S 31 U 78/12

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
31
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 31 U 78/12
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Mitbetroffenheit beider Daumen schließt das Vorliegen einer Berufskrankheit nach der Ziffer 2104 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung nicht grundsätzlich aus.

Im Merkblatt zur BK 2104 ist festgehalten, dass in den meisten Fällen die Finger II bis V betroffen sind und nur ausnahmsweise Beschwerden im Daumen und in der Hohlhand auftreten.
Der Bescheid vom 01.06.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.04.2012 wird aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, bei dem Kläger eine Berufskrankheit nach der Ziffer 2104 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger 60% seiner notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt mit der Klage die Anerkennung des diagnostizierten Raynaud-Syndroms an beiden Händen als Berufskrankheit nach der Ziffer 2104 (Vibrationsbedingte Durchblutungsstörung an den Händen mit Unterlassungszwang - im Folgenden BK 2104) der Anl. 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) sowie Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung.

Der 1951 geborene Kläger ist gelernter Kfz-Mechaniker und arbeitete zuletzt 40 Stunden pro Woche in dem Bauunternehmen C. in A-Stadt im Zeitraum vom 18.7.1985 bis 1.2.2011. Seit dem 2.2.2011 ist er nicht mehr arbeitstätig und erhält eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Firma C. erstellte kleinere Wohngebäude und Nebengebäude im Rohbau, stellte Bauelemente aus Betonstein her, montierte diese auf Baustellen und führte Fliesenlegerarbeiten aus. Der Kläger war zu 90 % seiner Arbeitszeit in der Werkstatt tätig und fertigte dort Bauelemente aus Betonstein (z.B. Treppenstufen, Fensterbänke, Grabeinfassungen). Zu 10 % seiner Arbeitszeit führte der Kläger Montage- und Versetzarbeiten von Betonsteinelementen auf Baustellen aus. Schleifarbeiten wurden meist in Verbindung mit Wasser als Feuchtarbeit ausgeführt. Handschuhe wurden nur selten verwendet. Bei der Herstellung und der Montage von Bauelementen aus Betonstein war der Kläger zeitlich zusammenhängend, regelmäßig, täglich einer Schwingungsbelastung im Sinne der BK 2104 durch den Umgang mit elektrischen Handmaschinen ausgesetzt. Dies ergibt sich aus der Stellungnahme des Präventionsdienstes zur Arbeitsplatzexposition vom 19.4.2011 (Bl. 257-262 der Verwaltungsakte).

Bei dem Kläger traten erstmals Probleme an den Händen im Sinne von Farbveränderungen (rot, blau) im Jahr 2005 auf. Der Kläger wurde erstmalig am 20.9.2010 in der allgemeinen Ambulanz der Universitätsklinik Heidelberg vorstellig. Dort wurden zunächst eine Kontrolle des ANA-Titers und des Blutbildes und eine Überweisung an die Angiologie vorgenommen. Der Kläger wurde auch in der Hautklinik der Universitätsklinik Heidelberg behandelt. Mit Hautarztbericht vom 7.2.2011 wurde der Verdacht auf Raynaud-Syndrom induziert durch berufsbedingte Vibration diagnostiziert. Die Universitätsklinik teilte der Beklagten mit, dass Anhaltspunkte für eine beruflich verursachte Hauterkrankung aufgrund der Rüttler-Tätigkeiten, der Verschlechterung beim Arbeiten, der Besserung im Urlaub und am Wochenende sowie Arbeiten in kaltem Wasser und Rüttler bestehen. Der Kläger habe erstmals im Jahr 2004/2005 Farbveränderungen an den Händen bemerkt. Im Urlaub und an den Wochenenden sei eine Besserung immer eingetreten. Seit einem Jahr habe er weniger Gefühle in den Fingern, seit Februar 2010 habe er Schmerzen an den Fingern in beiden Händen. Er könne Werkzeuge nicht mehr richtig halten, da er kein Gefühl in den Fingern habe. Er sei seit 2 Jahren Nichtraucher, habe keine Lungenprobleme, keine Schluckbeschwerden keine kardiologischen Beschwerden. Der Kläger wurde von seinem Hausarzt vom 4.2.2011 bis Mitte März 2011 krankgeschrieben.

