S 10 SO 6/14

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
10
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 10 SO 6/14
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 8 SO 28/17
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Erwachsene haben keinen Anspruch auf die Gewährung eines Therapiedreirades (im Anschluss an BSG, Urteil vom 07.10.2010 – B 3 KR 5/10 R)

2. Für die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist ein Therapiedreirad nur notwendig, wenn die Teilhabe nicht anderweitig gewährleistet wird.

3. Die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V gilt nicht für den Sozialhilfeträger als zweitangegangenen Träger.
Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander Kosten nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Kostenübernahme für ein Therapiedreirad.

Der 1965 geborene Kläger lebt in L. Im Juni 2010 wurde ihm der rechte Oberschenkel amputiert. Der Kläger besitzt eine Oberschenkelprothese mit elektrisch gesteuertem C-leg Kniegelenk und Aktivfuß. Der Kläger bewegt sich mithilfe von Unterarmstützen fort. Das Landesversorgungsamt stellte bei ihm im März 2012 einen Grad der Behinderung von 80 vom Hundert sowie die Merkzeichen "G", "B" und "aG" fest.

Im Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch vom 14.11.2011 ist u.a. angegeben, der Kläger benutze Unterarmgehstützen sowie eine Oberschenkelprothese; er verfüge über eine Gehbank, die er nicht nutze. Er habe nach der Prothesenversorgung das Gehen erlernt, welches ihm jedoch schwer falle. Im Wohn- und Außenbereich auf einer Ebene sei das Gehen möglich; ansonsten benötige er Unterarmgehstützen. Die Alltagskompetenz des Klägers sei nicht im Sinne von § 45a Elftes Buch Sozialgesetzbuch (Soziale Pflegeversicherung - SGB XI) eingeschränkt. Pflegebedürftigkeit liege nicht vor. Im Gutachten zur Feststellung von Erwerbsminderung für die Gesetzliche Rentenversicherung vom 20.1.2012 führt Dr. U. A. (Facharzt für Orthopädie) aus, der Kläger habe ein privat umgerüstetes Automatik-Auto. Die Laufstrecke an zwei Unterarmgehstützen betrage nach Angaben des Klägers 20 Meter; danach müsse er sich hinsetzen. Er könne sich außerhalb des Autos kaum fortbewegen und benötige eine Begleitperson. Der Gutachter stellte eine deutliche Rötung des Stumpfes mit Narbe fest. Die Belastbarkeit beurteilte er dahingehend, dass dem Kläger allenfalls eine sitzende körperliche Tätigkeit an einem Rollstuhlarbeitsplatz zumutbar sei. Bei zur Zeit nicht vorliegender Wegefähigkeit sei der beruflichen Rehabilitation eine medizinische Rehabilitation in einer Spezialklinik für Amputierte dringend voranzuschalten, um den Versuch einer Optimierung der Prothesenanpassung und eine entsprechende Gangschulung zu unternehmen.

Der behandelnde Arzt des Klägers, Dipl.-med. H., stellte dem Kläger am 06.05.2013 eine Verordnung aus. Darin heißt es: " 1 behinderten gerechtes Fahrrad Z.n. OS Amputation re. Nach AVK ".

Der Kläger stellte am 30.05.2013 bei seiner gesetzlichen Krankenversicherung einen Antrag auf Bewilligung eines orthopädischen Therapiedreirades zu einem Preis von 3.571,19 EUR. Diesen Antrag leitete die Krankenversicherung mit Schreiben vom 31.05.2013 an das Sozialamt des Landkreises W. weiter, wo er am 05.06.2013 Eingang fand. Mit Schreiben vom 12.06.2013 forderte der Landkreis W. den Kläger auf, weitere Unterlagen vorzulegen. Zwischenzeitlich teilte der Landkreis W. dem Bevollmächtigten des Klägers mit Schreiben vom 31.07.2013 mit, es werde eine amtsärztliche Stellungnahme angefordert. Die amtsärztliche Stellungnahme erstellte die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Frau G. am 26.08.2013, welche am 17.08.2013 beim Landkreis W. eingegangen war.

