied zu den Fällen, bei denen ein ungeborenes Kind durch eine Gewalttat von einem Dritten oder durch die Mutter selbst geschädigt werde. Im ersteren Fall sei eine Anknüpfung an das OEG durch die strafrechtlich relevante Gewalthandlung eines Dritten gerechtfertigt. In diesem Fall sei ein Versagen des Gewaltmonopols des Staates gegeben, welches Grundlage der Regelungen der OEG ist. Bei der Schädigung eines ungeborenen Kindes durch den Alkohol- oder Drogenkonsum der Mutter liege ein solches Versagen aber nicht vor. Selbst bei Bekanntwerden einer solchen Verhaltensweise hätte der Staat keine Möglichkeit einzugreifen, da dieses Verhalten zwar sicherlich ethisch verwerflich ist, aber durch die Rechtsordnung nicht sanktioniert werde. Die Entscheidung des Gesetzgebers, dieses Verhalten grundsätzlich nicht zu sanktionieren, sondern vielmehr über Aufklärung dem embryonalen Alkoholsyndrom gegenüberzutreten, könne bei der Prüfung der Ausweitung des Anwendungsbereiches von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG auf diese Fälle nicht unberücksichtigt bleiben.
Das SG hat die Sprungrevision nach § 161 SGG in Verbindung mit § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, da die Rechtssache eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung aufweise.
Die Klägerin greift das ihr am 3. August 2015 zugestellte Urteil mit ihrer am 19. August 2015 erhobenen Berufung an. Sie macht mit Berufungsbegründung vom 6. Mai 2016 weiterhin einen Anspruch auf der Grundlage von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geltend, dessen Anwendungsbereich unstreitig eröffnet sei. Sie lässt vortragen, es sei in Literatur und Rechtsprechung allgemein anerkannt, dass auch der nasciturus vom Schutzbereich des § 1 OEG erfasst werde. Hier liege ein Fremdschädigungsverhalten der Mutter vor, weil der Alkoholkonsum einer Schwangeren zwar vorrangig eine Selbstschädigung, zugleich aber auch eine Fremdschädigung in Bezug auf den Fötus darstelle. Diese Fremdschädigung müsse der Mutter auch zugerechnet werden. Es müsse von einem Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 OEG in Form der Beibringung von Gift ausgegangen werden, weil es sich bei dem von der Mutter konsumierten Alkohol hinsichtlich Menge und Konzentration um eine Substanz handele, die als Gift im Sinne dieser Regelung angesehen werden könne. Die Mutter habe bei dem Konsum des Alkohols auch mit bedingtem Vorsatz und nicht lediglich bewusst fahrlässig gehandelt. Sie habe die schädigende Einwirkung des Alkohols auf das ungeborene Leben im Mutterleib und damit die Schädigung des Gesundheitszustandes ihres ungeborenen Kindes für möglich gehalten und die Schädigungsfolgen billigend in Kauf genommen. Die Mutter habe eben nicht lediglich darauf vertraut, dass "alles gut geht", da ihr die Gefährlichkeit ihres Tuns bekannt gewesen sei. Dies sei vor dem Hintergrund der Zeugenaussage der Mutter zu sehen, die angegeben habe, ihr sei klar gewesen, dass das Kind durch das Trinken von Alkohol geschädigt werde. Der Mutter sei somit nicht nur die Gefährlichkeit ihres Tuns bekannt gewesen, was für ein bewusst fahrlässiges Verhalten ausreiche, sondern ihr sei die Möglichkeit der Schädigung ihres Ungeborenen klar gewesen. Dass sie sich dennoch nicht davon habe abhalten lassen, Alkohol in einem gesundheitsgefährdenden Ausmaß zu sich zu nehmen, spreche für bedingten Vorsatz.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 10. Juli 2015 sowie den Bescheid des Beklagten vom 30. