Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 VG 5/10
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 VG 16/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. § 60 Abs. 1 BVG regelt den Beginn der Leistungen der Beschädigtenversorgung nur beim Erstantrag.
2. Bei Erlass eines Zugunstenbescheides wird § 44 Abs. 4 SGB X nicht durch § 60 Abs. 1 BVG verdrängt, sondern findet daneben voll Anwendung.
3. Über die in § 60 Abs. 1 S. 3 BVG praktisch enthaltene Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Eintritt der Schädigung erfasst der sozialrechtliche Herstellungsanspruch zusätzlich auch Fristversäumnisse, die auf Behördenfehlern beruhen.
2. Bei Erlass eines Zugunstenbescheides wird § 44 Abs. 4 SGB X nicht durch § 60 Abs. 1 BVG verdrängt, sondern findet daneben voll Anwendung.
3. Über die in § 60 Abs. 1 S. 3 BVG praktisch enthaltene Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Eintritt der Schädigung erfasst der sozialrechtliche Herstellungsanspruch zusätzlich auch Fristversäumnisse, die auf Behördenfehlern beruhen.
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 7. Juli 2011 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die 1964 geborene Klägerin begehrt mit vorliegender Klage Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) in Verbindung mit dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG) für den Zeitraum Oktober 1990 bis Oktober 1996.
Beim Versorgungsamt A-Stadt stellte die Klägerin am 29.10.1996 erstmals Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Sie wurde in der Zeit zwischen 1968 und 1978 in einem Dorf in der DDR durch mehrere Täter sexuell missbraucht. 1989 flüchtete die Klägerin über Ungarn in die Bundesrepublik. Am 29.05.1995 begann sie eine Psychotherapie bei Dr. S ... Wie die Klägerin durchgehend angibt, seien die ersten Erinnerungen an den sexuellen Missbrauch 1996 im Rahmen dieser Psychotherapie geweckt worden. Sie macht im Verfahren geltend, zuvor auf Grund einer Amnesie o.ä. nicht gewusst zu haben, worauf ihre psychischen Beschwerden zurückzuführen seien.
Mit Bescheid vom 30.05.2002 lehnte das mittlerweile zuständige Amt für Familie und Soziales Chemnitz den Antrag der Klägerin ab, da die Voraussetzungen nach § 10a Abs. 1 Nr. 1 OEG (Schwerbeschädigteneigenschaft) nicht gegeben seien. Der Widerspruch hiergegen blieb ohne Erfolg. Im Widerspruchsbescheid vom 26.05.2004 ging das Amt zwar davon aus, dass die Schwerbeschädigteneigenschaft vorliege; es sei jedoch der Nachweis einer schädigenden Handlung nicht gegeben.
Hieran schloss sich das Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Würzburg - S 1 VG 2/04 - an. Im Rahmen dieses Verfahrens wurde im Dezember 2005 ein Traumagutachten der Fa. T. angefertigt. Daraufhin gab der Beklagte im SG-Verfahren folgendes Vergleichsangebot ab: * Aufhebung des Bescheids vom 30.05.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.05.2004 * Anerkennung einer schizotypen Störung mit Borderlinestrukturen als Folge einer Schädigung nach dem OEG ab 01.12.2001 mit einer MdE von 50 * Prüfung, ob Versorgung nach dem OEG im Rahmen des Härteausgleichs nach § 10a OEG zusteht.
In der mündlichen Verhandlung des SG vom 19.01.2007 nahm die Klägerin das Vergleichsangebot als Teilvergleich an. Zu einer Beendigung des Rechtsstreits durch den Vergleich kam es nicht, da die Klägerseite den Beginn der Versorgung bereits ab 29.10.1996 begehrte, der Beklagte jedoch von einer Rücknahme des damaligen Antrags im Rahmen eines Telefongesprächs ausging. Mit Urteil des SG vom 19.01.2007 wurde der Beklagte über den Teilvergleich hinaus verurteilt, der Klägerin bereits ab Oktober 1996 Versorgung im Rahmen des Härteausgleichs nach § 10a OEG zu gewähren. Entgegen der Auffassung des Beklagten habe die Klägerin den Antrag vom 29.10.1996 nicht zurückgenommen. Dieses Urteil ist in Rechtskraft erwachsen.
Im Folgenden führte der Beklagte ein Feststellungsverfahren zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Klägerin durch. Mit Ausführungsbescheid vom 21.01.2008 erkannte er die MdE von 50 als Folge einer Schädigung nach dem OEG für die Schädigungsfolge schizotype Störung mit Borderlinestrukturen bereits ab dem 01.10.1996 an. Die Höhe der Beschädigtenversorgung sei im Rahmen des Härteausgleichs nach § 10a OEG festzustellen. Ob Leistungen zur Erhöhung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit, Ausgleichsrente oder Ehegattenzuschlag zustünden, werde, so der Beklagte im Bescheid, gesondert geprüft.
Am 30.01.2008 beantragte die Klägerin eine Erhöhung der MdE. Am 20.03.2008 erhob sie Widerspruch gegen den Ausführungsbescheid vom 21.01.2008. Diesen (verfristeten) Widerspruch wertete der Beklagte als Antrag nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Am 23.07.2008 beantragte die Bevollmächtigte, den Ausführungsbescheid vom 21.01.2008 gemäß § 44 SGB X dahingehend zu überprüfen, ob die MdE von 50 gerecht- fertigt sei; des Weiteren wurde beantragt, Beschädigtenversorgung bereits vor der Antragstellung zu erbringen, da die Klägerin ohne ihr Verschulden an einer früheren Antragstellung verhindert gewesen sei. Zur Begründung verwies sie darauf, dass erst durch die psychotherapeutische Behandlung im Jahr 1996 bei Frau Dr. S. das anerkannte Schadensereignis an die Oberfläche des Bewusstseins der Klägerin hervorgetreten sei. Bis dahin sei das Geschehen verdrängt und für die Klägerin nicht erkennbar gewesen, habe aber dennoch seit der Kindheit bereits mannigfache körperliche und psychische Beschwerden hervorgerufen, deren Ursache die Klägerin bis dato lediglich nicht habe deuten können.
Mit Bescheid vom 09.03.2010 lehnte es der Beklagte auf den "Antrag vom 23.07.2008" ab, Beschädigtenversorgung vor Antragstellung zu gewähren. Mit Bescheid vom 21.01.2008 sei ein Versorgungsanspruch nach dem OEG ab dem Antragsmonat, d.h. ab dem 01.10.2006 anerkannt worden. § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG sei vorliegend nicht anwendbar. Der Ausnahmecharakter der darin enthaltenen erweiterten Rückwirkung des Antrags gebiete eine enge Handhabung, so der Beklagte. Eine Erweiterung auf Fälle, in denen der Betroffene um die Möglichkeit einer Leistungsgewährung bzw. eines Schädigungstatbestands vor Antragstellung überhaupt nicht gewusst habe, sei mit dem Antragsprinzip nicht vereinbar und würde die Möglichkeit der Gewährung von Versorgungsleistungen in einem rückwirkenden Ausmaß erweitern, wie es vom Gesetzgeber nicht vorgesehen sei. Eine Antragstellung wäre vorliegend ohnehin erst ab Übersiedlung in die Bundesrepublik möglich gewesen. Zu diesem Zeitpunkt habe die Klägerin jedoch noch keine Missbrauchserinnerungen gehabt, so dass eine Verhinderung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG nicht zu begründen sei.
Mit Schreiben vom 14.04.2010 erhob die Klägerin hiergegen Widerspruch. Der Begriff des Verhindertseins im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG sei, so die Begründung, nicht ausschließlich auf Personen bezogen, die im Koma liegen würden. Zu dem Zeitpunkt, als die Taten mit dem 14. Lebensjahr der Klägerin geendet hätten, habe diese noch bei ihren Eltern (also u.a. beim Haupttäter) gelebt. Auf Grund des damit einhergehenden Interessenskonflikts habe sich die Klägerin ein Verschulden ihres gesetzlichen Vertreters nicht zurechnen lassen müssen. Die Schädigungsfolgen seien auch schon für Zeiträume vor 1990 ärztlich dokumentiert. Die fehlende Dokumentation einer seelischen Erkrankung bis zu diesem Jahr lasse auch nicht den Rückschluss zu, es hätten keine seelischen Erkrankungen vorgelegen. Die Verdrängungs- und Dissoziationsmechanismen seien gerade Ausprägung einer seelischen Erkrankung.
Mit Widerspruchsbescheid vom 15.06.2010 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Gründe für das Verhindertsein im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG seien nicht gegeben. Zum Zeitpunkt der möglichen Antragstellung 1989 sei die Klägerin bereits 25 Jahre alt gewesen; ihr Vater sei bereits 1986 verstorben. Zudem verwies der Beklagte auch auf das Urteil des SG vom 19.01.2007 (s.o.), nach dem der Antrag auf Opferentschädigung am 29.10.1996 rechtswirksam gestellt worden sei.
Hiergegen hat die Klägerin am 15.07.2010 Klage zum SG erhoben. Zur Begründung hat sie über ihre Bevollmächtigte ausgeführt, dass sie objektiv und unverschuldet im Sinne der genannten Vorschrift daran gehindert gewesen sei, früher einen entsprechenden Antrag zu stellen. Eine Vergleichbarkeit mit einem Koma-Patienten sei daher durchaus gegeben. Verhindert in diesem Sinne sei danach auch, wer vom Standpunkt eines objektiven Betrachters aus gesehen aus subjektiv in seiner Person liegenden Gründen für den Verhinderungszeitraum unverschuldet nicht in der Lage gewesen sei, OEG-Leistungen rechtzeitig, d.h. unverzüglich nach Schädigungseintritt, zu beantragen. Die Behauptung des Beklagten im Widerspruchsbescheid, der Klägerin sei das Verschulden ihrer sorgeberechtigten Eltern zuzurechnen, da die vom BSG entwickelten Ausnahmen nicht vorlägen, sei eine reine Schutzbehauptung. Im Übrigen sei die unverschuldete Verhinderung an einer rechtzeitigen Antragstellung nicht Gegenstand des SG-Verfahrens gewesen.