Mit Bescheid vom 09.09.2013 lehnte der Landkreis W. als örtlicher Träger der Sozialhilfe den an ihn weitergeleiteten Antrag mit der Begründung ab, die Versorgung des Klägers mit einem Therapiedreirad sei nicht notwendig. Der Rententräger habe im Jahr 2012 festgestellt, dass für den Kläger ein Rollstuhlarbeitsplatz zumutbar sei. Zudem könne eine medizinische Rehabilitation zur Optimierung der Prothesenanpassung und der Gangschulung durchgeführt werden. Im Rahmen der Selbsthilfemöglichkeit sei der Kläger auf die Versorgung mit einem Rollstuhl und die medizinische Rehabilitation als vorrangige Leistungen zu verweisen. Der Kläger könne sich mit den vorhandenen Prothesen fortbewegen und weiterhin die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen. Eine Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sei mithin möglich.

Den dagegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18.03.2014 zurück. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Versorgung mit einem Therapiedreirad. Eine Leistungspflicht des Beklagten bestehe nach den Vorschriften des Krankenversicherungsrechts nicht, da die Sicherung des Erfolgs einer Krankenbehandlung nicht erkennbar sei. Ebenso wenig sei der Beklagte zur Versorgung des Klägers mit einem Therapiedreirad nach den Vorschriften der Sozialhilfe verpflichtet. Es fehle an der Notwendigkeit, da ein offener relevanter Bedarf nicht bestehe. Durch die Benutzung der von der Krankenkasse angebotenen Hilfsmittel sei dem Kläger eine Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben möglich.

Nachdem der Kläger vor dem Sozialgericht und dem Landessozialgericht ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes führte, hat er sein zuvor als Untätigkeitsklage geführtes Verfahren umgestellt.

Der Kläger vertritt die Auffassung, dass nunmehr sein bei der Beigeladenen gestellter Antrag vom 30.05.2013 auf Gewährung eines Therapiedreirades als genehmigt gelte. Es komme nicht darauf an, dass der Verfahrensablauf keinen vermeidbaren Verzögerungen unterlegen habe. Da der Beklagte erst zwei Monate nach Antragstellung entschieden haben gelte das beantragte Therapiedreirad als genehmigt. Zudem habe die Beigeladene durch ihre Weiterleitungsentscheidung keine Entscheidung in der Sache getroffen. Es handele sich um eine interne Verwaltungsentscheidung ohne rechtsmittelfähigen Bescheidcharakters. Die Genehmigungsfiktion gelte auch für den zweitangegangenen Träger. Andernfalls stelle dies eine Ungleichbehandlung dar, wenn die Krankenkasse zu Unrecht weiterleite. Es komme auch nicht darauf an, ob vermeidbare oder nicht vermeidbare Verzögerungen vorlagen. Jedenfalls sei der Kläger über die Einholung einer amtsärztlichen Stellungnahme zu spät informiert worden und der Beklagte habe auch die fünfwöchige Frist nicht eingehalten, sondern erst nach zwei Monaten entschieden.

Der Kläger beantragt,

festzustellen, dass der am 30.05.2013 bei der AOK eingegangene Antrag des Klägers auf Versorgung mit dem "Hugo-Spezial-Therapie-Dreirad mit 2 Rädern vorn" genehmigt ist.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte ist der Auffassung, die Genehmigungsfiktion greife nicht. Insbesondere hatte der Beklagte Ermittlungen durchzuführen. Unter anderem forderte der Beklagte eine amtsärztliche Stellungnahme an und hielt Rücksprache mit der Krankenkasse des Klägers, dem Beigeladenen. Unmittelbar nach Abschluss der Ermittlungen sei der Bescheid am 09.09.2013 ergangen.

