L 17 U 389/14

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 6 U 155/11
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 17 U 389/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 04.04.2014 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2109 der Anl. 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) (bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können - BK 2109).

Der am 00.00.1958 geborene Kläger war von 1977-1997 bei der Firma Glas Q GmbH im Bereich der Isolierglasfertigung beschäftigt, danach war er selbstständig als Gastwirt. Nachdem bei ihm Erkrankungen der Lendenwirbelsäule (LWS) diagnostiziert worden waren, stellte er einen Antrag auf Anerkennung und Entschädigung der BK 2108, die bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS betrifft. Der Antrag wurde abgelehnt (Bescheid vom 11.7.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.3.2006). Die Klage blieb erfolglos (Urteil SG Aachen vom 15.6.2007 - S 10 (14) U 49/06-, die Berufung nahm der Kläger im Termin vom 20.9.2012 zurück (L 15 U 203/07 LSG NRW).

Im Berufungsverfahren hatte der Kläger vorgetragen, er habe während seiner Tätigkeit bei der Firma Glas Q auch schwere Lasten über der Schulter tragen müssen, bei ihm bestünden Erkrankungen der Halswirbelsäule (HWS). Darauf leitete die Beklagte ein entsprechendes Feststellungsverfahren zur BK 2109 ein.

Sie ließ zunächst den Bericht ihres Präventionsdienstes vom 13.9.2010 erstellen. Darin gelangte Diplom-Ingenieur I aufgrund der Auswertung von Unterlagen, Kenntnissen im Betrieb und einem Gespräch mit dem kaufmännischen Leiter der Arbeitgeberin W zu dem Ergebnis, der Kläger habe ca. 90 % der Hebe- und Tragevorgänge von Glasscheiben zwischen 20 und 100 kg im Bereich des Glaszuschnittes vor und neben dem Körper ausgeführt, bei ca. 10 % seiner Tätigkeit habe er Transport- und Montagetätigkeiten von produzierten Isolierglasscheiben durchgeführt. Bei letzteren hätten Gewichte von 25-225 kg mit Hilfe von Saughebern mit den Armen angehoben sowie getragen werden müssen, teilweise seien sie auch mit Schultergurt transportiert worden. Durch das Transportieren durch enge Räume, wie Flure und Treppenhäuser, hätten hierbei auch häufig Zwangshaltungen mit vorgebeugtem Körper vorgelegen.

Ferner zog die Beklagte sowohl medizinische Unterlagen aus dem Verfahren zur BK 2108 bei (Gutachten des Orthopäden Dr. S vom 20.3.2007, der Orthopädin Dr. M vom 7.12.2008, des Orthopäden Dr. W vom 29.5.2008 nebst seiner ergänzenden Stellungnahmen vom 23.3.2010 und 6.10.2010) als auch die Arbeitgeberauskunft vom 4.2.2011, auf deren Inhalt im Einzelnen verwiesen wird.

Mit Bescheid vom 14.10.2010 lehnte die Beklagte durch den Rentenausschuss ihrer Bezirksverwaltung X den Antrag ab. Der Kläger habe nur gelegentlich schwere Lasten von 50 kg oder mehr mit einem Tragegurt über der Schulter getragen. Voraussetzung für die Anerkennung der BK 2109 sei aber, dass Lasten von 50 kg oder mehr über einen Zeitraum von mindestens zehn Jahren in einem überwiegenden Teil der Arbeitsschichten mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit getragen worden seien. Da bereits die arbeitstechnischen Voraussetzungen der streitigen BK nicht vorlägen, erfolge keine weitere Prüfung der medizinischen Voraussetzungen. Der Rentenausschuss war u.a. mit der von der Arbeitgeberseite entsandten Vertreterin Frau T besetzt.