Der Beklagte hat im Verfahren darauf hingewiesen, dass bei der Klägerin latente psychische Probleme erstmals 1990 aufgetreten seien; 1995 seien neue psychische Probleme im zeitlichen Zusammenhang mit der Trennung und Scheidung vom Ehemann aufgetreten und hätten zur Aufnahme einer Psychotherapie geführt. Der Wiedererinnerungsprozess habe erst 1996 begonnen, so dass bis dahin keine Gesundheitsstörungen wegen sexuellen Missbrauchs feststellbar seien.
Mit Beschluss vom 08.10.2010 hat das SG den Antrag auf Gewährung von PKH mangels Erfolgsaussichten in der Sache abgelehnt. Hiergegen hat die Klägerin Beschwerde zum Bayerischen Landessozialgericht (Bayer. LSG) erhoben. Mit Beschluss vom 04.05.2011 hat der Senat die Beschwerde zurückgewiesen (L 15 VG 19/10 B PKH). Die Erfolgsaussicht der Klägerin sei nur eine entfernte; zu dieser Erkenntnis bedürfe es keiner rechtlich schwierigen Erwägungen. Entsprechend der zutreffenden Entscheidung des SG komme es vorliegend auf die Handhabung von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG gar nicht an. Denn in der Tat fehle es an einer hinreichenden Erfolgsaussicht schon deshalb, weil § 44 Abs. 4 SGB X mögliche Versorgungsansprüche materiell-rechtlich beseitige. Mit dem Bescheid vom 21.01.2008 habe der Beklagte auch entschieden, was "gänzlich außer Zweifel" stehe, dass vor Oktober 1996 gerade keine Versorgungsansprüche bestünden.
Nach Einverständniserklärung der Beteiligten hat das SG den Rechtsstreit am 07.07.2011 durch Gerichtsbescheid entschieden. Die Klageabweisung hat es wie folgt begründet: Entgegen der Auffassung des Beklagten seien die Voraussetzungen des Verlängerungstatbestands des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG bis zum 14.02.1979 gegeben gewesen. Für eine weitere Verlängerung der Jahresfrist auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Schädigung zurück oder eine erstmals nachgewiesene Symptomatik auf psychiatrischem Fachgebiet fehle es an einer Verhinderung ohne Verschulden im Sinne dieser Vorschrift. Das SG vertrete die Auffassung, dass sich eine Verlängerung der Überlegungsfrist auf Verletzungsfolgen beziehe, welche zum Beispiel zeitweise die Vornahme von Überlegungen bezüglich der Geltendmachung eines Versorgungsanspruchs verhindern würden, nicht aber bei der Unkenntnis der die Leistung begründenden Tatsachen und dass eine Erweiterung auf die Fälle, in denen der Betroffene - wenn auch aus gesundheitlichen Gründen - schon um die Möglichkeit eines Schädigungstatbestands vor der Antragstellung überhaupt nicht gewusst habe, mit dem Antragsprinzip nicht vereinbar sei. Dies würde die Möglichkeit der Gewährung von Versorgungsleistungen in einem Ausmaß erweitern, wie vom Gesetzgeber nicht vorgesehen. Der Beklagte habe im vorliegenden Fall zu Recht und wie beantragt den verfristeten Widerspruch vom 19.03.2008 als Antrag nach § 44 SGB X gewertet. Damit sei § 44 Abs. 4 SGB X zu beachten, der nicht durch § 60 Abs. 1 BVG verdrängt werde. Weiter hat das SG auf die Rechtskraft des SG-Urteils vom 09.01.2007 abgestellt (§ 141 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Im Übrigen sei der Antrag gemäß § 44 SGB X bezüglich der Höhe der Versorgungsleistungen nicht Gegenstand des Verfahrens gewesen.
Am 16.08.2011 hat die Klägerin hiergegen Berufung zum Bayer. LSG erhoben, die sie ausführlich begründet hat. Bei der Klägerin liege eine chronifizierte posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) vor, welche auch zu dissoziativer Amnesie geführt habe. Die Klägerin sei zudem auch bereits nach Erreichen ihrer sozialrechtlichen Handlungsfähigkeit im Hinblick auf die Überlegung, dass Opfer emotional häufig nicht in der Lage seien, ihre Ansprüche wegen solcher Taten selbst zu verfolgen, daran gehindert gewesen, Beschädigtenrente innerhalb eines Jahres nach Schädigungseintritt zu beantragen. Weiter hat die Bevollmächtigte die Auffassung vertreten, dass ein Antrag nach § 44 SGB X nicht gestellt worden sei. Abgesehen davon habe der Beklagte den Antrag vom 23.07.2008 auch nicht als Antrag gemäß § 44 SGB X aufgefasst. Vielmehr sei ein Antrag gemäß § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG gestellt worden, "welcher als Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bzw. allenfalls als Antrag auf Neufeststellung für Zeiten vor Oktober 1996 zu werten ist." Der Ausführungsbescheid vom 21.01.2008 sei auf Grund eines Antrags vom Oktober 1996 gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG ergangen. Hierüber sei im Urteil vom 19.01.2007 entschieden worden. Die Frage, ob ein Fall des § 60 Abs. 1 Satz 2 oder Satz 3 BVG vorliege, sei weder gerichtlicherseits noch vom Beklagten aufgeworfen worden. Dies stelle einen vollkommen anderen Sachverhalt dar, nämlich das Verhindertsein an der Antragstellung vor 1996. Zudem ist die Ansicht vertreten worden, dass § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X Anwendung finde. Im Übrigen werde § 44 Abs. 4 SGB X durch § 60 BVG verdrängt. § 44 Abs. 4 SGB X beinhalte keinen allgemeinen Rechtsgedanken. Ein Verschulden im Sinne von § 60 BVG, das hier nicht vorliege, sei unerheblich. Weiter ist die Auffassung geäußert worden, dass ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch gegeben sei, da der Beklagte keine Hinweise auf Angaben etc. für die Zeit vor der Antragstellung gegeben habe. Schließlich sei wegen langer Verfahrensdauer und einen Verstoßes gegen Treu und Glauben sowie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz festzustellen, dass die "Verjährungsregelung des § 44 Abs. 4 SGB X" keine Anwendung finde. Im Schriftsatz vom 27.09.2011 hat der Beklagte die Ansicht hervorgehoben, dass ein früherer Leistungsbeginn nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs begründet werden könne. Es erschließe sich nicht, auf welcher Grundlage die Bevollmächtigte einen solchen Anspruch ableite. Erst durch die Antragstellung im Oktober 1996 sei das eventuelle Vorliegen eines OEG-Tatbestands bekannt geworden. Die Fristversäumnis beruhe hier nicht auf einem Behördenfehler.
Am 03.02.2015 hat ein Erörterungstermin des Senats stattgefunden. In dem Termin hat die Bevollmächtigte u.a. auf § 78b Strafgesetzbuch und auf den Aspekt der Einheitlichkeit der Rechtsordnung verwiesen, der einer Berufung auf Verjährung entgegenstehe, ferner auf geänderte Verjährungsvorschriften im Zivilrecht.
In einer Stellungnahme vom 26.03.2015 hat der Beklagte darauf hingewiesen, dass der Klägerin eine Antragstellung nach dem OEG erstmals 1989 möglich gewesen sei. Dies habe sie aber offensichtlich aus Unkenntnis nicht getan; die Antragstellung sei erst auf Anraten des Weißen Rings erfolgt. Die geltend gemachten gesundheitlichen Gründe, nämlich die dissoziative Amnesie, seien hier nicht erkennbar, es gebe insoweit keine Befunde. Eine schwere Erkrankung im Zeitraum vor Oktober 1996, die eine Antragstellung verhindert hätte, könne aus den Unterlagen ebenfalls nicht entnommen werden und sei auch nicht wahrscheinlich zu machen. Der Ausreiseantrag sowie die Flucht über Ungarn seien eine enorme psychische Belastung und wären mit einem so schweren Trauma, das die Geschäftsfähigkeit einschränke, nicht möglich gewesen. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten im Beruf habe die Klägerin 1992 bis 1996 als Bauzeichnerin gearbeitet, die letzten zwei Jahre sogar mit eigenem Büro als Selbständige. Auch das lasse doch an einer schweren Erkrankung ab 1990 zweifeln, so der Beklagte, abgesehen davon, dass hierfür eben auch keine Befunde vorliegen würden. Erst das Traumagutachten habe eine schizotype Störung mit Borderlinestrukturen und eine MdE von 50, bezogen auf einen Zeitraum ab 2002, festgestellt.
Mit Schriftsatz vom 30.05.2015 hat die Klägerseite darauf hingewiesen, dass entgegen der Beklagtenauffassung Zeiten vor dem 01.10.1996 nicht Gegenstand des Klageverfahrens vor dem SG gewesen seien. Der Beklagte habe behauptet, die Klägerin habe offensichtlich aus Unkenntnis nach der Übersiedlung keinen OEG-Antrag gestellt. Offengelassen werde allerdings, worauf sich diese Unkenntnis bezogen habe. Wer unter schädigungsfolgenbedingter Amnesie Unkenntnis über das schädigende Ereignis selbst habe, könne sich auch keine Gedanken darüber machen, ob gegebenenfalls Versorgungsansprüche geltend zu machen seien. Schließlich ist auf einen Bescheid des Beklagten vom 25.01.2011 verwiesen worden (Erstattung der Kosten für zahnärztliche Behandlung), in dem festgehalten worden sei, dass die Klägerin durch Umstände, die außerhalb ihres Willens gelegen hätten, an der Anmeldung der Kosten vor Beginn der Behandlung gehindert gewesen sei. Die Klägerin habe, so der Bescheid, erst durch die psychotherapeutische Behandlung ab 1996 Kenntnis über die Ursache ihrer Beschwerden erlangt. Maßgeblich sei das Wirksamwerden des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik.
