L 6 AS 59/18 B ER

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Kiel (SHS)
Aktenzeichen
S 28 AS 56/18 ER
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 59/18 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Der Leistungsausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. b SGB II begegnet weder verfassungs- noch europarechtlichen Bedenken.
2. Gesetzeszweck und Gesetzesbegründung legen nahe, dass die in § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II formulierte Rückausnahme vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht nur eine einmalige Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde voraussetzt (§ 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II), sondern ein durchgehendes Gemeldetsein im Bundesgebiet für die Dauer von mindestens fünf Jahren.
3. Im Rahmen der bei der Entscheidung nach § 86b Abs. 2 SGG zu treffenden Folgenabwägung kann berücksichtigt werden, dass die um Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nachsuchende Person bisher kein Daueraufenthaltsrecht erworben hat und dass ihr gegenüber die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in Betracht kommt.
4. Ein Härtefall, der es rechtfertigen würde, Überbrückungsleistungen für mehr als einen Monat zu erbringen (§ 23 Abs. 3 Satz 6 Halbsatz 2 SGB XII), ist trotz erheblicher chronischer Erkrankungen nicht anzuerkennen wenn Reisefähigkeit besteht.
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 21. März 2018 wird zurückgewiesen. Auf die Beschwerde der Beigeladenen wird der Beschluss geändert und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung insgesamt abgelehnt. Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes über die vorläufige Zahlung existenzsichernder Leistungen.

Der am. 1959 geborene Antragsteller ist polnischer Staatsangehöriger. Er war zwischen dem 14. und 20. November 2012 und dem 28. November und 6. Dezember 2012 in D gemeldet, in der Zeit vom 20. bis 28. November 2012 in M. Zum 6. Dezember 2012 wurde er als nach unbekannt verzogen vom Oberbürgermeister der Stadt D von Amts wegen abgemeldet. In den letzten Jahren hat sich der obdachlose Antragsteller in K aufgehalten und hat im November 2013 dort eine Verkaufserlaubnis für das Straßenmagazin "H " erhalten. Seit März 2017 ist für ihn eine Betreuerin bestellt.

Einen ersten Antrag auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 21. August 2017 und Widerspruchsbescheid vom 11. Dezember 2017 mit der Begründung ab, dass der Antragsteller über kein Aufenthaltsrecht verfüge.

Zwischen dem 13. Januar und dem 1. März 2018 befand sich der Antragsteller wegen einer akuten Thrombose und einer beginnenden Pneumonie in stationärer Krankenhausbehandlung. Aus dieser wurde er in chronisch reduziertem Allgemeinzustand mit den Diagnosen Alkohol-Intoxikation, dekompensierte Leberzirrhose, Herzinsuffizienz, Coxarthrose beidseitig sowie Zustand nach Gelenkspunktationen im Bereich der linken Hüfte entlassen.

Bereits am 19. Januar 2018 hatte der Antragsteller sowohl einen neuen Antrag auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen beim Antragsgegner als auch einen Antrag auf Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt bei der Beigeladenen gestellt und zur Begründung vorgetragen, dass er sich seit mehr als sieben Jahren in Deutschland aufhalte, davon über fünf Jahre in K.

Die Beigeladene lehnte den Antrag mit Bescheid vom 2. Februar 2018 mit der Begründung ab, dass der Antragsteller dem Grunde nach zum leistungsberechtigten Personenkreis der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende gehöre. Soweit er nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) von diesen Leistungen ausgeschlossen sei, bestehe seit dem 29. Dezember 2016 auch kein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt mehr. Der Antragsgegner entschied über den bei ihm gestellten Antrag zunächst nicht.

Am 4. März 2018 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Kiel um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht, gerichtet auf die Zahlung laufender Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II. Er hat insbesondere eidesstattliche Versicherungen von zwei Mitarbeitern des Straßenmagazins H beigebracht. Danach sei der Antragsteller diesen Mitarbeitern seit Ende 2012 bekannt und fast täglich bei H im Café gewesen.

Mit Beschluss vom 5. März 2018 hat das Sozialgericht die Landeshauptstadt Kiel beigeladen und diese mit Beschluss vom 21. März 2018 unter Ablehnung des Antrags im Übrigen dazu verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum vom 4. März bis 30. Mai 2018, längstens jedoch bis zu seiner Ausreise aus Deutschland, vorläufig Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege und zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände zu erbringen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Antragsteller gegen den Antragsgegner keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht habe. Er sei nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen. Die Voraussetzungen der Rückausnahme vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB II lägen nicht vor, weil seit der ersten Meldung in D im November 2012 ein ohne wesentliche Unterbrechungen fortbestehender Aufenthalt in Deutschland nicht glaubhaft gemacht sei. Dabei sei zwar an der Glaubwürdigkeit der Mitarbeiter von H nicht zu zweifeln. Es sei hingegen immer von Urlaubs- und Krankheitszeiten dieser Mitarbeiter auszugehen, so dass ein lückenloser Aufenthalt des Antragstellers kaum glaubhaft bestätigt werden könne. Es bestehe aber ein Anspruch auf Überbrückungsleistungen gegen die Beigeladene nach § 23 Abs. 3 Satz 3 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII), wobei allerdings von einem Härtefall i.S.d. § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII ausgegangen werden müsse. Dem Antragsteller sei angesichts der multiplen gesundheitlichen Einschränkungen die Ausreise für einen Zeitraum von voraussichtlich drei Monaten nicht zuzumuten.