Der Beilgeladene stellt keinen Antrag. Er ist der Auffassung, eine Leistungspflicht nach dem Recht der Krankenversicherung, dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch, bestehe nicht.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Gerichtsakte des beigezogenen Verfahrens S 10 SO 70/13 ER haben vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sachverhalt wird auf die Gerichtsakte sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten dazu ihr Einverständnis erteilt haben, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

1. Die zulässige Klage ist unbegründet.

Nach Auslegung des Klageantrages begehrt der Kläger im Wege kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1, Abs. 4 SGG die Bewilligung der Kosten für ein Therapiedreirad. Streitgegenständlich ist der Bescheid 09.09.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.03.2014. Die Feststellungsklage ist subsidiär. Der Kläger hat rechtzeitig innerhalb eines Monat nach Zugang des Widerspruchsbescheides die Untätigkeitsklage mit Schriftsatz vom 24.03.2014, eingegangen bei Gericht am 27.03.2014, umgestellt.

Die sachliche Zuständigkeit des Beklagten ergibt sich aus § 14 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 bis 3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Die Beigeladene leitete den am 30.05.2013 bei ihr eingegangenen Antrag auf Versorgung mit dem näher bezeichneten Therapie-Dreirad am 05.06.2013 an den Beklagten weiter, da sie sich nicht für zuständig hielt. Der Beklagte war nunmehr im Außenverhältnis zum Kläger verpflichtet, über den Antrag auf Kostenübernahme für ein Therapiedreirad zu entscheiden. Der Beklagte ist örtlich zuständig (§ 98 Abs. 1 Satz 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB XII). Die in § 4 des Gesetzes zur Ausführung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (AG-SGB XII) geregelte Möglichkeit der Heranziehung des örtlichen Trägers führt nicht zu einer Zuständigkeitsverlagerung im Sinne einer daran anknüpfenden Passivlegitimation. Das ergibt sich bereits daraus, dass der örtliche Träger bei der Heranziehung nach § 6 Satz 2 AG SGB XII zwingend im Namen des zuständigen (hier überörtlichen) Trägers der Sozialhilfe entscheidet.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Beschaffung eines Therapiedreirades. Der Bescheid vom 09.09.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.03.2014 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

a) Der Kläger hat keinen Anspruch aus § 33 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in der anwendbaren Fassung des Art. 1 Nr. 17a des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) vom 26. März 2007 (BGBl I 378) stützen. Danach haben Versicherte einen Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern (1. Alternative), einer drohenden Behinderung vorzubeugen (2. Alternative) oder eine Behinderung auszugleichen (3. Alternative), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Dabei besteht ein Anspruch auf Versorgung im Hinblick auf die "Erforderlichkeit im Einzelfall" nur, soweit das begehrte Hilfsmittel geeignet, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet; darüber hinausgehende Leistungen dürfen gemäß § 12 Abs. 1 SGB V nicht bewilligt werden.

Nicht entscheidend für den Versorgungsanspruch ist, ob das begehrte Hilfsmittel im Hilfsmittelverzeichnis (§ 139 SGB V) gelistet ist, denn es handelt sich bei diesem Verzeichnis nicht um eine abschließende Regelung i.S. einer Positivliste (Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 7. Oktober 2010 - B 3 KR 5/10 R). Dreiräder sind im Hilfsmittelverzeichnis unter Mobilitätshilfen aufgeführt (Hilfsmittelverzeichnis, GKV Spitzenverband, Stand vom 06.01.2007), allerdings nur für Kinder und nicht in Bezug auf das konkret vom Kläger beanspruchte Gerät. Auch für Erwachsene gelten Therapie-Dreiräder als Hilfsmittel (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2001 - B 3 KR 6/00 R; Landessozialgericht - LSG - Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17. Oktober 2012 – L 9 KR 392/10).