Im folgenden Verlauf des Verfahrens ist das Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. A. vom 12.10.2015 für ein weiteres Klageverfahren vor dem SG Würzburg (S 10 VG 5/14) vorgelegt worden. Der Beklagte hat am 18.02.2016 darauf hingewiesen, dass sich aus dem Gutachten keine Hinweise für die behauptete Amnesie der Klägerin für die Zeit vor 1996 ergeben würden. Unabhängig hiervon belege der Befundbericht von Dr. U. vom 30.10.1990, dass im Oktober 1990 allenfalls eine leichte psychische Beeinträchtigung vorgelegen habe, die keinesfalls einen GdS von 50 erreicht habe. In der zu Grunde liegenden versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 16.02.2016 von Dipl.-Med. S. ist betont worden, dass es als ausreichend sicher gelten könne, dass beeinträchtigende Erinnerungen an sexuelle Übergriffe im Kindesalter erst 1996 in das Bewusstsein der Klägerin gerückt seien. Insoweit sei eine sichere Beurteilung, ob die Klägerin wegen absoluter Amnesie den sexuellen Missbrauch betreffend objektiv daran gehindert gewesen sei, bereits vor 1996 einen OEG-Antrag zu stellen, schwer möglich. Nach einer ergänzenden Stellungnahme von Dr. A. in dem o.g. sozialgerichtlichen Verfahren vom 22.02.2016 hat sich der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie des Beklagten Dr. S. am 19.04.2016 geäußert. Die bei der Klägerin bestehende Störung sei mit Wahnvorstellungen, Wahnideen und Wahrnehmungsstörungen nahezu klassisch. Eine PTBS sei weder anamnestisch aus dem Gutachten zu entnehmen noch sei diese Diagnose befundmäßig gesichert. Bis 1996 bestehe allenfalls ein GdS von 20. Eine höhere Ausprägung könne zuvor nicht begründet werden.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 07.07.2011 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 09.03.2010 in Gestalt des Widerspruchbescheids vom 15.06.2010 zu verurteilen, den Bescheid vom 21.01.2008 aufzuheben und der Klägerin Versorgungsrente wegen einer schizotypen Störung mit Borderlinestrukturen nach einem GdS von 50 bereits ab dem 03.10.1990 zu gewähren, hilfsweise zum Beweis der Tatsache, dass bei der Klägerin im Zeitraum von Oktober 1990 bis Oktober 1996 eine Schwerbehinderung mit einem GdS von 50 vorlag, ein weiteres psychiatrisches Sachverständigengutachten einzuholen und die Revision zuzulassen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat die Akten des Beklagten und des SG beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten und der Berufungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
Vor dem Hintergrund der zahlreichen Verwaltungsverfahren und Rechtsstreite der Klägerin ist festzustellen, dass Gegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens ausschließlich der Bescheid des Beklagten vom 09.02.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.06.2010 ist.
Die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen des Beklagten sind rechtmäßig. Wie das SG zu Recht entschieden hat, steht der Klägerin vor Oktober 1996 ein Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG nicht zu.
Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind. Danach erhält eine natürliche Person, die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.
In Altfällen - also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des Grundgesetzes (23.05.1949) und dem des OEG (16.05.1976) - müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 Satz 2 OEG i.V.m. § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in dem genannten Zeitraum geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwer- beschädigt und bedürftig sind und im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Versorgung nach Maßgabe dieser Regelung erhalten auch Personen, die in dem in Art. 3 des Einigungsvertrags genannten Gebiet ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben oder zum Zeitpunkt der Schädigung hatten, wenn die Schädigung in der Zeit vom 07.10.1949 bis zum 02.10.1990 in dem vorgenannten Gebiet eingetreten ist.
Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG beginnen die Leistungen der Beschädigtenversorgung mit dem Antragsmonat, wenn die sonstigen materiell-rechtlichen Voraussetzungen, insbesondere das Vorliegen einer Schädigung und der Eintritt der Schädigungsfolgen, erfüllt sind. Der Antrag ist im sozialen Entschädigungsrecht materiell-rechtliche Voraussetzung des Anspruchs auf Leistungen der Beschädigtenversorgung (§ 1 BVG). Nach Satz 2 der genannten Vorschrift erfolgt im Sinne eines Ausnahmetatbestands eine rückwirkende Leistungsgewährung, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird. Der Gesetzgeber wollte damit den Versorgungsberechtigten eine Überlegensfrist einräumen (vgl. Knörr, in: Knickrehm, Gesamtes soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl. 2012, § 60 BVG, Rdnr. 6). § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG verlängert als weiterer Ausnahmetatbestand den Zeitraum der rückwirkenden Leistungsgewährung bei unverschuldeter Verhinderung der Antragstellung.
1. Einem Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenversorgung vor dem 01.10.1996 steht die Bestandskraft des Bescheides des Beklagten vom 21.01.2008 entgegen, § 77 SGG. Wie der Senat in seinem Beschluss vom 04.05.2011, L 15 VG 19/10 B PKH, wie dargelegt entschieden hat, hat der Beklagte in dem genannten Bescheid bereits die Regelung getroffen, dass für die Zeit vor Oktober 1996 keine Versorgungsansprüche bestehen.
Damit kann nur im Rahmen einer Abänderung dieses Bescheids ein Leistungsanspruch der Klägerin bestehen. Entgegen der Ansicht der Klägerseite ist damit die Regelung des § 44 SGB X maßgeblich (vgl. den Beschluss des Senats vom 04.05.2011, a.a.O.). Wie der Beklagte im Ergebnis zu Recht entschieden hat - das SG hat zutreffend dargelegt, dass der Beklagte den streitgegenständlichen Bescheid nicht ausdrücklich als Zugunstenbescheid im Sinne dieser Vorschrift gekennzeichnet hat, jedoch darin (auch) eine solche Regelung enthalten ist -, bestehen Versorgungsansprüche der Klägerin vor dem genannten Zeitpunkt nicht.
Denn § 44 Abs. 4 SGB X beseitigt diese Ansprüche, sofern sie überhaupt bestehen würden, wovon der Senat nicht ausgeht (s.u.), materiell-rechtlich. Nach § 44 Abs. 4 SGB X werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des SGB, wozu auch das BVG zählt (§ 68 Nr. 7 f des SGB I), längstens bis zu einem Zeitraum von vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an angerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt wie hier die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.
Bei Erlass eines Zugunstenbescheids wird § 44 Abs. 4 SGB X nicht durch § 60 Abs. 1 BVG verdrängt, sondern findet, wie der Senat in dem o.g. Beschluss bereits entschieden hat, daneben voll Anwendung. Das BSG hat im Urteil vom 02.10.2008 (B 9 VH 1/07 R) unzweifelhaft die Sperrwirkung des § 44 Abs. 4 SGB X auch im sozialen Entschädigungsrecht bejaht und diesbezüglich klar den Unterschied zum Rangverhältnis von § 60 Abs. 2 BVG zu § 48 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 44 Abs. 4 SGB X dargelegt.
§ 44 Abs. 4 SGB X bewirkt ungeachtet der versorgungsrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Beschädigtenversorgung für die Zeit vor Oktober 1996 hat. Hierzu hat der Senat bereits am 04.05.2011 (a.a.O.) festgestellt:
"Die Vorschrift führt zu einer materiell-rechtlichen Anspruchsvernichtung (vgl. BSG, SGb 1994, S. 85) und berührt nicht nur die Durchsetzbarkeit eines Leistungsanspruchs. Dabei zählt als Sozialleistung im Sinn von Satz 1 schon die Versorgung nach dem OEG als Anspruch dem Grunde nach; solche "Sozial-leistungen" sind nicht erst die in § 9 BVG genannten Einzelkomponenten der Beschädigtenversorgung. Deshalb darf im vorliegenden Verfahren der Bf nicht ein Versorgungsanspruch quasi in Form eines "Stammrechts", welches von § 44 Abs. 4 SGB X unberührt bliebe, zuerkannt und erst der von ihr letztlich erstrebte Rentenanspruch aufgrund dieser Ausschlussregelung abgelehnt werden. Liegt aber wie hier ein materiell-rechtlicher Wegfall des Versorgungsanspruchs in seiner Gesamtheit vor, besteht kein "berechtigtes Interesse" im Sinn von § 55 Abs. 1 SGG für die Bf, für die Zeit vor Oktober 1996 eine Schädigungsfolge und einen Grad der Schädigung feststellen zu lassen. Denn auch wenn das Bestehen einer Schädigungsfolge und eines relevanten Grads der Schädigung verfahrensrechtlich nicht bloße Begründungselemente in Bezug auf die Zuerkennung eines Versorgungsanspruchs sind, sondern eigenständige Regelungsgegenstände verkörpern, so haben entsprechende Feststellungen gleichwohl keinen Selbstzweck (anders § 69 Abs. 1 des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch).
Die in die Vergangenheit gerichtete Vier-Jahres-Frist des § 44 Abs. 4 SGB X endet bei dem gebotenen Anknüpfen an den Rücknahmeantrag ... bereits mit dem 01.01.2004, so dass die von der Bf begehrte Versorgung vollständig von der anspruchsvernichtenden Wirkung erfasst wird."
2. Ein Anspruch auf Beschädigtenversorgung vor Oktober 1996 ergibt sich entsprechend der zutreffenden Entscheidung des Beklagten und des SG auch nicht etwa deshalb, weil die Voraussetzungen des Verlängerungstatbestands des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG gegeben wären. Nach dieser Vorschrift wird die Jahresfrist des § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG um den Zeitraum verlängert, in dem der Beschädigte ohne sein Verschulden an der rechtzeitigen Antragstellung verhindert gewesen ist (s.o.).