Den dagegen gerichteten Widerspruch begründete der Kläger damit, sowohl die arbeitstechnischen als auch die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen der BK 2109 seien gegeben, die bei ihm vorliegenden Veränderungen der HWS seien Folge der beruflichen Tätigkeit. Er habe nicht nur gelegentlich, sondern regelmäßig, häufig und im überwiegenden Teil der Arbeitsschichten schwere Lasten mit schädlichen Einwirkungen auf die HWS getragen. Das Tragen der schweren Lasten sei mit Kreuz- bzw. Schultergurten vorgenommen worden. Sie seien über die Schultern gelegt und die Lasten (Scheiben und Fensterrahmen) seien so mittig vor dem Körper angehoben und transportiert worden.

Dipl. Ing. I führte in seiner Stellungnahme vom 8.2.2011 aus, aufgrund der Angaben, die ihm im Gespräch von der Arbeitgeberseite gemacht worden seien, ergäbe sich eine gefährdende Tätigkeit nach BK 2109. In einem Aktenvermerk vom 23.5.2011 führte die Beklagte hingegen aus, das Tragen von Lasten mit Tragegurten werde nicht von der BK 2109 erfasst, so dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK nicht erfüllt seien.

Mit Widerspruchsbescheid vom 21.6.2011 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch zurück. Eine nach vorn und seitwärts erzwungene Kopfbeugehaltung und das gleichzeitige maximale Anspannen der Nackenmuskulatur führe zu HWS-Veränderungen im Sinne der BK 2109, als typisches Beispiel werde der Fleischträger genannt. Würden Lasten mittels Schultergurt getragen, seien diese Voraussetzungen nicht erfüllt, denn es liege keine außergewöhnliche Zwangshaltung der HWS vor. Das LSG Braunschweig habe mit Urteil vom 24.07.2001 entschieden, dass das Tragen mittels Tragegurten nicht vom Anwendungsbereich der BK 2109 erfasst werde (L 6 U 216/00). Im Widerspruchsausschuss saß als Vertreterin der Arbeitgeberseite wiederum Frau T.

Am 22.7.2011 hat der Kläger vor dem Sozialgericht Aachen Klage erhoben. Er hat die Ansicht vertreten, der Bescheid des Rentenausschusses vom 14.10.2010 lasse nicht erkennen, von welchem Organ er erlassen worden sei. Überdies sei nicht die Bezirksverwaltung X der Beklagten zuständig gewesen. Weiter unterliege die zum Verfahren betreffend die BK 2109 BKVO beigezogene Stellungnahme des Dr. M1 vom 7.6.2005 einem Beweisverwertungsverbot, weil sie unter Verletzung von Vorschriften über die Erhebung von Sozialdaten zu Stande gekommen sei. Da die Ausführungen von Dr. M1 auch die gutachterlichen Äußerungen von Dr. W beeinflusst hätten, erstrecke sich das Beweisverwertungsverbot auch auf dessen Äußerungen. Schließlich sei der Widerspruchsbescheid deshalb aufzuheben, weil die Vertreterin der Arbeitgeber bereits im Rentenausschuss gesessen habe, was zur Rechtswidrigkeit des Widerspruchsbescheides führe.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14.10.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.6.2011 zu verpflichten, die Erkrankung seiner Halswirbelsäule als Berufskrankheit nach Nr. 2109 der Anlage zur BKVO anzuerkennen und ihm hierfür Entschädigung nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu leisten.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat hierzu vorgetragen, der Kläger habe sich mit der Einholung eines Gutachtens von Dr. M1 einverstanden erklärt, dies ergebe sich aus ihrem Schreiben vom 24.3.2005. Hinsichtlich der Zuständigkeit der Bezirksverwaltung X verweise sie auf ihren Fusionsvertrag mit der BG der Keramischen und Glasindustrie zum 1.1.2009 sowie auf die durch Verfügung der Geschäftsführung Nr. 1005 getroffene Entscheidung über die örtliche Zuständigkeit. Die Teilnahme von Frau T an der Entscheidung des Rentenausschusses stelle keinen gesetzlichen Ausschlussgrund dar, an der Entscheidung des Widerspruchsausschusses mitzuwirken, zumal dieser Teil der Verwaltung sei.

Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Orthopäden und Unfallchirurgen Dr. T. In seinem auf einer ambulanten Untersuchung des Klägers beruhenden Gutachten vom 3.9.2013 ist der Sachverständige zu dem Ergebnis gelangt, die beim Kläger vorliegende Symptomatik entspreche nicht dem klinischen Bild einer berufsbedingten Bandscheibenerkrankung. Die nachgewiesenen Veränderungen seien als anlagebedingt einzustufen. Auch sei der Verlauf der Erkrankung mit weiterer Zunahme nach Beendigung der Tätigkeit nicht als belastungskonform zu bewerten.

Mit Urteil vom 4.4.2014 hat das Sozialgericht den Widerspruchsbescheid vom 21.6.2011 aufgehoben und die Klage im Übrigen abgewiesen. Es könne dahingestellt bleiben, ob die arbeitstechnischen Voraussetzungen der streitigen BK nicht gegeben seien, auf jeden Fall lägen die medizinischen nicht vor. Dabei hat sich das Sozialgericht auf die Ausführungen des Dr. T bezogen. Entgegen der Auffassung des Klägers bestehe kein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der beigezogenen Gutachten. Hinsichtlich des Sachverständigen Dr. M1 habe der Kläger sich ausdrücklich mit dessen Beauftragung einverstanden erklärt. Damit sei auch das Gutachten des Dr. W verwertbar. Die Anhörung eines Sachverständigen stehe im Ermessen des Gerichts. Einen Anspruch auf Aufhebung der angefochtenen Bescheide wegen formeller Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheides habe der Kläger nicht. Die Beklagte habe von ihrem Recht Gebrauch gemacht, laufende Verwaltungsgeschäfte besonderen Ausschüssen zu übertragen, es bestünden keine Zweifel, dass die Entscheidung des Rentenausschusses als Geschäft der laufenden Verwaltung anzusehen sei. Es sei auch aus dem im Gerichtsverfahren vorgelegten Protokoll über die Sitzung des Rentenausschusses ersichtlich, in welcher Besetzung entschieden worden sei. Auch die Bezirksverwaltung X sei örtlich zuständig gewesen, dies ergebe sich aus der Verfügung 1005 der Geschäftsführung der Beklagten. Der Widerspruchsbescheid sei dagegen formell rechtswidrig gewesen, weil er unter Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften zustande gekommen sei, diese resultiere aus der Mitwirkung der Arbeitgebervertreterin T an der Entscheidung des Renten- als auch des Widerspruchsausschusses.

Das Urteil wurde dem Bevollmächtigten des Klägers am 5.6.2014 zugestellt. Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers vom 7.7.2014. Die Beklagte hat kein Rechtsmittel eingelegt.

Der Senat hat das Verfahren zunächst ausgesetzt bis zum erneuten Abschluss des Vorverfahrens durch den Widerspruchsausschuss der Beklagten, der dann unter Mitwirkung bisher nicht befasster Ausschussmitglieder den der Sache nach mit dem Bescheid vom 21.06.2011 inhaltsgleichen Widerspruchsbescheid vom 16.9.2014 erlassen hat.

Zur Begründung der Berufung trägt der Kläger vor, die Voraussetzungen für ein Sachurteil hätten nicht vorgelegen. Das Sozialgericht habe den Widerspruchsbescheid aufgehoben, damit sei das Vorverfahren nicht abgeschlossen gewesen, so dass eine Klageabweisung nur durch Prozessurteil hätte erfolgen können. Durch die inhaltlichen Ausführungen sei in dem nachzuholenden Widerspruchsverfahren eine Bindung der Beklagten an diese Ausführungen erzeugt worden. Das Verfahren sei daher in die erste Instanz zurückzuverweisen. Im Übrigen sei auch der Widerspruchsbescheid vom 16.9.2014 formell rechtswidrig, denn es sei sein gesetzlicher Anspruch auf Akteneinsicht und damit rechtliches Gehör im Widerspruchsverfahren verletzt worden. Er habe am 20.8.2014 Akteneinsicht beantragt und mitgeteilt, danach weiter vortragen zu wollen. Die Beklagte habe den Widerspruch jedoch ohne Durchführung der Akteneinsicht beschieden. Es könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass eine durchgeführte Akteneinsicht den Inhalt des Widerspruchsbescheides nicht hätte beeinflussen können. Im Übrigen halte er an seiner Auffassung fest, dass die Bezirksverwaltung X unzuständig und auch der Rentenausschuss satzungsrechtlich nicht das richtige Organ sei. Inhaltlich überzeugten die Ausführungen des Sachverständigen nicht. Insofern wiederholt der Kläger sein Vorbringen aus dem erstinstanzlichen Verfahren.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 4.4.2014 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14. 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides 16.9.2014 zu verurteilen, die Erkrankung seiner Wirbelsäule als BK nach Ziffer 2109 der Anl. 1 zur BKVO anzuerkennen und hierfür Verletztenrente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen

Die Beklagte sieht die von ihr im wiederholten Vorverfahren zunächst unterlassene, zwischenzeitlich parallel zum fortgesetzten Berufungsverfahren aber nachgeholte Gewährung von Akteneinsicht als nach § 41 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) geheilt an. Hinsichtlich der ansonsten gerügten Verfahrensfehler verweist sie auf die Ausführungen in der erstinstanzlichen Entscheidung. Die Zuständigkeit der Bezirksverwaltung X ergebe sich aus der von ihrer Geschäftsführung erlassenen Verfügung 1005, insbesondere aus deren § 1. In der Sache trägt sie vor, schon die arbeitstechnischen Voraussetzungen der streitigen BK seien nicht gegeben, unabhängig davon aber auch die arbeitsmedizinischen nicht. Der erstinstanzlich gehörte Sachverständige habe letzteres mit einem nicht belastungskonformen Verlauf der Erkrankung und der Röntgendiagnostik von 1987-2009 begründet. Soweit der Kläger sich auf eine Stellungnahme des Dr. W in dem Verfahren wegen der Berufskrankheit nach Ziffer 2108 beziehe (Stellungnahme vom 8.5.2012), in der dieser ausgeführt habe, dass das Schadensbild an der HWS gegen eine berufliche Verursachung spreche, könne er hieraus nichts herleiten. Die Beurteilung der Bildbefunde durch Dr. W habe nämlich ergeben, dass eine die Altersnorm übersteigende Veränderung nur im Segment C 6/7 und nicht in den oberen Segmenten vorliege. Dies sei jedoch bei einer langjährigen Einwirkung im Sinne der BK 2109 zu erwarten gewesen.

Der Senat hat zur Frage, ob das Tragen von Lasten mit Schultergurten hinsichtlich der biomechanischen Belastung beim Tragevorgang vergleichbar sei mit dem Tragen von Lasten auf der Schulter als Fleischträger, bei denen es zu einer nach vorn und seitwärts erzwungenen Kopfbeugehaltung bei gleichzeitigem Anspannen der Nackenmuskulatur komme, die ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. T vom 30.7.2017 eingeholt. Wegen der Ausführungen im Einzelnen wird auf deren Inhalt verwiesen.

Wegen der weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten sowie der Akte des SG Aachen aus dem Verfahren S 10 (14) 459/06 / L 15 U 203/07 LSG NRW, die der Senat beigezogen hat und deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, sowie auf den Vortrag der Beteiligten im Übrigen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben, aber unbegründet.

Streitgegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 14.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.9.2014, mit dem die Beklagte die Anerkennung der streitigen HWS-Erkrankung des Klägers als BK 2109 abgelehnt hat. Im Ergebnis zu Recht hat das Sozialgericht den angefochtenen Bescheid bestätigt, denn dieser ist nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten nach § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Ein Vorverfahren als notwendige Prozessvoraussetzung (§ 78 Abs. 3 SGG) ist ordnungsgemäß durchgeführt. Die Tatsache, dass der Widerspruchsbescheid vom 16.9.2014 erst nach Aussetzung (§ 114 Abs. 2 SGG) des Berufungsverfahrens erteilt wurde, ist unschädlich. Der Mangel des fehlenden Vorverfahrens, der durch die Aufhebung des ursprünglichen Widerspruchsbescheides vom 21.6.2011 mit der von der Beklagten nicht angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung entstanden ist, kann im gerichtlichen Verfahren bis zur letzten Tatsacheninstanz, damit also auch noch im Berufungsverfahren geheilt werden (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG 12. Aufl. 2017, § 78 Rn. 3). Die Beklagte hat das Widerspruchsverfahren nachgeholt und nunmehr einen Widerspruchsbescheid erteilt, an dem Frau T nicht mehr beteiligt war. Der vom Sozialgericht wegen deren Beteiligung am Erlass des Widerspruchsbescheides vom 21.6.2011 angenommene Verfahrensmangel ist damit geheilt. Die örtliche Zuständigkeit der Bezirksverwaltung X, deren Widerspruchsausschuss den Widerspruchsbescheid vom 16.9.2014 erlassen hat, ergibt sich aus § 6 Ziff. 3 des Fusionsvertrages (Fassung 27.11.2006) der BG Glas/Keramik und der Verwaltungs-BG i.V.m. der von der Beklagten im Berufungsverfahren vorgelegten Verfügung VBG 1005 der Geschäftsführung der Beklagten, die die Zuständigkeiten der Bezirksverwaltungen regelt und aus deren Ziff. 1 sich die zentrale Zuständigkeit der Bezirksverwaltung X für die Bearbeitung von Berufskrankheiten aus der Branche Glas/Keramik ergibt, in der der Kläger seine letzte versicherte Beschäftigungszeit zurückgelegt hat. Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit dieser Regelung ergeben sich nicht und sind vom Kläger auch nicht vorgetragen worden.

Soweit der Kläger bezogen auf das erstinstanzliche Verfahren prozessuale Bedenken äußert und hieraus einen Anspruch auf Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht ableiten will, folgt der Senat dem nicht. Die Aufhebung und Zurückverweisung einer erstinstanzlichen Entscheidung durch das Berufungsgericht steht in dessen Ermessen und richtet sich zunächst tatbestandlich nach § 159 Abs. 1 SGG. Danach setzt eine Aufhebung und Zurückverweisung voraus, dass das Sozialgericht die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden (Nr. 1), und/oder das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und aufgrund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme (Nr. 2) notwendig ist. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

Zutreffend ist zwar der Einwand des Klägers, dass das Sozialgericht, wenn es isoliert den Widerspruchsbescheid aufhebt, im Übrigen nur ein Prozessurteil hätte erlassen dürfen, weil das Vorverfahren nicht beendet war und es damit an einer Zulässigkeitsvoraussetzung der Klage gemangelt hat. Es hat aber dessen ungeachtet auch in der Sache entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung der BK 2109 habe. Auch der Kläger rügt ausdrücklich, dass das Sozialgericht in der Sache entschieden habe. Damit sind die Voraussetzungen des § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG ersichtlich nicht gegeben. Auch das Vorliegen der weiteren in Nr. 2 genannten Voraussetzungen des § 159 SGG lässt sich nicht feststellen. Dass aufgrund eines wesentlichen Mangels eine umfangreiche Beweisaufnahme notwendig wird, ist weder ersichtlich noch vom Kläger vorgetragen. Das Sozialgericht hat vielmehr von Amts wegen durch Einholung des Gutachtens des Dr. T eine Beweisaufnahme durchgeführt. Deren Ergebnis ist auch aus der Sicht des Senats eindeutig, weiterer Ermittlungen bedurfte es daher nicht.