Hier fehlt es bereits an einer konkreten Verordnung durch einen Arzt. Ausweislich des Rezeptes des Dipl.-Med. H. vom 6.05.2013 wurde dem Kläger weder das von ihm konkret beanspruchte Rad noch ausdrücklich ein Therapie-Dreirad, sondern ein "behinderten gerechtes Fahrrad" wegen der "OS Amputation rechts nach AVK" verordnet. Insoweit ergibt sich aus der Verordnung nur, dass vom ausstellenden Arzt ein behindertengerechtes Fahrrad im Hinblick auf den aufgrund einer arteriellen Verschlusskrankheit amputierten rechten Oberschenkel für erforderlich gehalten wurde. Nach den verbindlichen Vorgaben der Hilfsmittel-Richtlinien (Hilfsmittel-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses ist das Hilfsmittel in der ärztlichen Verordnung so eindeutig wie möglich zu bezeichnen und es sind alle für die individuelle Versorgung oder Therapie erforderlichen Einzelangaben zu machen (§ 7 Abs. 2 Satz 1 Hilfsmittel-RL; vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21.02.2014 – L 8 SO 41/13 B ER). Denn das Einzelprodukt (bezeichnet durch die 10-stellige Positionsnummer, soweit vom Hilfsmittelverzeichnis erfasst) wird grundsätzlich vom Leistungserbringer nach Maßgabe der mit den Krankenkassen abgeschlossenen Verträge zur wirtschaftlichen Versorgung mit der oder dem Versicherten ausgewählt, wobei die Verordnung eines speziellen Hilfsmittels bei entsprechender Begründung dem Vertragsarzt möglich bleibt (§ 7 Abs. 3 Sätze 2 bis 5 Hilfsmittel-RL). Hier fehlt es bereits an einer eindeutigen Bezeichnung des Hilfsmittels nach Maßgabe der oben genannten Hilfsmittel-RL, da als "behindertengerecht" diverse Arten von Fahrrädern in Betracht kommen können. Darüber hinaus ist bereits im Hinblick auf den Wortlaut der Verordnung nicht erkennbar, dass - wie vom Kläger behauptet - ein Therapie-Dreirad im Hinblick auf das linke Bein und eine dort weiterhin bestehende arterielle Verschlusskrankheit benötigt werde. Aus diesem Grund scheidet die vom Kläger geltend gemachte Notwendigkeit der Versorgung zur Vorbeugung einer drohenden Behinderung (§ 33 Abs. 1 Satz 1, 2. Alternative SGB V) aus.

Die Kammer geht nicht davon aus, dass das vom Kläger beanspruchte Therapie-Dreirad zur Sicherung des Erfolgs einer Krankenbehandlung erforderlich ist (§ 33 Abs. 1 Satz 1, 1. Alternative SGB V). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts können Erwachsene gegenüber ihrer Krankenkasse einen Anspruch auf Versorgung mit einem Behindertendreirad (Therapiedreirad), wenn dieses Hilfsmittel in Ergänzung der Krankengymnastik zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung notwendig ist (BSG, Urteil vom 07.10.2010 - B 3 KR 5/10 R). Dieser enge Zusammenhang zwischen der Versorgung mit einem Therapiedreirad als Krankenbehandlung und einem andauernden, auf einem ärztlichen Therapieplan beruhenden Behandlung durch ärztliche oder ärztlich angeleitete Leistungserbringer im Sinne der Behandlungsziele des § 27 SGB V ist hier nicht erkennbar. Sie liegen vor, wenn der Versicherte aufgrund der Schwere der Erkrankung dauerhaft Anspruch auf Maßnahmen der physikalischen Therapie hat und die durch das beanspruchte Hilfsmittel unterstützte eigene körperliche Betätigung diese Therapie entweder wesentlich fördert oder die Behandlungsfrequenz infolge der eigenen Betätigung geringer ausfallen kann (BSG, Urteil vom 07.10.2010 - B 3 KR 5/10 R).