Die Vorschrift ist vorliegend jedoch nicht einschlägig (a.). Selbst wenn man dies anders sehen würde, ergäbe sich keine Verlängerungswirkung bis zum Antrag der Klägerin im Juli 2008 (b.).
a. § 60 Abs. 1 BVG regelt den Beginn der Leistungen der Beschädigtenversorgung nur beim Erstantrag (vgl. Knörr, a.a.O., Rdnr. 3). Vorliegend handelt es sich jedoch um eine nachträgliche Antragstellung bzgl. eines neuen Leistungsbeginns. Erstantrag in diesem Sinn war vielmehr der Antrag vom 29.10.1996; dieser ist jedoch aufgrund der bestandskräftigen Entscheidung hierüber - das Urteil des SG vom 19.01.2007 ist in Rechtskraft erwachsen - verbraucht. Maßgeblich ist somit ausschließlich der Antrag der Klägerin vom 23.07.2008.
b. Sofern man entgegen der in a. geschilderten Auffassung § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG vorliegend für anwendbar halten würde, müsste eine bis 03.10.1990 rückwirkende Leistungsgewährung jedoch dennoch ausscheiden, da der Antrag im Jahr 2008 weit außerhalb der Jahresfrist nach Eintritt der Schädigung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG gestellt worden ist und eine Verlängerung dieser Jahresfrist im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG um den Zeitraum, in dem die Klägerin ohne ihr Verschulden an der rechtzeitigen Antragstellung verhindert gewesen wäre, bis 2008 ausscheidet. Denn die Klägerin war seit Oktober 1996, allerspätestens jedoch seit Vorlage des Traumagutachtens der Fa. T. vom Dezember 2005, in dem erstmals festgestellt wurde, dass bei der Klägerin eine schizotype Störung mit Borderlinestruktur mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 (bezogen auf den Zeitraum ab dem Jahr 2002) vorlag, nicht "ohne ihr Verschulden an der rechtzeitigen Antragstellung verhindert" im Sinne der genannten Vorschrift. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wusste sie, dass ihre psychischen Beschwerden auf den Missbrauch zurückzuführen waren. Warum die fachkundig vertretene Klägerin erst am 23.07.2008 beantragt hat, der Beklagte solle Beschädigtenversorgung bereits vor der Erstantragstellung erbringen, erschließt sich dem Senat nicht. Andere Gründe als ein Versehen sind nicht erkennbar, zumal von der Vertretung der Klägerin ausschließlich auf die (im Hinblick auf den Antrag bereits) im Jahr 1996 erfolgte Erkenntnis der Klägerin hinsichtlich der schädigenden Handlungen abgestellt worden ist (s. im Einzelnen oben).
Auf die im Verfahren von den Beteiligten hervorgehobene Frage, ob die Klägerin überhaupt grundsätzlich an einer rechtzeitigen Antragstellung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG unverschuldet verhindert war, ob sie also an einer schädigungsbedingten Amnesie (bis 1996) gelitten hat oder ob ähnliche Phänomene aufgetreten sind und ob dies als unverschuldete Verhinderung zu werten wäre, kommt es vorliegend also nicht an.
3. Anders als die Klägerin meint, hat sie auch keinen Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 27 SGB X.
Nach dieser Vorschrift ist dem Betroffenen, der ohne Verschulden verhindert gewesen ist, eine gesetzliche Frist einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen; die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Innerhalb dieser Antragsfrist ist die versäumte Handlung nachzuholen. Nach einem Jahr seit Ende der versäumten Frist kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt oder die versäumte Handlung nicht mehr nachgeholt werden (außer in Fällen höherer Gewalt).
§ 27 SGB X ist vorliegend jedoch nicht anwendbar. Wie das BSG bereits entschieden hat (vgl. Urteile vom 30.09.2009 - B 9 VG 3/08 sowie vom 16.03.2016 - B 9 V 6/15 R), ist in § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bereits enthalten, die genannte Vorschrift "verschafft praktisch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Eintritt der Schädigung" (a.a.O.). § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG geht somit der allgemeinen Wiedereinsetzungsregel in § 27 SGB X vor. Selbst wenn man dies anders sehen würde, wären vorliegend die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung nicht erfüllt, da der Antrag auf Wiedereinsetzung und die Nachholung der versäumten Handlung - wie unter Ziffer 2 dargelegt - (viel) zu spät erfolgt sind. Nähere Ausführungen hierzu sind nicht veranlasst (s. oben).
4. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Beschädigtenversorgung vor Oktober 1996 aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Sie kann auch unter diesem Gesichtspunkt nicht so gestellt werden, als sei ein Antrag früher gestellt worden.
Der von der Rechtsprechung entwickelte sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist auf die Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Leistungsträger die ihm aufgrund eines Gesetzes oder des konkreten Sozialrechtsverhältnisses gegenüber dem Berechtigten obliegenden Haupt- oder Nebenpflichten, insbesondere zur Auskunft und Beratung (§§ 14, 15 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - SGB I), ordnungsgemäß wahrgenommen hätte. Demnach ist eine dem Sozialleistungsträger zurechenbare behördliche Pflichtverletzung, die (als wesentliche Bedingung) kausal zu einem sozialrechtlichen Nachteil des Berechtigten geworden ist, Anspruchsvoraussetzung. Zudem ist erforderlich, dass durch Vornahme einer zulässigen Amtshandlung der Zustand hergestellt werden kann, der bestehen würde, wenn die Behörde ihre Verpflichtungen gegenüber dem Berechtigten nicht verletzt hätte (z.B. BSG, Urteil vom 16.03.2016 - B 9 V 6/15 R, m.w.N.) Nach der Rspr. des BSG (a.a.O.) schließt die Regelung des § 60 Abs. 1 BVG die Begründung eines früheren Leistungsbeginns im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht aus, insbesondere wenn feststeht, dass eine Behörde pflichtwidrig eine gebotene Beratung über bestehende Antragsmöglichkeiten unterlassen hat. Über die in § 60 Abs. 1 S. 3 BVG praktisch enthaltene Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Eintritt der Schädigung erfasst der Herstellungsanspruch zusätzlich auch Fristversäumnisse, die auf Behördenfehlern beruhen (im Einzelnen zum - nicht deckungsgleichen - Anwendungsbereich beider Rechtsinstitute s. BSG, Urteil vom 02.02.2006 - B 10 EG 9/05 R). Insoweit ist insbesondere § 14 SGB I Grundlage für den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch, wonach jeder Betroffene Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach dem Sozialgesetzbuch hat.
Schon hieraus wird deutlich, dass die Voraussetzungen für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch im Falle der Klägerin nicht gegeben sind. Wie der Beklagte in seiner Stellungnahme vom 26.03.2015 zutreffend herausgestellt hat, ist bereits keine Pflichtverletzung im Hinblick auf eine unterlassene Beratung etc. ersichtlich. Auch dem Senat erschließt sich nicht, weshalb der Beklagte spätestens mit Vorlage des Gutachtens der Fa. T. die fachkundig vertretene Klägerin auf die Möglichkeit eines vor Antragstellung im Oktober 1996 früheren Leistungsbeginns hätte hinweisen müssen. Vor allem aber ergäbe sich selbst bei einer unterstellten Pflichtverletzung kein Anspruch der Klägerin auf Versorgung vor dem Jahr 1996. Denn auch wenn ein Berechtigter Anspruch auf rückwirkende Leistungen aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs hat, werden diese nach der Rechtsprechung längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren rückwirkend erbracht, weil die Vorschrift von § 44 Abs. 4 SGB X insoweit entsprechend anzuwenden ist (vgl. z.B. Urteil des BSG vom 24.04.2014 - B 13 R 23/13 R; Kreikebohm/von Koch, in: Sozialrechtshandbuch, 5. Aufl. 2012, § 6, Rdnr. 122 ff., m.w.N.). Ansprüche könnten somit längstens bis 2001 zurückwirken.
5. Soweit die Klägerseite das Prinzip von Treu und Glauben, den Aspekt der langen Verfahrensdauer und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bemüht, um zu einem Versorgungsanspruch bereits vor Oktober 1996 zu gelangen, kann der Senat dem nicht folgen (zum "Griff in die Zauberkiste des § 242 BGB" vgl. bereits den Beschluss des Senats vom 09.03.2016 - L 15 SF 109/15, mit Verweis auf Staudinger/Olzen/Looschelders, 2015, BGB, § 242, Rdnrn. 1 ff.). Er wertet ihn vielmehr als Indiz für die Aussichtslosigkeit des klägerischen Begehrens. Zu einer Anspruchsbegründung unter Umgehung von § 44 Abs. 4 SGB X, § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG taugen die genannten Aspekte jedenfalls nicht.
6. Im Übrigen ist vorliegend ein Antrag auf Neufeststellung gemäß § 48 SGB X nicht gegeben. Voraussetzung des § 48 SGB X ist stets eine nachträgliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse, wobei der Zeitpunkt des Bescheiderlasses entscheidend ist, dessen Korrektur in Frage steht. Hier ist offensichtlich, dass diese Grundvoraussetzung bereits nicht vorliegt.
7. Ferner kommt hinzu, dass ein Anspruch auf Beschädigtenversorgung auch aus materiell-rechtlichen Gründen vor Oktober ausscheidet. Auch ist die Kausalität zwischen dem schädigenden Ereignis (sexuellem Missbrauch) und einer psychiatrischen Beeinträchtigung vor 1996 nicht wahrscheinlich im Sinne des hier geltenden Beweismaßstabes (§ 1 Abs. 3 Satz 1 BVG). Dies folgt aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens. In der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dipl.-Med. S. vom 16.02.2016 ist nachvollziehbar herausgearbeitet worden, dass damals mit Blick auf den Befundbericht von Dr. U. vom 30.10.1990 allenfalls eine leichtgradige psychische Beeinträchtigung vorlag und dass bis 1996 allenfalls ein GdS von 20 für die psychische Beeinträchtigung gerechtfertigt war.