Der Kläger schrieb die Beklagte mit Schreiben vom 12.2.2011 an und bat um Zusendung eines Antragsformulars für die Anerkennung einer Berufskrankheit sowie einer Rente. Die Beklagte leitete daraufhin ein Verwaltungsverfahren ein und holte bei Dr. D. und Dr. E. einen Befundbericht ein. Darin teilten die Ärzte mit, der Kläger habe sich erstmals am 16.11.2010 wegen Gefühllosigkeit und Weißwerden der Finger bei Kälteexposition vorgestellt, man habe ein Raynaud-Syndrom diagnostiziert und weitere Schritte eingeleitet, unter anderem sei eine Vorstellung beim Rheumatologen geplant (Bl. 78-79 der Verwaltungsakte). Der Präventionsdienst der Beklagten ermittelte eine ausreichende Exposition im Sinne der BK 2104 im Zeitraum von 1985-2011 in Mitgliedsbetrieben der Beklagten (Bl. 257-262 der Verwaltungsakte).

Der Beratungsarzt der Beklagten, Herr F., empfahl in einer beratenden Stellungnahme vom 5.5.2011 die Ablehnung des Antrags auf Anerkennung einer Berufskrankheit. Zur Begründung führte er aus, es fände sich eine symmetrische Raynaud-Symptomatik, welche trotz Expositionsende im September 2010 eine chronisch progrediente Entwicklung zeigte und völlig atypisch auch die Daumen mit einschloss. Im Ergebnis stehe bereits der Verlauf einem vibrationsinduzierten, vasospastischen Syndrom entgegen, was durch die exorbitante Erhöhung des ANA-Ak auf 1:2560 (Norm bis 1: 80), welche eine floride Autoimmunerkrankung belege, mehr als nachhaltig unterstrichen werde. Die Symptomatik sei daher auf eine Autoimmunerkrankung zurückzuführen (Bl. 72 der Verwaltungsakte).

Die Beklagte erließ am 1.6.2011 den Bescheid über die Ablehnung einer Berufskrankheit und führte darin wörtlich aus: "Sehr geehrter Herr A., wir haben geprüft, ob Ihre Erkrankung eine Berufskrankheit ist. Unsere Ermittlungen haben ergeben: 1. Bei Ihnen besteht keine Berufskrankheit nach Nr. 2104 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV). 2. Ansprüche auf Leistungen bestehen nicht. Dies gilt auch für Leistungen oder Maßnahmen, die geeignet sind, dem Entstehen einer Berufskrankheit entgegenzuwirken". Zur Begründung führte die Beklagte aus, die Symptome bei vibrationsbedingten Durchblutungsstörungen an den Händen seien örtlich begrenzt, im Wesentlichen sei die Halte- und Bedienungshand betroffen. Bei dem Kläger finde sich jedoch eine symmetrische Raynaud-Symptomatik, welche trotz Expositionsende im September 2010 eine chronisch progrediente Entwicklung gezeigt und völlig atypisch auch die Daumen mit eingeschlossen habe. Der Erkrankungsverlauf sowie die durchgeführte Autoimmundiagnostik hätten gezeigt, dass die Symptomatik auf eine Autoimmunerkrankung zurückzuführen sei (Bl. 272-274 der Verwaltungsakte).

Dagegen legte der Kläger am 30.6.2011 Widerspruch ein. Zur Begründung wurden diverse Unterlagen betreffend ein Klageverfahren des Klägers gegen das Versorgungsamt Darmstadt wegen des Grades der Behinderung zur Verwaltungsakte gereicht. Darunter befand sich ein Arztbericht vom 22.3.2011 von Doktor G., Internist und Rheumatologe. Darin hielt Doktor G. folgende Diagnosen fest: Primäres kältesensibles Raynaudsyndrom ohne Hinweis für Vasculitis, Unterschenkelvarikosis, Rektusdiastase, keine entzündliche rheumatische Systemerkrankung (Bl. 328 der Verwaltungsakte).

