L 18 AS 933/17

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 136 AS 7242/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 933/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 14 AS 430/17 B
Datum
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. März 2017 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die minderjährige Klägerin begehrt die Erstattung von Beförderungsaufwendungen für den öffentlichen Nahverkehr von ihrem Wohnort zum Kindergarten für die Zeit ab ihrem sechsten Geburtstag bis zum Ende des Schuljahres 2015/2016.

Die 2010 geborene Klägerin stand mit ihrer sorgeberechtigten Mutter und ihrem im selben Haushalt lebenden, ebenfalls minderjährigen Bruder im laufenden Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialge-setzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – SGB II (Arbeitslosengeld II) des Beklagten. Unter derselben Wohnanschrift lebt der Vater und Prozessbevollmächtig-te der Klägerin, der weder der Bedarfsgemeinschafts- noch einer Haushaltsgemein-schaft der Klägerin angehöre und vom Beklagten auch nicht entsprechend berück-sichtigt wurde (Bescheid vom 26. Januar 2016 für den Bewilligungszeitraum Februar 2016 bis Januar 2017).

Die Klägerin besuchte im streitgegenständlichen Zeitraum vom 6. März bis 31. Au-gust 2016 den Kindergarten der J-Schule-B (Waldorfschule in W/), eine staatlich an-erkannte Ersatzschule in freier Trägerschaft. Sie beantragte beim Beklagten mit Schreiben vom 12. Februar 2016 die Übernahme der Beförderungskostenkosten in Höhe von Fahrscheinen für öffentliche Verkehrsmittel zum Erreichen des 12 km vom Wohnort entfernten Kindergartens entsprechend der gesetzlich geregelten Schüler-beförderung.

Mit Bescheid vom 12. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 2016 lehnte der Beklagte den Antrag ab mit der Begründung, in der gewähr-ten Regelleistung sei ein Anteil von ca. 6,3 % für den Bereich Verkehr enthalten. Die Mutter der Klägerin erhalte darüber hinaus einen pauschalen Mehrbedarf für Allein-erziehende, der u.a. einen höheren Aufwand für die Versorgung, Erziehung und Pflege des Kindes ausgleichen solle.

Die nachfolgend mit der Begründung erhobene Klage, die Mutter der Klägerin verfü-ge als Thailänderin nur über unzureichende Deutschkenntnisse, weshalb der Besuch des Kindergartens für sie erforderlich sei, seit ihrem sechsten Geburtstag sei die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs für sie kostenpflichtig, so dass für den Erwerb einer Schülermonatskarte vom Beklagten weitere 29,50 EUR monatlich (abzüglich eines Eigenanteils von 5 EUR) zu zahlen seien, hat das Sozialgericht Berlin (SG) mit Urteil vom 27. März 2017 abgewiesen. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Schülerbeförderung lägen nicht vor, da gegenständlich die Beförderung der Klägerin zum Kindergarten und nicht zur Schule sei. Eine planwidrige Regelungslücke liege nicht vor, so dass auch eine entspre-chende Anwendung der Regelung zur Schülerbeförderung nicht in Betracht komme.

Mit ihrer vom SG zugelassenen Berufung macht die Klägerin geltend, der Besuch des Kindergartens sei insbesondere für Kinder ausländischer Eltern zur Sprachförde-rung erwünscht. Da ihre Einschulung erst nach dem 6. Geburtstag erfolge, habe sie einen Anspruch auf die vorschulische Beförderung. Es sei von einer Gesetzeslücke auszugehen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. März 2017 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Februar 2016 in der Ge-stalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 2016 zu verurteilen, ihr für den Zeitraum vom 6. März bis 31. August 2016 die Kosten eines Schülerti-ckets zur Beförderung zum Kindergarten der Johannes-Schule-Berlin in Höhe von 29,50 EUR abzüglich eines Eigenanteils von 5 EUR monatlich zu erstatten.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbrin-gens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren in der Gerichtsakte enthaltenen, vor-bereitenden Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Leistungsakten des Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und, soweit erforderlich, Gegenstand der Beratung waren.