Letztlich kommt es hierauf entsprechend den obigen Darlegungen jedoch nicht entscheidend an, so dass auch die Frage unerörtert bleiben kann, ob noch weitere Ermittlungen auf medizinischem Gebiet angezeigt sein könnten. Dem Beweisantrag der Klägerin, die diesen über ihre Bevollmächtigte noch in der mündlichen Verhandlung des Senats gestellt hat, war daher nicht zu folgen.
Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis des Verfahrens.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die 1964 geborene Klägerin begehrt mit vorliegender Klage Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) in Verbindung mit dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG) für den Zeitraum Oktober 1990 bis Oktober 1996.
Beim Versorgungsamt A-Stadt stellte die Klägerin am 29.10.1996 erstmals Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Sie wurde in der Zeit zwischen 1968 und 1978 in einem Dorf in der DDR durch mehrere Täter sexuell missbraucht. 1989 flüchtete die Klägerin über Ungarn in die Bundesrepublik. Am 29.05.1995 begann sie eine Psychotherapie bei Dr. S ... Wie die Klägerin durchgehend angibt, seien die ersten Erinnerungen an den sexuellen Missbrauch 1996 im Rahmen dieser Psychotherapie geweckt worden. Sie macht im Verfahren geltend, zuvor auf Grund einer Amnesie o.ä. nicht gewusst zu haben, worauf ihre psychischen Beschwerden zurückzuführen seien.
Mit Bescheid vom 30.05.2002 lehnte das mittlerweile zuständige Amt für Familie und Soziales Chemnitz den Antrag der Klägerin ab, da die Voraussetzungen nach § 10a Abs. 1 Nr. 1 OEG (Schwerbeschädigteneigenschaft) nicht gegeben seien. Der Widerspruch hiergegen blieb ohne Erfolg. Im Widerspruchsbescheid vom 26.05.2004 ging das Amt zwar davon aus, dass die Schwerbeschädigteneigenschaft vorliege; es sei jedoch der Nachweis einer schädigenden Handlung nicht gegeben.
Hieran schloss sich das Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Würzburg - S 1 VG 2/04 - an. Im Rahmen dieses Verfahrens wurde im Dezember 2005 ein Traumagutachten der Fa. T. angefertigt. Daraufhin gab der Beklagte im SG-Verfahren folgendes Vergleichsangebot ab: * Aufhebung des Bescheids vom 30.05.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.05.2004 * Anerkennung einer schizotypen Störung mit Borderlinestrukturen als Folge einer Schädigung nach dem OEG ab 01.12.2001 mit einer MdE von 50 * Prüfung, ob Versorgung nach dem OEG im Rahmen des Härteausgleichs nach § 10a OEG zusteht.
In der mündlichen Verhandlung des SG vom 19.01.2007 nahm die Klägerin das Vergleichsangebot als Teilvergleich an. Zu einer Beendigung des Rechtsstreits durch den Vergleich kam es nicht, da die Klägerseite den Beginn der Versorgung bereits ab 29.10.1996 begehrte, der Beklagte jedoch von einer Rücknahme des damaligen Antrags im Rahmen eines Telefongesprächs ausging. Mit Urteil des SG vom 19.01.2007 wurde der Beklagte über den Teilvergleich hinaus verurteilt, der Klägerin bereits ab Oktober 1996 Versorgung im Rahmen des Härteausgleichs nach § 10a OEG zu gewähren. Entgegen der Auffassung des Beklagten habe die Klägerin den Antrag vom 29.10.1996 nicht zurückgenommen. Dieses Urteil ist in Rechtskraft erwachsen.
Im Folgenden führte der Beklagte ein Feststellungsverfahren zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Klägerin durch. Mit Ausführungsbescheid vom 21.01.2008 erkannte er die MdE von 50 als Folge einer Schädigung nach dem OEG für die Schädigungsfolge schizotype Störung mit Borderlinestrukturen bereits ab dem 01.10.1996 an. Die Höhe der Beschädigtenversorgung sei im Rahmen des Härteausgleichs nach § 10a OEG festzustellen. Ob Leistungen zur Erhöhung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit, Ausgleichsrente oder Ehegattenzuschlag zustünden, werde, so der Beklagte im Bescheid, gesondert geprüft.
Am 30.01.2008 beantragte die Klägerin eine Erhöhung der MdE. Am 20.03.2008 erhob sie Widerspruch gegen den Ausführungsbescheid vom 21.01.2008. Diesen (verfristeten) Widerspruch wertete der Beklagte als Antrag nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Am 23.07.2008 beantragte die Bevollmächtigte, den Ausführungsbescheid vom 21.01.2008 gemäß § 44 SGB X dahingehend zu überprüfen, ob die MdE von 50 gerecht- fertigt sei; des Weiteren wurde beantragt, Beschädigtenversorgung bereits vor der Antragstellung zu erbringen, da die Klägerin ohne ihr Verschulden an einer früheren Antragstellung verhindert gewesen sei. Zur Begründung verwies sie darauf, dass erst durch die psychotherapeutische Behandlung im Jahr 1996 bei Frau Dr. S. das anerkannte Schadensereignis an die Oberfläche des Bewusstseins der Klägerin hervorgetreten sei. Bis dahin sei das Geschehen verdrängt und für die Klägerin nicht erkennbar gewesen, habe aber dennoch seit der Kindheit bereits mannigfache körperliche und psychische Beschwerden hervorgerufen, deren Ursache die Klägerin bis dato lediglich nicht habe deuten können.
Mit Bescheid vom 09.03.2010 lehnte es der Beklagte auf den "Antrag vom 23.07.2008" ab, Beschädigtenversorgung vor Antragstellung zu gewähren. Mit Bescheid vom 21.01.2008 sei ein Versorgungsanspruch nach dem OEG ab dem Antragsmonat, d.h. ab dem 01.10.2006 anerkannt worden. § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG sei vorliegend nicht anwendbar. Der Ausnahmecharakter der darin enthaltenen erweiterten Rückwirkung des Antrags gebiete eine enge Handhabung, so der Beklagte. Eine Erweiterung auf Fälle, in denen der Betroffene um die Möglichkeit einer Leistungsgewährung bzw. eines Schädigungstatbestands vor Antragstellung überhaupt nicht gewusst habe, sei mit dem Antragsprinzip nicht vereinbar und würde die Möglichkeit der Gewährung von Versorgungsleistungen in einem rückwirkenden Ausmaß erweitern, wie es vom Gesetzgeber nicht vorgesehen sei. Eine Antragstellung wäre vorliegend ohnehin erst ab Übersiedlung in die Bundesrepublik möglich gewesen. Zu diesem Zeitpunkt habe die Klägerin jedoch noch keine Missbrauchserinnerungen gehabt, so dass eine Verhinderung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG nicht zu begründen sei.
Mit Schreiben vom 14.04.2010 erhob die Klägerin hiergegen Widerspruch. Der Begriff des Verhindertseins im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG sei, so die Begründung, nicht ausschließlich auf Personen bezogen, die im Koma liegen würden. Zu dem Zeitpunkt, als die Taten mit dem 14. Lebensjahr der Klägerin geendet hätten, habe diese noch bei ihren Eltern (also u.a. beim Haupttäter) gelebt. Auf Grund des damit einhergehenden Interessenskonflikts habe sich die Klägerin ein Verschulden ihres gesetzlichen Vertreters nicht zurechnen lassen müssen. Die Schädigungsfolgen seien auch schon für Zeiträume vor 1990 ärztlich dokumentiert. Die fehlende Dokumentation einer seelischen Erkrankung bis zu diesem Jahr lasse auch nicht den Rückschluss zu, es hätten keine seelischen Erkrankungen vorgelegen. Die Verdrängungs- und Dissoziationsmechanismen seien gerade Ausprägung einer seelischen Erkrankung.
Mit Widerspruchsbescheid vom 15.06.2010 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Gründe für das Verhindertsein im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG seien nicht gegeben. Zum Zeitpunkt der möglichen Antragstellung 1989 sei die Klägerin bereits 25 Jahre alt gewesen; ihr Vater sei bereits 1986 verstorben. Zudem verwies der Beklagte auch auf das Urteil des SG vom 19.01.2007 (s.o.), nach dem der Antrag auf Opferentschädigung am 29.10.1996 rechtswirksam gestellt worden sei.
Hiergegen hat die Klägerin am 15.07.2010 Klage zum SG erhoben. Zur Begründung hat sie über ihre Bevollmächtigte ausgeführt, dass sie objektiv und unverschuldet im Sinne der genannten Vorschrift daran gehindert gewesen sei, früher einen entsprechenden Antrag zu stellen. Eine Vergleichbarkeit mit einem Koma-Patienten sei daher durchaus gegeben. Verhindert in diesem Sinne sei danach auch, wer vom Standpunkt eines objektiven Betrachters aus gesehen aus subjektiv in seiner Person liegenden Gründen für den Verhinderungszeitraum unverschuldet nicht in der Lage gewesen sei, OEG-Leistungen rechtzeitig, d.h. unverzüglich nach Schädigungseintritt, zu beantragen. Die Behauptung des Beklagten im Widerspruchsbescheid, der Klägerin sei das Verschulden ihrer sorgeberechtigten Eltern zuzurechnen, da die vom BSG entwickelten Ausnahmen nicht vorlägen, sei eine reine Schutzbehauptung. Im Übrigen sei die unverschuldete Verhinderung an einer rechtzeitigen Antragstellung nicht Gegenstand des SG-Verfahrens gewesen.
Der Beklagte hat im Verfahren darauf hingewiesen, dass bei der Klägerin latente psychische Probleme erstmals 1990 aufgetreten seien; 1995 seien neue psychische Probleme im zeitlichen Zusammenhang mit der Trennung und Scheidung vom Ehemann aufgetreten und hätten zur Aufnahme einer Psychotherapie geführt. Der Wiedererinnerungsprozess habe erst 1996 begonnen, so dass bis dahin keine Gesundheitsstörungen wegen sexuellen Missbrauchs feststellbar seien.