Mit Widerspruchsbescheid vom 19.4.2012 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Begründung ist im Wesentlichen identisch mit der Begründung in dem Bescheid vom 1.6.2012.

Dagegen hat der Kläger am 3.5.2012 Klage vor dem hiesigen Gericht erhoben. Zur Begründung legte er ein ärztliches Attest der behandelnden Hausärztin Dr. H. vom 30.11.2012 vor. Darin schreibt Dr. H., der Kläger habe sich zuletzt am 22.11.2012 bei ihr vorgestellt. Seit Berufsaufgabe sei eine deutliche Besserung der Beschwerdesymptomatik und des klinischen Befundes bei vorliegendem Raynaudsyndrom festgestellt worden. Beigelegt war ein Laborauszug vom 16.5.2012, der ein ANA-Screening mit dem Ergebnis negativ beinhaltet (Bl. 37 f. der Gerichtsakte).

Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 01.06.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.04.2012 zu verurteilen, die bei dem Kläger bestehende Erkrankung als Berufskrankheit nach der Ziffer 2104 der Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen und dem Kläger eine Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 30 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Begründung wird auf die Ausführungen im Verwaltungsverfahren verwiesen.

Das Gericht hat nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Gutachten bei dem Sachverständigen Prof. Dr. G., Kardiologie und Angiologie im Universitätsklinikum Heidelberg, eingeholt. Der Sachverständige Prof. Dr. G. untersuchte den Kläger am 7.5.2013 und erstattete das Gutachten am 26.8.2013. Er hielt fest, bei dem Kläger bestehe das Bild eines typischen Raynaud-Syndroms, welches durch die berufliche Exposition deutlich verschlechtert wurde. Bei zunehmenden Schmerzen in beiden Händen habe dies im Verlauf zu einer Unfähigkeit geführt, den Beruf weiter auszuüben. Nach Vermeidung auslösender Situationen (Vibration, Kälte) habe sich die Beschwerdesymptomatik wie auch der objektivierbare Befund (Refluxrheographie) deutlich gebessert. Es bestünden folgende Vorerkrankungen: Rezidivierende Trombophlebitiden, Divertikulitis, Zustand nach Pneumonie links, Schmerzen im LWS/BWK-Bereich. Das Rauchen habe der Kläger 2009 aufgegeben. Spezifische Befunde einer entzündlichen rheumatischen Systemerkrankung (Kollagenose oder Vaskulitis) lägen nicht vor. Daher handele es sich bei den Beschwerden um eine Berufskrankheit. Seit März 2011 übe der Kläger seine Tätigkeit nicht mehr aus. Seit dem 4.1.2011 bestehe eine 20-40 %ige Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE).

Die Beklagte konnte sich dem Gutachten von Prof. Dr. G. nicht anschließen und legte zur Begründung eine Stellungnahme von Herr F. vom 9.10.2013 vor. Darin führte er aus, bei dem Kläger bestünde eine durchblutungsstörende Vorerkrankung im Sinne von Trombophlebitiden, was eine entzündliche Venenerkrankung darstelle, die somit die Wertigkeit des erhöhten ANA-Titers in einem anderen Licht erscheinen lasse, als dies im Gutachten von Prof. Dr. G. der Fall sei. Das Merkblatt zur BK 2104 führe aus: "Die Ausbreitung und Rückbildung dieser Missempfindungen erfolgt innerhalb von Minuten von den Fingerspitzen nach proximal. Komplikationen infolge trophischer Störungen treten bei vibrationsbedingten Durchblutungsstörungen praktisch niemals auf. Zwischen den nur anfallsweise auftretenden Durchblutungsstörungen sind die davon betroffenen Personen beschwerdefrei". Der VDK habe in seiner Klagebegründung vom 29.03.2011 (Anmerkung durch die Unterzeichnerin: betreffend das Klageverfahren wegen Anerkennung einer Schwerbehinderteneigenschaft unter dem Az. S 5 SB 585/10 vor dem SG Darmstadt) jedoch ausgeführt, die Symptomatik sei mittlerweile so weit fortgeschritten, dass ein Dauerzustand vorliege. Diese Angaben würden sich nicht mit dem Merkblatt zur BK 2104 decken, da dort ein völliger Rückgang nach Expositionsende bzw. eine Besserung aufgeführt sei. Zudem sei der Daumen typischerweise nach dem Merkblatt nicht mit betroffen.