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juni 2011 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei der Klägerin eine globale Entwicklungsverzögerung bei Alkohol-Embryopathie als Schädigungsfolge anzuerkennen und eine Beschädigtenrente nach dem OEG nach einem Grad der Schädigung von mindestens 50 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er macht geltend, dass eine Leistungspflicht des Beklagten bereits daran scheitere, dass es sich bei Alkohol- oder Drogenkonsum einer Schwangeren) um eine Selbstschädigung handele, die vom Anwendungsbereich des OEG nicht umfasst werde. Die Mutter bilde eine biologische Einheit mit der Leibesfrucht, weshalb eine Schädigung des ungeborenen Kindes durch die Mutter nicht mit einer Gewalttat durch einen Dritten vergleichbar sei. Ein Versagen des Gewaltmonopols, die Bürger vor Gewaltkriminalität zu schützen, könne daher gerade nicht angenommen werden. Die Rechtsordnung sanktioniere vorgeburtliche Schädigungen durch die Mutter nicht, auch wenn dies ethisch oder moralisch verwerflich erscheint. Ausnahmsweise werde ungeborenes Leben nur nach den §§ 218 ff. StGB geschützt. Zu einem Abbruch der Schwangerschaft habe der Alkoholkonsum der Mutter jedoch unstreitig nicht geführt. Der Anwendungsbereich der §§ 212 und 223 ff. StGB sei erst mit dem "Beginn des Menschseins" eröffnet. Dies werde übereinstimmend ab dem Einsetzen der Eröffnungswehen oder nach dem Öffnen des Uterus bei einem Kaiserschnitt angenommen. Damit gehe der strafrechtliche Schutz bereits über den zivilrechtlichen Lebensschutz hinaus. Denn nach § 1 BGB beginne die Rechtsfähigkeit eines Menschen erst mit Vollendung der Geburt. Die Schädigung habe jedoch bereits vor Beginn der Geburtswehen stattgefunden. Die fehlende Sanktionierung vorgeburtlicher Schädigungen dürfe aber nicht zu einer Ausdehnung des Anwendungsbereiches des OEG führen. Es sei nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber den "nasciturus" ebenso wie natürliche Personen in den Schutzbereich des OEG habe stellen wollen. Im Falle der Annahme einer Fremdschädigung durch die Mutter fehle es an einem darauf gerichteten Vorsatz. Wie den Aussagen der Mutter in der Zeugenvernehmung zu entnehmen sei, habe sie versucht, der Sucht zu widerstehen, weil ihr die schädliche Wirkung des Alkohols auf das ungeborene Kind bewusst war. Hieraus werde deutlich, dass die Mutter mit der Schädigung gerade nicht einverstanden gewesen sei und diese habe verhindern wollen. Die Schädigung sei auch nicht rechtswidrig erfolgt. Der Schutzbereich der §§ 212, 223 ff. StGB wirke erst mit Beginn des Lebens, sei hier zum Zeitpunkt der Schädigung also noch nicht eröffnet gewesen. Es sei nicht ersichtlich, welche anderen gesetzlichen Regelungen dem Erwerb und Konsum von Alkohol während der Schwangerschaft entgegenstehen. Auch komme insoweit keine Strafbarkeit nach dem Betäubungsmittelgesetz in Betracht. Abgesehen davon, dass Alkohol nicht unter die Betäubungsmittel des § 1 Betäubungsmittelgesetz falle, wäre auch ein unterstellter Drogenkonsum nicht mit Strafe bewährt.
Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Die Zulassung der Sprungrevision durch das SG gemäß § 161 Abs. 1 Satz 1 SGG hat für die Klägerin die Möglichkeit geschaffen, unter Verzicht auf die Berufungsinstanz als zweiter Tatsacheninstanz sofort das Revisionsgericht anzurufen. Allerdings war sie dazu nicht verpflichtet, sondern konnte wählen, ob sie Berufung oder Revision einlegt (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl., RdNr. 9a zu § 161). Die Berufung ist auch zulässig, insbesondere form- und fristgerecht gemäß § 151 Abs. 1 SGG erhoben.