Mit Beschluss vom 08.10.2010 hat das SG den Antrag auf Gewährung von PKH mangels Erfolgsaussichten in der Sache abgelehnt. Hiergegen hat die Klägerin Beschwerde zum Bayerischen Landessozialgericht (Bayer. LSG) erhoben. Mit Beschluss vom 04.05.2011 hat der Senat die Beschwerde zurückgewiesen (L 15 VG 19/10 B PKH). Die Erfolgsaussicht der Klägerin sei nur eine entfernte; zu dieser Erkenntnis bedürfe es keiner rechtlich schwierigen Erwägungen. Entsprechend der zutreffenden Entscheidung des SG komme es vorliegend auf die Handhabung von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG gar nicht an. Denn in der Tat fehle es an einer hinreichenden Erfolgsaussicht schon deshalb, weil § 44 Abs. 4 SGB X mögliche Versorgungsansprüche materiell-rechtlich beseitige. Mit dem Bescheid vom 21.01.2008 habe der Beklagte auch entschieden, was "gänzlich außer Zweifel" stehe, dass vor Oktober 1996 gerade keine Versorgungsansprüche bestünden.
Nach Einverständniserklärung der Beteiligten hat das SG den Rechtsstreit am 07.07.2011 durch Gerichtsbescheid entschieden. Die Klageabweisung hat es wie folgt begründet: Entgegen der Auffassung des Beklagten seien die Voraussetzungen des Verlängerungstatbestands des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG bis zum 14.02.1979 gegeben gewesen. Für eine weitere Verlängerung der Jahresfrist auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Schädigung zurück oder eine erstmals nachgewiesene Symptomatik auf psychiatrischem Fachgebiet fehle es an einer Verhinderung ohne Verschulden im Sinne dieser Vorschrift. Das SG vertrete die Auffassung, dass sich eine Verlängerung der Überlegungsfrist auf Verletzungsfolgen beziehe, welche zum Beispiel zeitweise die Vornahme von Überlegungen bezüglich der Geltendmachung eines Versorgungsanspruchs verhindern würden, nicht aber bei der Unkenntnis der die Leistung begründenden Tatsachen und dass eine Erweiterung auf die Fälle, in denen der Betroffene - wenn auch aus gesundheitlichen Gründen - schon um die Möglichkeit eines Schädigungstatbestands vor der Antragstellung überhaupt nicht gewusst habe, mit dem Antragsprinzip nicht vereinbar sei. Dies würde die Möglichkeit der Gewährung von Versorgungsleistungen in einem Ausmaß erweitern, wie vom Gesetzgeber nicht vorgesehen. Der Beklagte habe im vorliegenden Fall zu Recht und wie beantragt den verfristeten Widerspruch vom 19.03.2008 als Antrag nach § 44 SGB X gewertet. Damit sei § 44 Abs. 4 SGB X zu beachten, der nicht durch § 60 Abs. 1 BVG verdrängt werde. Weiter hat das SG auf die Rechtskraft des SG-Urteils vom 09.01.2007 abgestellt (§ 141 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Im Übrigen sei der Antrag gemäß § 44 SGB X bezüglich der Höhe der Versorgungsleistungen nicht Gegenstand des Verfahrens gewesen.
Am 16.08.2011 hat die Klägerin hiergegen Berufung zum Bayer. LSG erhoben, die sie ausführlich begründet hat. Bei der Klägerin liege eine chronifizierte posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) vor, welche auch zu dissoziativer Amnesie geführt habe. Die Klägerin sei zudem auch bereits nach Erreichen ihrer sozialrechtlichen Handlungsfähigkeit im Hinblick auf die Überlegung, dass Opfer emotional häufig nicht in der Lage seien, ihre Ansprüche wegen solcher Taten selbst zu verfolgen, daran gehindert gewesen, Beschädigtenrente innerhalb eines Jahres nach Schädigungseintritt zu beantragen. Weiter hat die Bevollmächtigte die Auffassung vertreten, dass ein Antrag nach § 44 SGB X nicht gestellt worden sei. Abgesehen davon habe der Beklagte den Antrag vom 23.07.2008 auch nicht als Antrag gemäß § 44 SGB X aufgefasst. Vielmehr sei ein Antrag gemäß § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG gestellt worden, "welcher als Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bzw. allenfalls als Antrag auf Neufeststellung für Zeiten vor Oktober 1996 zu werten ist." Der Ausführungsbescheid vom 21.01.2008 sei auf Grund eines Antrags vom Oktober 1996 gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG ergangen. Hierüber sei im Urteil vom 19.01.2007 entschieden worden. Die Frage, ob ein Fall des § 60 Abs. 1 Satz 2 oder Satz 3 BVG vorliege, sei weder gerichtlicherseits noch vom Beklagten aufgeworfen worden. Dies stelle einen vollkommen anderen Sachverhalt dar, nämlich das Verhindertsein an der Antragstellung vor 1996. Zudem ist die Ansicht vertreten worden, dass § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X Anwendung finde. Im Übrigen werde § 44 Abs. 4 SGB X durch § 60 BVG verdrängt. § 44 Abs. 4 SGB X beinhalte keinen allgemeinen Rechtsgedanken. Ein Verschulden im Sinne von § 60 BVG, das hier nicht vorliege, sei unerheblich. Weiter ist die Auffassung geäußert worden, dass ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch gegeben sei, da der Beklagte keine Hinweise auf Angaben etc. für die Zeit vor der Antragstellung gegeben habe. Schließlich sei wegen langer Verfahrensdauer und einen Verstoßes gegen Treu und Glauben sowie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz festzustellen, dass die "Verjährungsregelung des § 44 Abs. 4 SGB X" keine Anwendung finde. Im Schriftsatz vom 27.09.2011 hat der Beklagte die Ansicht hervorgehoben, dass ein früherer Leistungsbeginn nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs begründet werden könne. Es erschließe sich nicht, auf welcher Grundlage die Bevollmächtigte einen solchen Anspruch ableite. Erst durch die Antragstellung im Oktober 1996 sei das eventuelle Vorliegen eines OEG-Tatbestands bekannt geworden. Die Fristversäumnis beruhe hier nicht auf einem Behördenfehler.
Am 03.02.2015 hat ein Erörterungstermin des Senats stattgefunden. In dem Termin hat die Bevollmächtigte u.a. auf § 78b Strafgesetzbuch und auf den Aspekt der Einheitlichkeit der Rechtsordnung verwiesen, der einer Berufung auf Verjährung entgegenstehe, ferner auf geänderte Verjährungsvorschriften im Zivilrecht.
In einer Stellungnahme vom 26.03.2015 hat der Beklagte darauf hingewiesen, dass der Klägerin eine Antragstellung nach dem OEG erstmals 1989 möglich gewesen sei. Dies habe sie aber offensichtlich aus Unkenntnis nicht getan; die Antragstellung sei erst auf Anraten des Weißen Rings erfolgt. Die geltend gemachten gesundheitlichen Gründe, nämlich die dissoziative Amnesie, seien hier nicht erkennbar, es gebe insoweit keine Befunde. Eine schwere Erkrankung im Zeitraum vor Oktober 1996, die eine Antragstellung verhindert hätte, könne aus den Unterlagen ebenfalls nicht entnommen werden und sei auch nicht wahrscheinlich zu machen. Der Ausreiseantrag sowie die Flucht über Ungarn seien eine enorme psychische Belastung und wären mit einem so schweren Trauma, das die Geschäftsfähigkeit einschränke, nicht möglich gewesen. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten im Beruf habe die Klägerin 1992 bis 1996 als Bauzeichnerin gearbeitet, die letzten zwei Jahre sogar mit eigenem Büro als Selbständige. Auch das lasse doch an einer schweren Erkrankung ab 1990 zweifeln, so der Beklagte, abgesehen davon, dass hierfür eben auch keine Befunde vorliegen würden. Erst das Traumagutachten habe eine schizotype Störung mit Borderlinestrukturen und eine MdE von 50, bezogen auf einen Zeitraum ab 2002, festgestellt.
Mit Schriftsatz vom 30.05.2015 hat die Klägerseite darauf hingewiesen, dass entgegen der Beklagtenauffassung Zeiten vor dem 01.10.1996 nicht Gegenstand des Klageverfahrens vor dem SG gewesen seien. Der Beklagte habe behauptet, die Klägerin habe offensichtlich aus Unkenntnis nach der Übersiedlung keinen OEG-Antrag gestellt. Offengelassen werde allerdings, worauf sich diese Unkenntnis bezogen habe. Wer unter schädigungsfolgenbedingter Amnesie Unkenntnis über das schädigende Ereignis selbst habe, könne sich auch keine Gedanken darüber machen, ob gegebenenfalls Versorgungsansprüche geltend zu machen seien. Schließlich ist auf einen Bescheid des Beklagten vom 25.01.2011 verwiesen worden (Erstattung der Kosten für zahnärztliche Behandlung), in dem festgehalten worden sei, dass die Klägerin durch Umstände, die außerhalb ihres Willens gelegen hätten, an der Anmeldung der Kosten vor Beginn der Behandlung gehindert gewesen sei. Die Klägerin habe, so der Bescheid, erst durch die psychotherapeutische Behandlung ab 1996 Kenntnis über die Ursache ihrer Beschwerden erlangt. Maßgeblich sei das Wirksamwerden des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik.