Das Gericht hat daraufhin ein weiteres Gutachten nach § 106 SGG bei dem Sachverständigen Prof. Dr. D., Phlebologie, Kardiologie und Angiologie in B-Stadt, eingeholt. Der Sachverständige Prof. Dr. D. untersuchte den Kläger am 23.4.2014 und am 13.5.2014 und erstattete das Gutachten am 13.8.2014. Er hielt fest, es bestünden Krampfadern (Varikosis) an beiden Beinen, der ANA-Wert und der ANKA-Wert lägen im Normbereich, dies schließe eine Kollagenose oder Vaskulitis aus. Es hätten sich bei allen Untersuchungen keine Hinweise auf eine Kollagenose (Sklerodermie, Dermatomyositis) oder eine entzündliche Darmerkrankung gefunden. Es liege ein sekundäres Raynaud-Syndrom an beiden Händen vor, das durch die berufliche lang anhaltende tägliche Vibrationsbelastung mit gleichzeitiger Kälteexposition entstanden sei. Die Beschwerden seien nach der Berentung etwas zurückgegangen, jedoch liege ein chronisches vibrations- und kältebedingtes Raynaud-Syndrom mit Veränderungen an den Fingerarterien und Sensibilitätsstörungen an den Fingerkuppen weiter vor. Die Arbeit habe wegen unerträglicher Beschwerden im Jahr 2011 eingestellt werden müssen.

Es handele sich um ein irreversibles Raynaud-Phänomen mit sensorischen Defekten und Schmerzattacken bei Kälteexposition. Feinmechanische Arbeiten seien nicht mehr möglich, es bestünden chronische Schmerzen in den Fingern. Die Erkrankung erreiche nach der Stockholmer Workshop-Klassifikation sowohl bezüglich der vasospastischen Symptome als auch bei den sensorischen Symptomen das höchstmögliche Stadium an allen Fingern (Stadium III). Die MdE habe bis 2005 bei 20 %, bis 2011 bei 40 % und ab 2014 bei 30 % gelegen. Es habe niemals eine Autoimmunerkrankung bei dem Kläger vorgelegen, da sich bei dieser der ANA-Titer ohne Therapie nicht wieder normalisiere. Die von Herrn F. vorgenommene Deutung der abgelaufenen Trombophlebitiden als Hinweis auf eine Autoimmunerkrankung sei somit irrig. Eine rheumatische Erkrankung sei durch nichts belegt. Es stimme, dass der Daumenbefall untypisch sei. Das Merkblatt sehe jedoch vor, dass in den meisten Fällen nur die Finger II-V betroffen seien, nur ausnahmsweise träten Beschwerden im Daumen oder der Hohlhand auf. Somit könne aus dem Befall des Daumens nicht auf ein nicht berufsbedingtes Raynaud-Syndrom geschlossen werden.

Die Beklagte konnte sich dem Gutachten von Prof. Dr. D. nicht anschließen und legte hierzu eine Stellungnahme von Herrn F. vom 15.12.2014 vor. Im weiteren Verlauf legte sie weitere Stellungnahmen von Herrn F. vom 22.7.2015 und 16.2.2016 vor. Er blieb im Ergebnis bei seiner Einschätzung.

Von Prof. Dr. D. wurden ergänzende Stellungnahmen vom 6.5.2015 und 12.1.2016 eingeholt. Insbesondere wies er auf die Seiten 1247-1248 in Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage hin, wonach im Stadium III insbesondere häufige Anfälle und andauerndes Taubheitsgefühl vorliegen und es sich um irreversible Schäden handelt. Er blieb im Ergebnis bei seiner Einschätzung. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 110 ff. und 130 ff. der Gerichtsakte Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vortrags der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die jeweils Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Im Hinblick auf das Begehren des Klägers, ihm eine Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 30 v.H. zu gewähren, ist die Anfechtungsklage bereits unzulässig, da es diesbezüglichen am erforderlichen Vorverfahren mangelt.