Entscheidungsgründe:

Der Senat hat gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die vom SG zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin durch Beschluss zurückweisen können, weil er dieses Rechtsmittel einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten hat. Die Beteiligten sind hierzu vorher gehört worden (vgl. § 153 Abs. 4 Satz 2 SGG); eine Zustimmung ist nicht erforderlich.

Die Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht und mit zutreffender Begründung abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erstattung ihrer Be-förderungskosten zum Kindergarten im Zeitraum 6. März bis 31. August 2016 in der geltend gemachten Höhe eines Schülertickets für den öffentlichen Berliner Nahver-kehr (29,50 EUR) abzüglich eines Eigenanteils von 5 EUR im Monat. Der angefochtene Be-scheid des Beklagten ist rechtmäßig und verletzt sie nicht in ihren Rechten. Zur Ver-meidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen (vgl. § 153 Abs. 2 SGG). Unter Bezugnahme auf die Berufungsbegründung der Klägerin ist ergänzend auf Folgendes hinzuweisen:

Zwar kann der geltend gemachte Anspruch isoliert und allein als Anspruch der min-derjährigen Klägerin gerichtlich durchgesetzt werden (vgl. zur Schülerbeförderung BSG, Urteil vom 17. März 2016 – B 4 AS 39/15 R – juris Rn. 13). Er wird von ihr zu-lässig mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (vgl. § 54 Abs. 1 und 4 SGG) verfolgt. Anders als die Klägerin jedoch geltend macht, folgt ein Anspruch auf Erstattung der Beförderungskosten zum Kindergarten im streitgegenständlichen Zeit-raum ab ihrem 6. Geburtstag (6. März 2016) bis zum Ende des Schuljahres 2015/2016 (31. August 2016) aber weder aus dem Wortlaut des § 28 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 4 Satz 1 SGB II noch ist ein solcher Anspruch aus einer entsprechenden Anwendung der Norm unter Berücksichtigung von Systematik, Sinn und Zweck sowie der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift herzuleiten; eine entsprechende Ausle-gung ist daher ausgeschlossen.

Zwar war die Klägerin im gegenständlichen Zeitraum leistungsberechtigt i.S.d. § 7 SGB II, insbesondere hilfebedürftig (vgl. § 9 SGB II). Sie gehörte auch altersmäßig zum anspruchsberechtigten Personenkreis der unter 25Jährigen für Bildungs- und Teilhabebedarfe (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB II), die unabhängig von der übrigen Bedarfsgemeinschaft zu berücksichtigen sind (vgl. BT-Drucks. 17/3404, S. 104). Der geltend gemachte Anspruch ergibt sich aber, wie die Klägerin selbst einräumt, nicht aus dem Wortlaut des § 28 Abs. 4 Satz 1 SGB II, wonach bei Schülerinnen und Schülern, die für den Besuch der nächstgelegenen Schule des gewählten Bildungs-gangs auf Schülerbeförderung angewiesen sind, die dafür erforderlichen tatsächli-chen Aufwendungen berücksichtigt werden, soweit sie nicht von Dritten übernommen werden und es der leistungsberechtigten Person nicht zugemutet werden kann, die Aufwendungen aus dem Regelbedarf zu bestreiten. Bei dem von der Klägerin be-suchten Kindergarten, die seinerzeit noch nicht eingeschult war, handelt es sich nicht um die "nächstgelegene Schule des gewählten Bildungsgangs", zu denen begrifflich Grund-, Haupt-, Realschulen, Gymnasien, Gesamtschulen und Gemeinschaftsschu-len (vgl. BT-Drucks. 17/4095, S. 30) bzw. die Primar- und die Sekundarstufen I und II (vgl. BT-Drucks. 17/4095, S. 21) gehören.