Im folgenden Verlauf des Verfahrens ist das Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. A. vom 12.10.2015 für ein weiteres Klageverfahren vor dem SG Würzburg (S 10 VG 5/14) vorgelegt worden. Der Beklagte hat am 18.02.2016 darauf hingewiesen, dass sich aus dem Gutachten keine Hinweise für die behauptete Amnesie der Klägerin für die Zeit vor 1996 ergeben würden. Unabhängig hiervon belege der Befundbericht von Dr. U. vom 30.10.1990, dass im Oktober 1990 allenfalls eine leichte psychische Beeinträchtigung vorgelegen habe, die keinesfalls einen GdS von 50 erreicht habe. In der zu Grunde liegenden versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 16.02.2016 von Dipl.-Med. S. ist betont worden, dass es als ausreichend sicher gelten könne, dass beeinträchtigende Erinnerungen an sexuelle Übergriffe im Kindesalter erst 1996 in das Bewusstsein der Klägerin gerückt seien. Insoweit sei eine sichere Beurteilung, ob die Klägerin wegen absoluter Amnesie den sexuellen Missbrauch betreffend objektiv daran gehindert gewesen sei, bereits vor 1996 einen OEG-Antrag zu stellen, schwer möglich. Nach einer ergänzenden Stellungnahme von Dr. A. in dem o.g. sozialgerichtlichen Verfahren vom 22.02.2016 hat sich der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie des Beklagten Dr. S. am 19.04.2016 geäußert. Die bei der Klägerin bestehende Störung sei mit Wahnvorstellungen, Wahnideen und Wahrnehmungsstörungen nahezu klassisch. Eine PTBS sei weder anamnestisch aus dem Gutachten zu entnehmen noch sei diese Diagnose befundmäßig gesichert. Bis 1996 bestehe allenfalls ein GdS von 20. Eine höhere Ausprägung könne zuvor nicht begründet werden.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 07.07.2011 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 09.03.2010 in Gestalt des Widerspruchbescheids vom 15.06.2010 zu verurteilen, den Bescheid vom 21.01.2008 aufzuheben und der Klägerin Versorgungsrente wegen einer schizotypen Störung mit Borderlinestrukturen nach einem GdS von 50 bereits ab dem 03.10.1990 zu gewähren, hilfsweise zum Beweis der Tatsache, dass bei der Klägerin im Zeitraum von Oktober 1990 bis Oktober 1996 eine Schwerbehinderung mit einem GdS von 50 vorlag, ein weiteres psychiatrisches Sachverständigengutachten einzuholen und die Revision zuzulassen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat die Akten des Beklagten und des SG beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten und der Berufungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
Vor dem Hintergrund der zahlreichen Verwaltungsverfahren und Rechtsstreite der Klägerin ist festzustellen, dass Gegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens ausschließlich der Bescheid des Beklagten vom 09.02.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.06.2010 ist.
Die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen des Beklagten sind rechtmäßig. Wie das SG zu Recht entschieden hat, steht der Klägerin vor Oktober 1996 ein Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG nicht zu.
Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind. Danach erhält eine natürliche Person, die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.
In Altfällen - also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des Grundgesetzes (23.05.1949) und dem des OEG (16.05.1976) - müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 Satz 2 OEG i.V.m. § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in dem genannten Zeitraum geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwer- beschädigt und bedürftig sind und im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Versorgung nach Maßgabe dieser Regelung erhalten auch Personen, die in dem in Art. 3 des Einigungsvertrags genannten Gebiet ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben oder zum Zeitpunkt der Schädigung hatten, wenn die Schädigung in der Zeit vom 07.10.1949 bis zum 02.10.1990 in dem vorgenannten Gebiet eingetreten ist.
Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG beginnen die Leistungen der Beschädigtenversorgung mit dem Antragsmonat, wenn die sonstigen materiell-rechtlichen Voraussetzungen, insbesondere das Vorliegen einer Schädigung und der Eintritt der Schädigungsfolgen, erfüllt sind. Der Antrag ist im sozialen Entschädigungsrecht materiell-rechtliche Voraussetzung des Anspruchs auf Leistungen der Beschädigtenversorgung (§ 1 BVG). Nach Satz 2 der genannten Vorschrift erfolgt im Sinne eines Ausnahmetatbestands eine rückwirkende Leistungsgewährung, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird. Der Gesetzgeber wollte damit den Versorgungsberechtigten eine Überlegensfrist einräumen (vgl. Knörr, in: Knickrehm, Gesamtes soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl. 2012, § 60 BVG, Rdnr. 6). § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG verlängert als weiterer Ausnahmetatbestand den Zeitraum der rückwirkenden Leistungsgewährung bei unverschuldeter Verhinderung der Antragstellung.
1. Einem Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenversorgung vor dem 01.10.1996 steht die Bestandskraft des Bescheides des Beklagten vom 21.01.2008 entgegen, § 77 SGG. Wie der Senat in seinem Beschluss vom 04.05.2011, L 15 VG 19/10 B PKH, wie dargelegt entschieden hat, hat der Beklagte in dem genannten Bescheid bereits die Regelung getroffen, dass für die Zeit vor Oktober 1996 keine Versorgungsansprüche bestehen.
Damit kann nur im Rahmen einer Abänderung dieses Bescheids ein Leistungsanspruch der Klägerin bestehen. Entgegen der Ansicht der Klägerseite ist damit die Regelung des § 44 SGB X maßgeblich (vgl. den Beschluss des Senats vom 04.05.2011, a.a.O.). Wie der Beklagte im Ergebnis zu Recht entschieden hat - das SG hat zutreffend dargelegt, dass der Beklagte den streitgegenständlichen Bescheid nicht ausdrücklich als Zugunstenbescheid im Sinne dieser Vorschrift gekennzeichnet hat, jedoch darin (auch) eine solche Regelung enthalten ist -, bestehen Versorgungsansprüche der Klägerin vor dem genannten Zeitpunkt nicht.
Denn § 44 Abs. 4 SGB X beseitigt diese Ansprüche, sofern sie überhaupt bestehen würden, wovon der Senat nicht ausgeht (s.u.), materiell-rechtlich. Nach § 44 Abs. 4 SGB X werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des SGB, wozu auch das BVG zählt (§ 68 Nr. 7 f des SGB I), längstens bis zu einem Zeitraum von vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an angerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt wie hier die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.
Bei Erlass eines Zugunstenbescheids wird § 44 Abs. 4 SGB X nicht durch § 60 Abs. 1 BVG verdrängt, sondern findet, wie der Senat in dem o.g. Beschluss bereits entschieden hat, daneben voll Anwendung. Das BSG hat im Urteil vom 02.10.2008 (B 9 VH 1/07 R) unzweifelhaft die Sperrwirkung des § 44 Abs. 4 SGB X auch im sozialen Entschädigungsrecht bejaht und diesbezüglich klar den Unterschied zum Rangverhältnis von § 60 Abs. 2 BVG zu § 48 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 44 Abs. 4 SGB X dargelegt.
§ 44 Abs. 4 SGB X bewirkt ungeachtet der versorgungsrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Beschädigtenversorgung für die Zeit vor Oktober 1996 hat. Hierzu hat der Senat bereits am 04.05.2011 (a.a.O.) festgestellt:
"Die Vorschrift führt zu einer materiell-rechtlichen Anspruchsvernichtung (vgl. BSG, SGb 1994, S. 85) und berührt nicht nur die Durchsetzbarkeit eines Leistungsanspruchs. Dabei zählt als Sozialleistung im Sinn von Satz 1 schon die Versorgung nach dem OEG als Anspruch dem Grunde nach; solche "Sozial-leistungen" sind nicht erst die in § 9 BVG genannten Einzelkomponenten der Beschädigtenversorgung. Deshalb darf im vorliegenden Verfahren der Bf nicht ein Versorgungsanspruch quasi in Form eines "Stammrechts", welches von § 44 Abs. 4 SGB X unberührt bliebe, zuerkannt und erst der von ihr letztlich erstrebte Rentenanspruch aufgrund dieser Ausschlussregelung abgelehnt werden. Liegt aber wie hier ein materiell-rechtlicher Wegfall des Versorgungsanspruchs in seiner Gesamtheit vor, besteht kein "berechtigtes Interesse" im Sinn von § 55 Abs. 1 SGG für die Bf, für die Zeit vor Oktober 1996 eine Schädigungsfolge und einen Grad der Schädigung feststellen zu lassen. Denn auch wenn das Bestehen einer Schädigungsfolge und eines relevanten Grads der Schädigung verfahrensrechtlich nicht bloße Begründungselemente in Bezug auf die Zuerkennung eines Versorgungsanspruchs sind, sondern eigenständige Regelungsgegenstände verkörpern, so haben entsprechende Feststellungen gleichwohl keinen Selbstzweck (anders § 69 Abs. 1 des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch).
Die in die Vergangenheit gerichtete Vier-Jahres-Frist des § 44 Abs. 4 SGB X endet bei dem gebotenen Anknüpfen an den Rücknahmeantrag ... bereits mit dem 01.01.2004, so dass die von der Bf begehrte Versorgung vollständig von der anspruchsvernichtenden Wirkung erfasst wird."
2. Ein Anspruch auf Beschädigtenversorgung vor Oktober 1996 ergibt sich entsprechend der zutreffenden Entscheidung des Beklagten und des SG auch nicht etwa deshalb, weil die Voraussetzungen des Verlängerungstatbestands des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG gegeben wären. Nach dieser Vorschrift wird die Jahresfrist des § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG um den Zeitraum verlängert, in dem der Beschädigte ohne sein Verschulden an der rechtzeitigen Antragstellung verhindert gewesen ist (s.o.).