Nach § 78 SGG ist vor Erhebung der Anfechtungsklage ein Vorverfahren durchzuführen. Im Hinblick auf die Frage, ob eine MdE aufgrund der Folgen der Berufskrankheit vorliegt und dem Kläger damit ggfs. eine Verletztenrente aus §§ 56 ff. SGB VII zusteht, wurde seitens der Beklagten zur Überzeugung der Kammer jedoch keine Regelung in dem angefochtenen Bescheid vom 1.6.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.4.2012 getroffen. Die Beklagte hat vielmehr lediglich das Vorliegen einer BK 2104 abgelehnt. Der üblicherweise in solchen Ablehnungsbescheiden stets enthaltene Satz "Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung stehen Ihnen nicht zu / Ansprüche auf Leistungen bestehen nicht" beinhaltet keine konkrete Ablehnung einer bestimmten Leistung und wird von der Kammer daher als inhaltsleere "Floskel" angesehen. Die Beklagte hat vielmehr im Nachgang dieses Klageverfahrens - unter dem Vorbehalt der Rechtskraft - eigene medizinische Ermittlungen einzuleiten, um alle in Betracht kommenden Ansprüche des Klägers nach dem SGB VII zu prüfen.

Im Hinblick auf das Begehren des Klägers, das Vorliegen der BK 2104 anzuerkennen, ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage zulässig und begründet. Der Bescheid vom 1.6.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.4.2012 ist diesbezüglich rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf Anerkennung der Berufskrankheit nach der Ziffer 2104 der Anl. 1 zur BKV.

Berufskrankheiten sind gemäß § 9 Abs. 1 SGB VII Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die der Versicherte infolge einer versicherten Tätigkeit erleidet. Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht werden, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übliche Bevölkerung ausgesetzt sind. Aufgrund dieser Ermächtigung hat die Bundesregierung die Berufskrankheitenverordnung (BKV) vom 31. Oktober 1997 erlassen, in welcher die derzeit als Berufskrankheiten anerkannten Krankheiten aufgelistet sind.

Nach der Ziffer 2104 der Anl. 1 zur BKV gehören zu den Berufskrankheiten auch "Vibrationsbedingte Durchblutungsstörung an den Händen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können".

Die Verrichtung einer versicherten Tätigkeit muss zu gewissen Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt haben und diese Einwirkungen wiederum müssen eine Krankheit bei der versicherten Person verursacht haben (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.11.2012, Az. L 6 U 1626/12, Rn. 34 - juris). Voraussetzung für die Feststellung einer Erkrankung als Berufskrankheit ist, dass sowohl die versicherte Tätigkeit als auch die schädigende Einwirkung und die Erkrankung im Sinne des Vollbeweises nachgewiesen sind (Franke/Molkentin, SGB VII, Lehr- und Praxiskommentar, 4. Auflage, § 9, Rn. 13). Eine Tatsache ist danach bewiesen, wenn sie in so hohem Maße wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (BSGE 45, 1, 9 sowie BSGE 19, 52, 53 und BSGE 7, 103, 106).

Die Kammer ist davon überzeugt, dass der Kläger während seiner Beschäftigung bei dem Bauunternehmen C. regelmäßig Vibrationen ausgesetzt war. Der Präventionsdienst hat eine ausreichende Exposition im Sinne der BK 2104 im Zeitraum von 1985-2011 in den Mitgliedsbetrieben der Beklagten festgestellt. Damit liegen die sogenannten arbeitstechnischen Voraussetzungen vor.

Um eine Gesundheitsstörung als Berufskrankheit qualifizieren zu können, muss darüber hinaus ein Zusammenhang zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung bestehen. Es muss danach ein dieser Berufskrankheit entsprechendes Krankheitsbild vorliegen und dieses muss im Sinne der unfallrechtlichen Kausalitätslehre wesentlich ursächlich oder mitursächlich auf die belastende berufliche Tätigkeit zurückgeführt werden können. Hinsichtlich des Kausalzusammenhangs ist eine hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreichend.