Die Berufung ist jedoch unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Beschädigtenrente nach dem OEG. Die angefochtenen Bescheide und das Urteil des SG sind rechtmäßig.
Rechtsgrundlage für den von der Klägerin mit der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG) verfolgten Anspruch ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG (i.d.F. vom 19.06.2006, BGBl. I S. 1305) i.V. mit § 31 Bundesversorgungsgesetz (BVG). Danach erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Einem tätlichen Angriff in diesem Sinne steht die vorsätzliche Beibringung von Gift gleich (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 BVG).
Die erlittene physische oder psychische Schädigung muss in einem Gesundheitsschaden bestehen, der geeignet ist, einen Anspruch nach dem OEG zu begründen. Die Schädigung muss auf einen "tätlichen Angriff" zurückzuführen sein. Insoweit ist entscheidend, ob der Primärschaden und eventuelle Folgeschäden gerade die zurechenbare Folge einer körperlichen Gewaltanwendung gegen eine Person sind (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R - BSGE 118, S. 63 = SozR 4-3800 § 1 Nr. 21).
Der geltend gemachte Anspruch ist nicht erfüllt, weil ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff hier nicht gegeben ist.
Festzustellen ist zunächst, dass eine oder mehrere (fortgesetzte) Schädigungshandlungen der Mutter vorgeburtlich auf die Klägerin eingewirkt und eine Schädigung (u.a.) in Form eines fetalen Alkohol-Syndroms mit globaler Entwicklungsverzögerung herbeigeführt haben. Denn nach Ermittlungen des SG, das Mutter und Vater als Zeugen vernommen hat, ist davon auszugehen, dass die Mutter während der Schwangerschaft wiederholt Alkohol in erheblichen Mengen zu sich genommen und die Klägerin dadurch gesundheitliche Schäden im beschriebenen Sinne davongetragen hat. Da dieser Sachverhalt feststeht, ist die Frage nach Einzelheiten von Ort, Zeitpunkt bzw. Zeitraum und Menge des konsumierten Alkohols nicht von Belang.
Des Weiteren ist davon auszugehen, dass es sich bei dem Verzehr von Alkohol durch eine Schwangere um eine unmittelbare Gewaltanwendung gegenüber dem ungeborenen Kind im Sinne der Rechtsprechung des BSG handelt. Das BSG hat klargestellt, dass ein tätlicher Angriff erst vorliegt, wenn körperliche Gewalt gegen eine Person ausgeübt wird (Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R - BSGE 118, S. 63 = SozR 4-3800 § 1 Nr. 21). Nach diesen Grundsätzen ist hier eine unmittelbare physische Einwirkung eines schädlichen Stoffes (Alkohol) auf das ungeborene Leben der Klägerin anzunehmen. Denn die biologische Einheit von Mutter und Embryo bedeutet, dass der Konsum von Alkohol durch die Mutter zugleich auch eine physische Wirkung auf das ungeborene Leben der Klägerin entfaltet hat. Darauf, ob dieser Vorgang auch unter § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG (Beibringung von Gift) zu subsumieren ist, kommt es deshalb nicht entscheidend an.
Die weiteren Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 OEG liegen jedoch nicht vor, weil die Klägerin bei dem Alkoholmissbrauch durch die Mutter keinem vorsätzlichen rechtswidrigen Angriff ausgesetzt war.