Zu einer abweichenden Beurteilung führt auch nicht der Hinweis des Klägers, die Beklagte habe gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen, weil ihm keine Akteneinsicht gewährt worden sei. Denn die Beklagte hat die Akteneinsicht zwischenzeitlich gewährt, womit auch dieser Mangel nach § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X geheilt worden ist. Die Vorschrift stellt zwar auf die Anhörung eines Beteiligten ab, damit also primär auf § 24 SGB X. Da die in ihr normierte Heilungsmöglichkeit aber auf die Nachholung rechtlichen Gehörs gerichtet ist, ist sie von diesem Sinn und Zweck her auf jegliche weitere Verfahrensvorschrift zu erstrecken, die ebenfalls der Gewährung rechtlichen Gehörs dient. Dazu gehört das Recht auf Akteneinsicht, da dieses Voraussetzung für weiteren Vortrag ist und damit auch für die sachgerechte Gewährung und Ausübung rechtlichen Gehörs. Die Beklagte hat die Akteneinsicht durch eigenständiges Verwaltungshandeln außerhalb des Berufungsverfahrens bewerkstelligt und war nicht - entgegen der Ansicht des Klägers auch nicht durch das erstinstanzliche Urteil - gehindert, beachtlichen Sachvortrag des Klägers noch in dessen Sinne zu berücksichtigen. Solcher Vortrag ist aber ausgeblieben.

In der Sache hat das Sozialgericht im Ergebnis zu Recht einen Anspruch des Klägers auf Feststellung einer BK 2109 verneint, denn es liegen bereits die dafür erforderlichen sog. "arbeitstechnischen Voraussetzungen" nicht vor.

Nach § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII sind Berufskrankheiten nur diejenigen Krankheiten, die durch die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als solche bezeichnet sind (Listen-BK) und die der Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den § § 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleidet. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist für die Feststellung einer Listen-BK erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und diese Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Nicht erforderlich ist, dass die berufsbedingte Erkrankung gegebenenfalls den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität). Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (BSG, Urteil vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - Juris- Rn 12 mwN).

In der Anl. 1 zur BKVO ist durch die 2. ÄndVO vom 18.12.1992 (BGBl I 2343) unter Nr. 2109 die hier streitige BK eingefügt worden und dort noch aktuell wie folgt bezeichnet worden: "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können".

Die Erfüllung des Tatbestandes der BK 2109 setzt voraus, dass eine versicherte Person den dort aufgezeigten beruflichen Einwirkungen ausgesetzt war. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, ist der Tatbestand der BK 2109 nicht erfüllt. Die im Tatbestand enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe sind durch die Versicherungsträger und Gerichte unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien sowie des vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen Merkblatts für die ärztliche Untersuchung zur BK 2109 (BArbBl 3/1993, S. 53) näher zu konkretisieren. Dabei kommt den Merkblättern zwar keine rechtliche Verbindlichkeit zu, sie sind allerdings als Interpretationshilfe und zur Wiedergabe des bei seiner Herausgabe aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes heranzuziehen (BSG a.a.O, Juris-Rn. 14 mwN).

Nach diesen Vorgaben (zu den Änderungen durch die wissenschaftliche Stellungnahme zur BK 2109 vom 1.12.2016 -Bek. d. BMAS v. 1.12.2016 - IVa 4-45222-2109- GMBl.- 31.01.2017, S. 29 ff.- vgl. unten) muss das Tragen schwerer Lasten auf der Schulter mit einer nach vorn und seitwärts erzwungen Kopfbeugehaltung und gleichzeitiger maximaler Anspannung der Nackenmuskulatur zu einer Hyperlordosierung und auch zu einer Verdrehung der HWS führen (BR-Drucks 773/92 S. 8 ff.). Dies wurde bei Schaffung des BK -Tatbestandes z.B. für Fleischträger sowie für Träger von Säcken mit entsprechendem Gewicht angenommen. Diese Voraussetzung einer Zwangshaltung erschließt sich auch aus dem Merkblatt zur BK 2109 (a.a.O.), das in Abschnitt I als berufliche Gefahrenquelle "fortgesetztes Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, einhergehend mit einer statischen Belastung der zervikalen Bewegungssegmente und außergewöhnlicher Zwangshaltung der HWS" bezeichnet (vgl. auch Schönberger/Mehrtens/Valentin -S/M/V-, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S 529).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Im Widerspruchsverfahren hat der Kläger angegeben, schwere Lasten getragen zu haben. Dies sei aber mithilfe von Schulter- und Kreuzgurten erfolgt. Sie seien über die Schultern gelegt und die Lasten so mittig vor dem Körper angehoben und transportiert worden. Durch die hohe Belastung seien die Verrichtungen in vorgebeugter Haltung ausgeführt worden. Dieser so beschriebene Tragevorgang lässt keine erzwungene Kopfbeugehaltung bei gleichzeitiger maximaler Anspannung der Nackenmuskulatur erkennen, vielmehr eine Beanspruchung der Lendenwirbelsäule durch die nach vorne erfolgte Beugehaltung. Eine solche wird aber vom Tatbestand der BK 2109 nicht erfasst. Auch die Auskunft des Arbeitgebers des Klägers vom 4.2.2011 enthält keine Hinweise auf Tragevorgänge, die die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 2109 erfüllen. Dort wird lediglich beschrieben, dass der Kläger in den Jahren von 1977-1994 jeweils mit einem Kollegen händig Glas getragen und auf die entsprechenden Maschinen gelegt habe. Die Belastung habe sich ab 1994 um 50 % reduziert, da von diesem Zeitpunkt an entlastende Maschinen eingesetzt worden seien.