Die Vorschrift ist vorliegend jedoch nicht einschlägig (a.). Selbst wenn man dies anders sehen würde, ergäbe sich keine Verlängerungswirkung bis zum Antrag der Klägerin im Juli 2008 (b.).
a. § 60 Abs. 1 BVG regelt den Beginn der Leistungen der Beschädigtenversorgung nur beim Erstantrag (vgl. Knörr, a.a.O., Rdnr. 3). Vorliegend handelt es sich jedoch um eine nachträgliche Antragstellung bzgl. eines neuen Leistungsbeginns. Erstantrag in diesem Sinn war vielmehr der Antrag vom 29.10.1996; dieser ist jedoch aufgrund der bestandskräftigen Entscheidung hierüber - das Urteil des SG vom 19.01.2007 ist in Rechtskraft erwachsen - verbraucht. Maßgeblich ist somit ausschließlich der Antrag der Klägerin vom 23.07.2008.
b. Sofern man entgegen der in a. geschilderten Auffassung § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG vorliegend für anwendbar halten würde, müsste eine bis 03.10.1990 rückwirkende Leistungsgewährung jedoch dennoch ausscheiden, da der Antrag im Jahr 2008 weit außerhalb der Jahresfrist nach Eintritt der Schädigung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG gestellt worden ist und eine Verlängerung dieser Jahresfrist im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG um den Zeitraum, in dem die Klägerin ohne ihr Verschulden an der rechtzeitigen Antragstellung verhindert gewesen wäre, bis 2008 ausscheidet. Denn die Klägerin war seit Oktober 1996, allerspätestens jedoch seit Vorlage des Traumagutachtens der Fa. T. vom Dezember 2005, in dem erstmals festgestellt wurde, dass bei der Klägerin eine schizotype Störung mit Borderlinestruktur mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 (bezogen auf den Zeitraum ab dem Jahr 2002) vorlag, nicht "ohne ihr Verschulden an der rechtzeitigen Antragstellung verhindert" im Sinne der genannten Vorschrift. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wusste sie, dass ihre psychischen Beschwerden auf den Missbrauch zurückzuführen waren. Warum die fachkundig vertretene Klägerin erst am 23.07.2008 beantragt hat, der Beklagte solle Beschädigtenversorgung bereits vor der Erstantragstellung erbringen, erschließt sich dem Senat nicht. Andere Gründe als ein Versehen sind nicht erkennbar, zumal von der Vertretung der Klägerin ausschließlich auf die (im Hinblick auf den Antrag bereits) im Jahr 1996 erfolgte Erkenntnis der Klägerin hinsichtlich der schädigenden Handlungen abgestellt worden ist (s. im Einzelnen oben).
Auf die im Verfahren von den Beteiligten hervorgehobene Frage, ob die Klägerin überhaupt grundsätzlich an einer rechtzeitigen Antragstellung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG unverschuldet verhindert war, ob sie also an einer schädigungsbedingten Amnesie (bis 1996) gelitten hat oder ob ähnliche Phänomene aufgetreten sind und ob dies als unverschuldete Verhinderung zu werten wäre, kommt es vorliegend also nicht an.
3. Anders als die Klägerin meint, hat sie auch keinen Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 27 SGB X.
Nach dieser Vorschrift ist dem Betroffenen, der ohne Verschulden verhindert gewesen ist, eine gesetzliche Frist einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen; die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Innerhalb dieser Antragsfrist ist die versäumte Handlung nachzuholen. Nach einem Jahr seit Ende der versäumten Frist kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt oder die versäumte Handlung nicht mehr nachgeholt werden (außer in Fällen höherer Gewalt).
§ 27 SGB X ist vorliegend jedoch nicht anwendbar. Wie das BSG bereits entschieden hat (vgl. Urteile vom 30.09.2009 - B 9 VG 3/08 sowie vom 16.03.2016 - B 9 V 6/15 R), ist in § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bereits enthalten, die genannte Vorschrift "verschafft praktisch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Eintritt der Schädigung" (a.a.O.). § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG geht somit der allgemeinen Wiedereinsetzungsregel in § 27 SGB X vor. Selbst wenn man dies anders sehen würde, wären vorliegend die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung nicht erfüllt, da der Antrag auf Wiedereinsetzung und die Nachholung der versäumten Handlung - wie unter Ziffer 2 dargelegt - (viel) zu spät erfolgt sind. Nähere Ausführungen hierzu sind nicht veranlasst (s. oben).
4. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Beschädigtenversorgung vor Oktober 1996 aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Sie kann auch unter diesem Gesichtspunkt nicht so gestellt werden, als sei ein Antrag früher gestellt worden.
Der von der Rechtsprechung entwickelte sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist auf die Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Leistungsträger die ihm aufgrund eines Gesetzes oder des konkreten Sozialrechtsverhältnisses gegenüber dem Berechtigten obliegenden Haupt- oder Nebenpflichten, insbesondere zur Auskunft und Beratung (§§ 14, 15 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - SGB I), ordnungsgemäß wahrgenommen hätte. Demnach ist eine dem Sozialleistungsträger zurechenbare behördliche Pflichtverletzung, die (als wesentliche Bedingung) kausal zu einem sozialrechtlichen Nachteil des Berechtigten geworden ist, Anspruchsvoraussetzung. Zudem ist erforderlich, dass durch Vornahme einer zulässigen Amtshandlung der Zustand hergestellt werden kann, der bestehen würde, wenn die Behörde ihre Verpflichtungen gegenüber dem Berechtigten nicht verletzt hätte (z.B. BSG, Urteil vom 16.03.2016 - B 9 V 6/15 R, m.w.N.) Nach der Rspr. des BSG (a.a.O.) schließt die Regelung des § 60 Abs. 1 BVG die Begründung eines früheren Leistungsbeginns im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht aus, insbesondere wenn feststeht, dass eine Behörde pflichtwidrig eine gebotene Beratung über bestehende Antragsmöglichkeiten unterlassen hat. Über die in § 60 Abs. 1 S. 3 BVG praktisch enthaltene Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Eintritt der Schädigung erfasst der Herstellungsanspruch zusätzlich auch Fristversäumnisse, die auf Behördenfehlern beruhen (im Einzelnen zum - nicht deckungsgleichen - Anwendungsbereich beider Rechtsinstitute s. BSG, Urteil vom 02.02.2006 - B 10 EG 9/05 R). Insoweit ist insbesondere § 14 SGB I Grundlage für den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch, wonach jeder Betroffene Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach dem Sozialgesetzbuch hat.
Schon hieraus wird deutlich, dass die Voraussetzungen für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch im Falle der Klägerin nicht gegeben sind. Wie der Beklagte in seiner Stellungnahme vom 26.03.2015 zutreffend herausgestellt hat, ist bereits keine Pflichtverletzung im Hinblick auf eine unterlassene Beratung etc. ersichtlich. Auch dem Senat erschließt sich nicht, weshalb der Beklagte spätestens mit Vorlage des Gutachtens der Fa. T. die fachkundig vertretene Klägerin auf die Möglichkeit eines vor Antragstellung im Oktober 1996 früheren Leistungsbeginns hätte hinweisen müssen. Vor allem aber ergäbe sich selbst bei einer unterstellten Pflichtverletzung kein Anspruch der Klägerin auf Versorgung vor dem Jahr 1996. Denn auch wenn ein Berechtigter Anspruch auf rückwirkende Leistungen aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs hat, werden diese nach der Rechtsprechung längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren rückwirkend erbracht, weil die Vorschrift von § 44 Abs. 4 SGB X insoweit entsprechend anzuwenden ist (vgl. z.B. Urteil des BSG vom 24.04.2014 - B 13 R 23/13 R; Kreikebohm/von Koch, in: Sozialrechtshandbuch, 5. Aufl. 2012, § 6, Rdnr. 122 ff., m.w.N.). Ansprüche könnten somit längstens bis 2001 zurückwirken.
5. Soweit die Klägerseite das Prinzip von Treu und Glauben, den Aspekt der langen Verfahrensdauer und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bemüht, um zu einem Versorgungsanspruch bereits vor Oktober 1996 zu gelangen, kann der Senat dem nicht folgen (zum "Griff in die Zauberkiste des § 242 BGB" vgl. bereits den Beschluss des Senats vom 09.03.2016 - L 15 SF 109/15, mit Verweis auf Staudinger/Olzen/Looschelders, 2015, BGB, § 242, Rdnrn. 1 ff.). Er wertet ihn vielmehr als Indiz für die Aussichtslosigkeit des klägerischen Begehrens. Zu einer Anspruchsbegründung unter Umgehung von § 44 Abs. 4 SGB X, § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG taugen die genannten Aspekte jedenfalls nicht.
6. Im Übrigen ist vorliegend ein Antrag auf Neufeststellung gemäß § 48 SGB X nicht gegeben. Voraussetzung des § 48 SGB X ist stets eine nachträgliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse, wobei der Zeitpunkt des Bescheiderlasses entscheidend ist, dessen Korrektur in Frage steht. Hier ist offensichtlich, dass diese Grundvoraussetzung bereits nicht vorliegt.
7. Ferner kommt hinzu, dass ein Anspruch auf Beschädigtenversorgung auch aus materiell-rechtlichen Gründen vor Oktober ausscheidet. Auch ist die Kausalität zwischen dem schädigenden Ereignis (sexuellem Missbrauch) und einer psychiatrischen Beeinträchtigung vor 1996 nicht wahrscheinlich im Sinne des hier geltenden Beweismaßstabes (§ 1 Abs. 3 Satz 1 BVG). Dies folgt aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens. In der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dipl.-Med. S. vom 16.02.2016 ist nachvollziehbar herausgearbeitet worden, dass damals mit Blick auf den Befundbericht von Dr. U. vom 30.10.1990 allenfalls eine leichtgradige psychische Beeinträchtigung vorlag und dass bis 1996 allenfalls ein GdS von 20 für die psychische Beeinträchtigung gerechtfertigt war.
Letztlich kommt es hierauf entsprechend den obigen Darlegungen jedoch nicht entscheidend an, so dass auch die Frage unerörtert bleiben kann, ob noch weitere Ermittlungen auf medizinischem Gebiet angezeigt sein könnten. Dem Beweisantrag der Klägerin, die diesen über ihre Bevollmächtigte noch in der mündlichen Verhandlung des Senats gestellt hat, war daher nicht zu folgen.
Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis des Verfahrens.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
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