Das BSG hat für den Begriff "vorsätzlicher, rechtswidriger (tätlicher) Angriff" in ständiger Rechtsprechung grundsätzlich auf eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame physische Einwirkung abgestellt (BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R – a.a.O; Urteil vom 29.04.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, S. 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr. 17, RdNr. 25 m.w.N.; Urteil vom 02.10.2008 - B 9 VG 2/07 R – juris, RdNr. 14 m.w.N.). Eine feindselige Willensrichtung ist schon dann gegeben, wenn es dem Täter auf den Eintritt des Erfolgs ankommt, er also bewusst und mit Vorsatz rechtsfeindlich gehandelt hat. Weitere subjektive Merkmale wie zum Beispiel eine kämpferische, feindselige Absicht des Täters gegen das Opfer sind hingegen nicht erforderlich (Grundgedanke des möglichst lückenlosen Opferschutzes durch das OEG, stRspr. seit 1995; vgl. hierzu BSG, Urteile vom 17.04.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, S. 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr. 20, SozR 4-3900 § 15 Nr. 1 – juris, RdNr. 27 und - B 9 V 3/12 R – juris, RdNr. 28, jeweils unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, S. 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, RdNr. 32 m.w.N.).
Ein vorsätzlicher tätlicher Angriff gegen eine Person im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG kann auch dann vorliegen, wenn der Täter hinsichtlich eines strafrechtlich relevanten Erfolges mit bedingtem Vorsatz (dolus eventualis) handelt (BSG, Urteil vom 04.02.1998, B 9 VG 5/96 R, juris). Daher kann es auch ausreichen, wenn der Täter zwar nicht wissentlich und willentlich sein Verhalten auf die Verwirklichung eines durch Eintritt eines Erfolges wie zum Beispiel die Verletzung oder den Tod des Opfers gekennzeichneten Straftatbestandes ausgerichtet, den Erfolg aber für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat (BSG, Urteil vom 04.02.1998, a.a.O.). Ein bedingter Vorsatz der Mutter ist hier anzunehmen, denn ihre Zeugenaussage vor dem SG "Ich habe dann auch während der Schwangerschaft mit der Klägerin Alkohol konsumiert, mal ein Glas Wein aber auch mal ein Schnaps. Mir war klar, dass das Kind dadurch geschädigt wird. Ich habe mir auch immer gesagt, ich darf nicht mehr weitermachen. Habe aber immer wieder angefangen zu trinken." lässt erkennen, dass ihr die schädliche Wirkung des Alkohols auf das ungeborene Kind bewusst war und sie diese Schädigung auch in Kauf genommen hat. Dies geht über grobe Fahrlässigkeit hinaus, denn die Mutter ist davon ausgegangen, dass das Kind geschädigt wird, hat also nicht darauf vertraut oder gehofft, es werde nichts passieren. Im Übrigen wusste die Mutter durch den Tod bzw. die Schädigung der anderen Kinder bei der Schwangerschaft mit der Klägerin genau, zu welchen Konsequenzen Alkoholmissbrauch in ihrem Falle führen kann. Hiervon zu trennen ist die Frage, ob die Mutter möglicherweise infolge einer schwerwiegenden Alkoholerkrankung nicht in der Lage war, ihr Verhalten zu steuern. Eine zum Zeitpunkt der schädigenden Handlung möglicherweise krankheitsbedingt bestehende Schuldunfähigkeit steht der Feststellung eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs aber nicht entgegen (BSG, Urteil vom 08.11.2007, B9/9A VG 2/06 R, juris [Orientierungssatz]).
Die (unmittelbare) Anwendung von § 1 OEG scheitert hier aber daran, dass das Verhalten der Mutter nicht als rechtswidriger Angriff zu qualifizieren ist.