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Behinderungsausgleich nach § 33 Abs. 1 Satz 1 3. Alternative SGB V. Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung bei der Hilfsmittelversorgung ist allein die an Gesundheit, Organfunktion und Behandlungserfolg orientierte medizinische Rehabilitation. Darüber hinausgehende soziale oder berufliche Rehabilitationsleistungen könnten allenfalls von anderen Sozialleistungsträgern erbracht werden. Bei Hilfsmitteln, die - wie hier - nicht unmittelbar eine körperliche Funktion ersetzen, sondern lediglich die direkten oder indirekten Folgen einer Behinderung ausgleichen ("mittelbarer Behinderungsausgleich"), ist von medizinischer Rehabilitation nur dann auszugehen, wenn der Zweck des Hilfsmitteleinsatzes der Befriedigung körperlicher Grundfunktionen und in diesem Sinne einem Grundbedürfnis dient. Dies ist der Fall, wenn das Hilfsmittel die Auswirkungen einer Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist. Der Gesetzgeber hat diese ständige Rechtsprechung des BSG zur Hilfsmittelversorgung durch die Regelung in § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX ausdrücklich gesetzlich bestätigt (vgl. BSG, Urteil vom 07.10.2010 - B 3 KR 5/10 R).

Das Hilfsmittel ist nicht "zum Behinderungsausgleich" im Sinne des Fünften Buches Sozialgesetzbuch erforderlich, weil der Kläger die Nutzung eines Therapiedreirades über den Nahbereich seiner Wohnung hinaus vorsieht. Die Leistungspflicht nach dem Krankenversicherungsrecht ist allein auf die medizinische Rehabilitation beschränkt, den Versicherten die Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums zu ermöglichen. Es sind deshalb nur solche Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, die dem Grundbedürfnis dienen, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und diese zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (vgl. BSG, Urteil vom 07.10.2010, B 3 KR 5/10 R). Aber auch im Nahbereich ist die Nutzung eines Therapiedreirades im Sinne des § 33 SGB V nicht erforderlich, da der Kläger hierfür ausreichend mit den vorhandenen Gehilfen versorgt ist. Ein weiteres Hilfsmittel zur Fortbewegung bedarf der Kläger aus Sicht des Gerichts nicht, auch wenn die spezielle Art der Fortbewegung und die damit verbundenen besonderen Effekten aus Sicht des Klägers nachvollziehbar sind. Jedoch ist das Fahrradfahren kein Grundbedürfnis des täglichen Lebens (BSG, Urteil 07.10.2010 - B 3 KR 5/10 R).

b) Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung eine Therapiedreirades als Eingliederungsleistung nach §§ 54, 55 SGB XII in Verbindung mit § 55 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 7 SGB IX. Für die Teilhabe des Klägers am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben ist ein Therapiedreirad nicht erforderlich.

Die Leistungen der Eingliederungshilfe werden durch § 54 Abs. 1 SGB XII i.V.m. §§ 26, 33, 41 und 55 SGB IX und durch die auf der Ermächtigungsgrundlage des § 60 SGB XII erlassene Eingliederungshilfeverordnung (EinglHV) konkretisiert. Bei dem Therapiedreirad handelt es sich um ein Hilfsmittel nach § 9 EinglHV. Andere Hilfsmittel im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch in Verbindung mit den §§ 26, 33 und 55 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch sind nur solche Hilfsmittel, die dazu bestimmt sind, zum Ausgleich der durch die Behinderung bedingten Mängel beizutragen. Das Therapiedreirad wird nicht ausdrücklich in § 9 Abs. 2 Nr. 1 bis 12 EinglHV genannt. Es ist dem Grunde nach unter § 9 Abs. 3 EinglHV zu fassen. Danach wird die Versorgung mit einem anderen Hilfsmittel im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch in Verbindung mit den §§ 26, 33 und 55 SGB IX nur gewährt, wenn das Hilfsmittel im Einzelfall erforderlich und geeignet ist, zu dem in Absatz 1 genannten Ausgleich beizutragen, und wenn der behinderte Mensch das Hilfsmittel bedienen kann.