Davon, dass das Tragen von Lasten mit Schultergurten die arbeitstechnischen Voraussetzungen der streitigen BK 2109 nicht erfüllt, ist der Senat auch aufgrund der ergänzenden Auskunft des Orthopäden Dr. T vom 30.7.2017 überzeugt. Der Sachverständige hat ausgeführt, dass die biomechanische Belastung beim Tragen mit Schultergurten nicht vergleichbar sei mit den Tragevorgängen, wie sie ein Fleischträger absolviere. Das Tragen von Gegenständen mit Schultergurten entspreche einem vollständig anderen Belastungsprofil. Hierbei komme es im Bereich der HWS zu Belastungen ohne Rotationskomponente des Kopfes und einseitiger Anspannung der Schulter- und Nackenmuskulatur. Der Senat hat keine Anhaltspunkte, den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen nicht zu folgen. Sie beruhen auf einer zutreffenden Berücksichtigung der beschriebenen Tragevorgänge und einer Auswertung der medizinischen Befunde.

Durch die neue wissenschaftliche Stellungnahme zur BK 2109 vom 1.12.2016 (Bek. d. BMAS v. 1.12.2016, a.a.O.) sieht sich der Senat in seiner Rechtsauffassung bestätigt, denn auch dort wird weiter vorausgesetzt, dass der Tragevorgang zu einer Kopfbeugehaltung nach vorne oder seitwärts oder zu einer Verdrehung der HWS geführt hat. Es heißt dort, dies sei beim Tragen von Tierkörperteilen und Säcken sowie Balken, Rohren, Baumstämmen, Schläuchen, Kabeln oder Lasten auf der Schulter oder über der Schulter mit Beteiligung des Rückens der Fall (S. 4 oben). Daraus ergibt sich zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen keine grundlegende Änderung, denn auch die Erwähnung der dort genannten Gegenstände setzt die entsprechende Zwangshaltung des Kopfes, maximale Anspannung der Nackenmuskulatur oder Verdrehung der HWS voraus (a.a.O. Nr. 1), was aber beim Tragen mit Schultergurten, wie ausgeführt, nicht der Fall ist. Vielmehr verdeutlicht die genannte wissenschaftliche Stellungnahme, dass es beim Tragen einer schweren Last auf der Schulter (unabhängig von der Art der getragenen Last und der Größe der Auflagefläche auf der Schulter) zu einer Elevation der Schulter und zur Seitneigung des Oberkörpers zur anderen Seite und dadurch zu einer einseitig deutlich erhöhten Druckbelastung auf die Bandscheiben der HWS komme, so dass weiterhin nur einseitig auf der oder über die Schulter getragene Lasten die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 2109 erfüllen. Daran fehlt es hier.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Revisionszulassungsgründe sind nicht gegeben (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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