Nach der Rechtsprechung des BSG hat der Gesetzgeber mit der gewählten Formulierung "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" die Verletzungshandlung im OEG eigenständig und ohne direkten Bezug auf das StGB geregelt (Urteile vom 16.12.2014 und 07.04.2011 [unter Hinweis auf BT-Drs. 7/2506, S. 10], a.a.O.). Gleichwohl orientiert sich die Auslegung an der im Strafrecht gewonnenen Bedeutung des auch dort verwendeten rechtstechnischen Begriffs des "tätlichen Angriffs" (so deutlich Urteil vom 07.04.2011, a.a.O.). Allerdings leitet das BSG aus dem Merkmal des "tätlichen Angriffs" ab, dass der Gesetzgeber mit diesem Begriff den schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in rechtlich nicht zu beanstandender Weise begrenzt und den im Strafrecht uneinheitlich verwendeten Gewaltbegriff eingeschränkt hat (Urteil vom 16.12.2014, a.a.O., RdNr. 20). In jedem Fall muss durch den Angriff, sei es unmittelbar im Rahmen des Strafrechts unter Anwendung des Strafgesetzbuchs oder durch das OEG bei der Prüfung eines rechtswidrigen, tätlichen Angriffs, eine durch die Rechtsordnung geschützte Rechtsgutverletzung eingetreten sein. Bei diesen Rechtsgütern handelt es sich, wie der Rechtsprechung und auch der Gesetzesbegründung zum OEG zu entnehmen ist, im Wesentlichen um Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Bürger. Der unmittelbare Schutz dieser Rechtsgüter ist im Wesentlichen im StGB geregelt, sodass der Schutz des OEG erst dann eingreift, wenn eine objektive Verletzung eines dieser Schutzgüter erfolgt ist.
Die Schädigung eines ungeborenen Kindes (nasciturus) durch Alkoholmissbrauch der Mutter verletzt (grundsätzlich) keine der Normen des StGB, die im Anwendungsbereich des OEG liegen. Denn der Zeitpunkt des Beginns des durch §§ 211 ff., 223 ff. StGB geschützten Lebens wird normativ, nicht biologisch bestimmt. Maßgebend für den strafrechtlichen Schutz ist daher, anders als beim Beginn der Rechtsfähigkeit nach § 1 BGB, der Beginn des Geburtsaktes, d.h. bei regulärem Geburtsverlauf das Einsetzen der Eröffnungswehen (Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, Rn. 5 vor §§ 211-217 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes [BGH]). Soweit also eine Schwangere durch Missbrauch von Alkohol die Gesundheit ihres ungeborenen Kindes schädigt, handelt sie nicht strafbar nach den vorgenannten Vorschriften des StGB. Da sie nicht strafbar handelt, kann ihr dieses sozial-ethisch und moralisch vorwerfbare Verhalten nicht verboten werden; auch ist es grundsätzlich nicht möglich, gegen ein solches Verhalten mithilfe des Gewaltmonopols des Staates einzuschreiten. Ein im Sinne des StGB und dann auch des OEG rechtswidriges Verhalten der Mutter lag nicht vor. Anhaltspunkte für einen versuchten Schwangerschaftsabbruch gemäß § 218 Abs. 4 StGB sind nicht ersichtlich.
Auf § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG kann sich die Klägerin ebenfalls nicht berufen, weil sie zum Tatzeitpunkt aus den oben dargelegten Gründen noch nicht in den Schutzbereich der korrespondierenden Regelung des § 224 StGB einbezogen war.
Mit ihrer gegenteiligen Ansicht dringt die Klägerin nicht durch. Für die von ihr in Anspruch genommene erweiterte bzw. analoge Anwendung des § 1 OEG kann sie sich nicht mit Erfolg auf die Rechtsprechung des BSG berufen. Zwar trifft es zu, dass das BSG mit den richtungweisenden Urteilen vom 05.10.1963 (11 RV 1292/61, BSGE 20, S. 40) und 16.04.2002 (B 9 VG 1/01 R, juris = BSGE 89, S. 199) entschieden hat, dass auch ein im Mutterleib geschädigtes Kind oder ein aus einer Inzestbeziehung geschädigt geborenes Kind Anspruch auf Versorgung nach dem BVG/OEG haben kann. Es trifft auch zu, dass das BSG im Urteil vom 16.04.2002 (a.a.O., RdNr. 21) festgestellt hat, der Wortlaut des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG setze voraus, dass der Geschädigte im Zeitpunkt des Angriffs bereits gelebt hat, was weder auf eine Leibesfrucht (nasciturus) noch auf ein gleichzeitig mit der Gewalttat gezeugtes Kind zutreffe; und hieraus gefolgert hat, es müsse die dadurch aufgetretene Lücke im Wege der Rechtsfortbildung durch entsprechende Anwendung des OEG geschlossen werden. Den vom BSG entschiedenen Fällen ist gemeinsam, dass eine Schwangere das Opfer schwerster Gewalttaten geworden war, die sich mittelbar auf das ungeborene bzw. durch die Gewalttat gezeugte Kind im Sinne einer Schädigung ausgewirkt haben. Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben, da die Mutter der Klägerin nicht Opfer einer Gewalttat, sondern eigenverantwortlich handelnde Person zum Nachteil ihres ungeborenen Kindes ist. Auf diesen Sachverhalt ist die vorgenannte Rechtsprechung des BSG nicht entsprechend anzuwenden.