Dies ist nur zu bejahen, wenn das Therapiedreirad als grundsätzlich geeignete Eingliederungsmaßnahme unentbehrlich zum Erreichen der Eingliederungsziele ist (Bundessozialgericht, Urteil vom 20.09.2012 - B 8 SO 15/11 R, BSGE 112, 67 ff.), die darin liegen (vgl. § 53 Abs. 3 Satz 1 SGB XII), eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.10.2016 - L 2 SO 3968/15). Dabei ist dem behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihm die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder ihn so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen, § 53 Abs. 2 Satz 2 SGB XII, § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 55 Abs. 1 SGB IX. In welchem Maß und durch welche Aktivitäten ein behinderter Mensch am Leben in der Gemeinschaft teilnimmt, ist abhängig von seinen individuellen Bedürfnissen unter Berücksichtigung seiner Wünsche (§ 9 Abs. 2 SGB XII). Dieser individuelle und personenzentrierte Maßstab steht regelmäßig einer pauschalierenden Betrachtung des Hilfefalls entgegen (vgl. BSG, Urteil vom 12.12.2013 - B 8 SO 18/12 R; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.10.2016 - L 2 SO 3968/15). Prüfungsmaßstab ist mithin die konkrete individuelle Lebenssituation des behinderten Menschen, wobei in die Gesamtwürdigung seine Bedürfnisse und Wünsche, aber auch Art und Ausmaß der Behinderung einzubeziehen sind (BSG, Urteil vom 23.8.2013 - B 8 SO 24/11 R).

Die vom Kläger formulierten Eingliederungsziele - gelegentliche Ausflüge, gelegentliche Besuche bei den Freunden, Einkaufen und Arztbesuche kann er mit einem Therapiedreirad erreichen. Die vom Kläger genannten Teilhabebedürfnisse am Leben in der Gemeinschaft gehen auch nicht über die eines nicht behinderten nicht sozialhilfebedürftigen Menschen - die die maßgebliche Vergleichsgruppe darstellen - hinaus. Das Pflegen von familiären Kontakten, Einkaufen, Freizeitbeschäftigungen nachgehen sind gesellschaftlich üblich.

Zur Überzeugung der Kammer war die Beschaffung eines Therapiedreirads zum Erreichen dieser Eingliederungsziele jedoch nicht erforderlich, weil andere Möglichkeiten als die Benutzung des Therapiedreirades zur Verfügung stehen. Der Kläger kann Einkaufsmöglichkeiten und Ärzte durch die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel erreichen.

c) Ein Anspruch besteht auch nicht aufgrund der Regelung des § 13 Abs. 3a Satz 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V).

Danach gilt der Antrag auf Leistungen als genehmigt (sog. Genehmigungsfiktion), wenn die Krankenkasse über einen Antrag nicht spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang entschieden hat oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (Medizinischer Dienst), eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden (Satz 1). Wenn die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten (Satz 2). Der Medizinische Dienst nimmt innerhalb von drei Wochen gutachtlich Stellung (Satz 3). Wird ein im Bundesmantelvertrag für Zahnärzte vorgesehenes Gutachterverfahren durchgeführt, hat die Krankenkasse ab Antragseingang innerhalb von sechs Wochen zu entscheiden; der Gutachter nimmt innerhalb von vier Wochen Stellung (Satz 4). Kann die Krankenkasse Fristen nach Satz 1 oder Satz 4 nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit (Satz 5). Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt (Satz 6). Diese gesetzlich bestimmten kurzen Bearbeitungsfristen sollen dem Interesse der Versicherten an einer zügigen Entscheidung dienen (BT-Drs. 17/10488 Seite 9).