Auch die Gesetzessystematik des § 28 SGB II spricht gegen die von der Klägerin begehrte Auslegung, wonach einerseits zwischen Bildung und Teilhabe differenziert wird (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB II und § 28 Abs. 7 SGB II) und andererseits im Rahmen der jeweiligen Bildungs- und Teilhabeleistungen zwischen Bedarfen von Schülerinnen und Schülern, Kindern, die eine Tageseinrichtung besuchen und sol-chen, für die Kindertagespflege geleistet wird (vgl. § 28 Abs. 2 bis 6 SGB II). Bedarfe für Bildung werden überhaupt nur für unter 25jährige Schülerinnen und Schüler bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen gewährt (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB II), soweit keine abweichende Regelung besteht (vgl. § 28 Abs. 2 Satz 2 SGB II), zu de-nen, die Klägerin, wie ausgeführt nicht gehört. Die Anspruchsbegrenzung auf Schüle-rinnen und Schüler gilt zwar nicht für Teilhabeleistungen. Zu den in § 28 Abs. 7 SGB II aufgezählten Leistungen gehören Beförderungsaufwendungen zum Kindergarten jedoch nicht.

Gesetzeszweck für die Schaffung der Norm war es, der Aufforderung des Bundes-verfassungsgerichts (BVerfG) an den Gesetzgeber nachzukommen, hilfebedürftige Schülerinnen und Schüler mit den für den Schulbesuch notwendigen Mitteln auszu-statten (BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – juris Rn. 181), sofern die Länder dafür im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen keine gleichwertigen Leistungsansprüche geregelt hatten (vgl. BT-Drucks. 17/4095, S. 30). Anknüpfungspunkt des BVerfG insoweit ist die Gewährleistung des gleichberechtigten Zugangs zu Bildung im schulischen und außerschulischen Bereich für Kinder und Jugendliche aus besonders förderungsbedürftigen Haushalten (BT-Drucks. 17/12036, S. 1). Dieser ist als erforderlich befunden worden, um die materielle Basis für Chancengerechtigkeit herzustellen. Insbesondere in der Bildung hat der Gesetzgeber dabei eine Schlüsselfunktion zur nachhaltigen Überwindung von Hilfebedürftigkeit und zur Schaffung von zukünftigen Lebenschancen erkannt (BR-Drucks. 661/10, S. 168). Zugleich besteht allerdings ein Spannungsverhältnis zwischen dem die Menschenwürde achtenden Sozialstaat, der nachrangig Leistungen aus dem Fürsorgesystem erbringt, und der Notwendigkeit, insbesondere Schülerinnen und Schüler aus einkommensschwachen Haushalten in die Lage zu versetzen, ihren Lebensunterhalt später aus eigenen Kräften bestreiten zu können (BR-Drucks. 661/10, S. 168, unter Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 ua – a.a.O. Rn. 192). Allerdings hebt das BVerfG ausdrücklich auf die Schulpflichtigkeit ab und weist darauf hin, dass notwendige Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten zum existentiellen Bedarf von Kindern und Jugendlichen gehören. Denn ohne Deckung dieser Kosten droht hilfebedürftigen Kindern der Ausschluss von Lebenschancen, weil sie ohne den Erwerb der notwendigen Schulmaterialien, wie Schulbücher, Schulhefte oder Taschenrechner, die Schule nicht erfolgreich besuchen können. Bei schulpflichtigen Kindern, deren Eltern auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen sind, besteht die Gefahr, dass ohne hinreichende staatliche Leistungen ihre Möglichkeiten eingeschränkt werden, später ihren Lebensunterhalt aus eigenen Kräften bestreiten zu können. Dies ist mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG nicht vereinbar (BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 ua – a.a.O. Rn. 192). Hiernach ist die grundsätzliche Beschränkung des berücksichtigungsfähigen Bildungsbedarfs von Kindern und Jugendlichen auf Schülerinnen und Schüler (§ 28 Abs. 1 Satz 2 SGB II) nach dem Sinn und Zweck der Norm und ihrer Entstehungsgeschichte nicht zu beanstanden, so dass auch auf der Grundlage des verfassungsrechtlichen Anspruchs der Klägerin auf Deckung ihres menschenwürdigen Existenzminimums im Hinblick auf ihren Bildungsbedarf keine erweiternde Auslegung der Regelung von notwendigen Schülerbeförderungskosten in Betracht kommt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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