Eine über die Rechtsprechung des BSG hinausgehende erweiternde bzw. analoge Anwendung des OEG kommt ebenfalls nicht in Betracht. Der Ansicht, dem Schutz des werdenden Lebens müsse im Rahmen des OEG über eine entsprechende Interpretation des Begriffs "eines anderen" im Sinne des § 823 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch verfassungskonform Rechnung getragen werden (Heinz, Vorsätzlicher Drogenkonsum während der Schwangerschaft, ASR 2017, S. 134-140), ist nicht zu folgen. Eine derart weitgehende Anwendung des OEG ist mit seiner ursprünglichen Zielsetzung, wie sie dem Gesetzgeber seinerzeit vorgeschwebt hat, nicht mehr vereinbar. Der Gesetzgeber hat sich vorgenommen: "Strafrechtsreform und moderne Kriminalpolitik haben zum Ziel, dem Verbrechen vorzubeugen, es zu bekämpfen und den Straftäter zu resozialisieren. Das Schicksal der Opfer von Straftaten darf dabei nicht vergessen werden. Im sozialen Rechtsstaat ist es Aufgabe der Gesellschaft, für eine soziale Sicherung derer zu sorgen, die durch Gewalttaten schwere Nachteile für Gesundheit und Erwerbsfähigkeit erleiden. Ebenso muß den Hinterbliebenen geholfen werden, wenn ihr Ernährer durch eine Gewalttat sein Leben verloren hat. Gesetzliche und private Versicherung decken nicht alle Fälle und nicht das volle Risiko. Der gesetzliche Schadensersatzanspruch gegen den Täter hilft dem Opfer nichts, wenn der Täter nicht gefunden wird oder mittellos ist. Der Gesetzentwurf will diese Lücken schließen. Die unschuldigen Opfer von Gewalttaten sollen gegen die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Straftat weitgehend sichergestellt werden."
Konkret hat er zur Begründung der Regelung des § 1 OEG ausgeführt: "Es kann nicht hingenommen werden, daß diejenigen Mitbürger, die unverschuldet durch ein Verbrechen arbeitsunfähig geworden sind, auf allgemeine Sozialhilfeleistungen verwiesen und dadurch in ihrer sozialen Stellung zurückgeworfen werden. Den Staat trifft eine besondere Verantwortung für Personen, die durch eine vorsätzliche Straftat geschädigt werden. Seine Aufgabe ist es, die Bürger namentlich vor Gewalttätern zu schützen. Kann er diese Pflicht nicht erfüllen, so muß er sich für die Entschädigung des Opfers verantwortlich fühlen. Zwar kann es nicht Aufgabe der Allgemeinheit sein, in diesen Fällen Schadensersatz einschließlich eines Schmerzensgeldes: im Sinne des Zivilrechts zu leisten, weil es hier im Gegensatz zur Amtshaftung an einem schuldhaften Verhalten mangelt. Auch eine zivilrechtliche Gefährdungshaftung der für die Verbrechensbekämpfung zuständigen Behörden läßt sich nicht begründen, da für Art und Ausmaß der Kriminalität besondere, zivilrechtlich nicht erfaßbare Entstehungsursachen und Gesetzmäßigkeiten Bedeutung haben. Die zu gewährenden Leistungen sollen nicht vollen Schadensersatz darstellen; sie müssen jedoch der sozialen Verantwortung der Allgemeinheit gerecht werden und über das Bedürftigkeitsprinzip im Sinne des BSHG hinausgehen."