Der Landkreis W. hat als örtlicher und hier zweitangegangener Träger die gesetzlichen Fristen eingehalten. Zwischen dem Eingang des an den Beklagten weitergeleiteten Antrages am 05.06.2013 bis zur Entscheidung durch Bescheid vom 09.09.2013 vergingen zwar drei Monate. Jedoch waren weitere Ermittlungen erforderlich, auf die der Landkreis W. hinwies. Auf das weitere Ermittlungserfordernis wies der Landkreis W. zunächst mit Schreiben vom 12.06.2013 hin, in dem er den Kläger aufforderte, weitere Unterlagen vorzulegen. Dieser Hinweis erfolgte innerhalb drei Wochen und damit rechtzeitig im Sinne des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V. hin. Dem beigezogenen Verwaltungsvorgang konnte der Eingang der angeforderten Unterlagen bis zum 31.07.2013, als der Landkreis W. den Bevollmächtigten des Klägers über die Anforderung einer amtsärztlichen Stellungnahme informierte, nicht entnommen werden.

Der Landkreis W. hat nach Eingang des Gutachtens innerhalb von zwei Wochen über den Leistungsantrag entschieden.

Im Übrigen gilt die Genehmigungsfiktion nicht für den Sozialhilfeträger – weder als erstangegangener noch als zweitangegangener Träger. Die Genehmigungsfiktion ist eine dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch eigene Regelung. Das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch kennt eine solche Regelung nicht. Sie wäre auch systemfremd. Die Sozialhilfe ist ein steuerfinanziertes Gesetz und kein – wie das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch – beitragsfinanziertes Versichertensystem. Im Rahmen der Versichertengemeinschaft hat der Gesetzgeber mit Einführung des § 13 Abs. 3a SGB V das Ziel verfolgt, im Interesse des Versicherten ihm zu einer schnellen Entscheidung zu verhelfen (BT-Drs. 17/10488, Seite 9; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21.02.2014 – L 8 SO 41/13 B ER). Der Gesetzgeber hat bewusst eigene Fristenregelungen in § 14 SGB IX (Zuständigkeitsklärung) geregelt. Da die Zuständigkeiten durch die Weiterleitung nach § 14 SGB IX zwischen Trägern aus steuerfinanzierten und beitragsfinanzierten Leistungssystemen wechseln können, hat die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V in der Regelung des § 14 Abs. 2 SGB IX keinen ausdrücklich Eingang gefunden. Sie wird auch nicht durch eine Weiterleitung des Antrages durch die Krankenkasse als erstangegangener Träger auf den zweitangegangen Träger übertragen (a.A. SG Speyer, Urteil vom 24.10.2016 – S 16 R 1005/14). Gegen die Wirkung der Genehmigungsfunktion für den Sozialhilfeträger als zweitangegangener Träger spricht auch die Vorschrift des § 15 Abs. 1 Satz 5 SGB IX. Danach gelten die in § 14 Abs. 2 SGB IX genannten Fristen über die Entscheidung nicht. Zwar handelt es sich § 15 SGB IX um eine Kostenerstattungsregelung. Dies haben § 15 SGB IX und § 13 SGB V jedoch gemein. Selbst wenn eine Übertragbarkeit der Genehmigungsfiktion anzunehmen wäre, dann allenfalls bei fehlerhafte Weiterleitung der Krankenkasse und grundsätzlichem Anspruch auf Leistungen nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch. Der Kläger hat aber vorliegend gerade keinen Anspruch nach § 33 SGB V. Schließlich wäre der fingierte Verwaltungsakt einer Rücknahme unter den Voraussetzungen des § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch ausgesetzt. Bei fehlender Entscheidung oder "verspäteter" Entscheidung durch den zweitangegangenen Träger dürfte die Berufung auf den Vertrauensschutz nur sehr eingeschränkt möglich sein.

d) Die Einkommens- und Vermögensprüfung musste nicht erfolgen, da bereits die übrigen Anspruchsvoraussetzungen der einzelnen Anspruchsgrundlagen aus dem Fünften und Zwölften sowie Neunten Buch Sozialgesetzbuch aus den oben genannten Gründen nicht vorliegen.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.

3. Die Berufung ist zulässig, § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG. Die Berufungssumme von 750,00 Euro wird erreicht (3.571,19 Euro).
Rechtskraft
Aus
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