Es ist zur Überzeugung der Kammer im Vollbeweis erwiesen, dass bei dem Kläger Durchblutungsstörungen an beiden Händen vorliegen. Diese Gesundheitsstörung wurde zur Überzeugung der Kammer durch die langjährige Exposition gegenüber Vibrationen und Kälte ausgelöst. Die Kammer ist zudem auch von einem ursächlichen Zusammenhang im Sinne der unfallrechtlichen Kausalitätslehre überzeugt. Die Kammer schließt sich vollumfänglich den beiden im Klageverfahren eingeholten Sachverständigengutachten an. Sowohl Prof. Dr. G. als auch Prof. Dr. D. haben das Vorliegen einer BK 2104 zweifelsfrei festgestellt. Konkurrenzursachen wurden insbesondere durch die intensiven Laboruntersuchungen und Auswertungen in dem Gutachten von Prof. Dr. D. vollständig ausgeschlossen. Zudem hat Prof. Dr. D. ausgeführt, dass ein erhöhter ANA- oder ANKA-Titer nicht ausschließlich bei Autoimmunerkrankungen vorliegt, sondern auch andere Erkrankungen, wie etwa Borreliose, diese Titer in der akuten Phase erhöhen. Das bei dem Kläger vorliegende Vasospastische Syndrom (VVS) in Form des Raynaud-Phänomens hat aufgrund der langjährigen Kälte- und Vibrationsexposition einen chronischen Verlauf genommen. Einem chronischen Zustand ist immanent, dass die Symptome auch nach Berentung nicht vergehen. Nach Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, Seite 1250, ist das Stadium 3 im Hinblick auf die vasospastischen Symptome von häufigen Anfällen (Weißwerden der Finger mit Kältegefühl) an allen Gliedern der meisten Finger geprägt. Im Hinblick auf die sensorischen Symptome ist das Stadium 3 von gelegentlichem oder andauerndem Taubheitsgefühl, reduzierte taktile Diskrimination und feinmotorischer Geschicklichkeit geprägt. Durch die umfangreichen persönlichen Untersuchungen und Testungen konnten die Sachverständigen nachweisen, dass bei dem Kläger das Stadium 3 erreicht ist.

Der Kläger hat die gefährdende berufliche Tätigkeit auch seit dem 2.2.2011 unterlassen.

Die Kammer hält es für äußerst bedauerlich, dass im gesamten Verwaltungsverfahren seitens der Beklagten weder ein fachärztliches Gutachten erstellt, noch im Klageverfahren eine ärztliche Zweitmeinung auf beratungsärztlicher Seite eingeholt wurde. Die bloße Begutachtung nach Aktenlage unter pauschaler Verweisung auf das Merkblatt ist weder professionell, noch für eine Ermittlung von Amts wegen ausreichend. Die Kammer sieht aus Kulanzgründen jedoch davon ab, der Beklagten die Kosten für die nachgeholten Ermittlungen nach § 192 Abs. 4 SGG aufzuerlegen. Der Beklagten dürfte zudem bekannt sein, dass die Beweislast (Vollbeweis) im Hinblick auf die innere Ursache auf der Seite der Beklagten liegt. Es sei der Vollständigkeit halber daher noch auf die Vorschrift in § 9 Abs. 3 SGB VII (Kausalitätsvermutung) hingewiesen: Erkranken Versicherte, die infolge der besonderen Bedingungen ihrer versicherten Tätigkeit in erhöhtem Maße der Gefahr der Erkrankung an einer in der Rechtsverordnung nach Absatz 1 genannten Berufskrankheit ausgesetzt waren, an einer solchen Krankheit und können Anhaltspunkte für eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit nicht festgestellt werden, wird vermutet, dass diese infolge der versicherten Tätigkeit verursacht worden ist.

Für die außerhalb des vorliegenden Klageverfahrens vorzunehmenden Ermittlungen im Hinblick auf die Ausmaße der Beschwerden (insbesondere die MdE) ist der Beklagten anzuraten, die erforderlichen Testungen durch einen oder mehrere Fachärzte vornehmen zu lassen (vgl. zu den erforderlichen Testungen/Laboruntersuchungen etc. die Ausführungen in Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., auf Seite 1251 und 1252).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.
Rechtskraft
Aus
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