Im Sinne dieser Ziele des Gesetzgebers bei der Schaffung des OEG ist von einer allgemeinen Schutzbedürftigkeit der Bürger auszugehen, die nicht unverschuldet Opfer von Gewalttaten werden sollen. Eine gesteigerte Schutzbedürftigkeit ist für Schwangere und ihre ungeborenen Kinder anzunehmen, sodass es zu rechtfertigen ist, dass der Staat, wenn er diese Schutzpflicht nicht erfüllen kann, entsprechende Entschädigungszahlungen oder sonstige soziale Leistungen zu erbringen hat. Es ist aber nicht zu rechtfertigen, eine Leistungspflicht des Staates und damit auch der Allgemeinheit in den Fällen zu begründen, in denen keine solche (gesteigerte) Schutzpflicht besteht. Staatliche Leistungspflichten und damit eine erweiterte Auslegung des OEG finden ihre Grenze dort, wo eigenverantwortliches Verhalten von Bürgern ungeachtet des Überschreitens sozialethischer oder moralischer Grenzen hingenommen werden muss. Derartige Überlegungen sind auch dem OEG nicht gänzlich fremd, wie sich aus § 2 Abs. 1 ergibt.
Abschließend ist festzustellen, dass nach einer Pressemitteilung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung vom 1. November 2016 (https://www.drogenbeauftragte.de/themen/suchtstoffe-und-abhaengigkeiten/alkohol/alkoholkonsum-in-der-schwangerschaft-und-fetales-alkoholsyndrom.html) jährlich etwa 10.000 Babys mit alkoholbedingten Schädigungen (sog. fetale Alkoholspektrum-Störungen [FASD]) auf die Welt kommen, von denen wahrscheinlich mehr als 2.000 Kinder das Vollbild des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS), einer schwerwiegenden geistigen und körperlichen Behinderung, aufweisen. Das FAS zählt zu den häufigsten bereits bei der Geburt vorliegenden Behinderungen in Deutschland, wobei diese Diagnose nach Ansicht der Drogenbeauftragten der Bundesregierung viel zu selten gestellt wird, da die professionellen Helfer im Gesundheitssystem Hemmungen hätten, einen diesbezüglichen Verdacht auszusprechen oder zu wenig über das Krankheitsbild informiert sind. Des Weiteren hat die Drogenbeauftragte der Bundesregierung auf die S 3 Leitlinie zur Diagnostik des FAS hingewiesen, wonach in Deutschland der Alkoholkonsum während der Schwangerschaft zwischen 14 und 30 Prozent beträgt. Da bereits geringe Mengen Alkohol das ungeborene Kind schädigen könnten, sei nach dieser Ansicht ein vollständiger Alkoholverzicht in der Schwangerschaft unabdingbar.
Da das ungeborene Leben nicht nur durch Alkohol, sondern auch andere Suchtstoffe wie Drogen, Medikamente, Nikotin u. a. geschädigt werden kann, wäre eine erweiterte analoge Anwendung des OEG auf derartige Sachverhalte nicht nur wegen der Vielzahl der betroffenen Fälle mit finanziell kaum überschau- und beherrschbaren Risiken verbunden, sondern wegen der zwangsläufig entstehenden Abgrenzungsprobleme kaum noch praktikabel. Im Hinblick darauf, dass in all diesen Fällen eigenverantwortliches Fehlverhalten der Mütter vorliegt, das der Staat von Rechts wegen nicht verhindern kann, ist ein sozialpolitisches Bedürfnis für eine derart weite Anwendung des OEG nicht zu erkennen und nicht zu rechtfertigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat keine Gründe gesehen, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG). In Anbetracht der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der dadurch geklärten Anwendung des § 1 OEG ist hier keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gegeben.
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