Gegen diesen Beschluss haben sowohl der Antragsteller am 23. März 2018 als auch die Beigeladene am 26. März 2018 Beschwerde beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingelegt.

Der Antragsteller macht weiterhin gegenüber dem Antragsgegner einen Leistungsanspruch nach dem SGB II aufgrund eines mehr als fünfjährigen ununterbrochenen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet geltend. Dieser sei bereits durch die eidesstattlichen Versicherungen hinreichend glaubhaft gemacht. Ergänzend hat er zusätzlich eine Liste der Landespolizei über 27 Polizeieinsätze zwischen Januar 2013 und Juli 2017 beigebracht, die mit seiner Person in Zusammenhang standen, und die damit ebenfalls geeignet sei, seinen fortwährenden Aufenthalt in Kiel zu dokumentieren.

Er beantragt,

1. den Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 21. März 2018 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu gewähren, 2. die Beschwerde des Beigeladenen zurückzuweisen.

Der Antragsgegner beantragt,

die Beschwerde des Antragstellers zurückzuweisen.

Er nimmt auf den erstinstanzlichen Beschluss Bezug.

Die Beigeladene beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 21. März 2018 zu ändern und den Antrag – soweit er sich gegen sie richtet – insgesamt abzulehnen.

Sie trägt vor, dass dem Antragsteller auch unter Berücksichtigung seiner Erkrankungen die sofortige Ausreise zuzumuten sei, so dass ein Härtefall i.S. des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII nicht bestehe. Zum Nachweis der Reisefähigkeit hat sie eine amtsärztliche Stellungnahme der Städtischen Medizinaldirektorin Dr. B vom 5. April 2018 vorgelegt, nach der Reisefähigkeit gegeben sei, sofern darunter die Transportfähigkeit verstanden werde.

Der Antragsteller wendet dagegen ein, dass die Stellungnahme den methodischen Anforderungen an medizinische Gutachten bzw. gutachterliche Stellungnahmen nicht genüge.

Dem Senat haben die Leistungsakten des Antragsgegners vorgelegen. Auf diese Akten und auf die Gerichtsakte wird wegen des der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalts und der Einzelheiten des Beteiligtenvorbringens ergänzend Bezug genommen.

II.

Während die Beschwerde des Antragstellers keinen Erfolg hat, führt die Beschwerde der Beigeladenen zur Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung und zur Ablehnung des Antrags auf einstweilige Anordnung insgesamt.

Die Beschwerde des Antragstellers ist form- und fristgerecht erhoben worden (§ 173 Satz 1 SGG), statthaft (vgl. § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG) und auch im Übrigen zulässig. Sie ist aber nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den gegen den Antragsgegner gerichteten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

Gemäß § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung treffen, wenn diese Regelung notwendig ist, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Erforderlich ist grundsätzlich zum einen das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Notwendigkeit einer Eilentscheidung, und zum anderen ein Anordnungsanspruch, also ein rechtlicher Anspruch auf die begehrte Maßnahme. Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sind Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen. Namentlich der materielle Anspruch kann vom Gericht aufgrund einer lediglich summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage festgestellt werden, sofern das Gericht nicht wegen zu erwartender schwerer oder unzumutbarer Nachteile im Hinblick auf Grundrechte der Betroffenen, vor die sich die Gerichte schützend und fördernd stellen müssen, entweder zu einer vollintensivierten Prüfung oder zu einer Folgenabwägung gehalten ist, in die die grundrechtlichen Belange umfassend einzustellen sind (dazu und zu den Anforderungen insbesondere BVerfG, Beschluss vom 6. Februar 2007 – 1 BvR 3101/06; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05NVwZ 2005, 927).

Daran gemessen hat der Antragsteller keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Soweit tatsächliche und rechtliche Unsicherheiten verbleiben, fällt die ergänzend zu treffende Folgenabwägung zu seinen Lasten aus.

Der Antragsteller hat schon dem Grunde nach keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II, weil er gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. b SGB II von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen ist. Er verfügt – dies dürfte zwischen den Beteiligten unstreitig sein – nicht über eine materielle Freizügigkeitsberechtigung, zumindest aber nicht über ein über das Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche hinausgehendes Aufenthaltsrecht. Grundsätzlich Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieses Leistungsausschlusses hegt der Senat mit der ganz herrschenden Rechtsprechung nicht (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. August 2017 – L 6 AS 783/17 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 19. Mai 2017 – L 11 AS 247/17 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Februar 2017 – L 23 SO 30/17 B ER; vgl. auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 2. August 2017 – L 8 SO 130/17 B ER, jeweils juris); er sieht insoweit auch keine durchgreifenden europarechtlichen Bedenken, die einer Anwendung der Ausschlussregelung entgegenstehen könnten (vgl. dazu den Senatsbeschluss vom 17. Februar 2017 – L 6 AS 11/17 B ER, juris).

Der Antragsteller hat auch nach Ansicht des Senats die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II für eine Rückausnahme vom Leistungsausschluss nicht hinreichend glaubhaft gemacht hat. Nach dieser Vorschrift erhalten Ausländerinnen und Ausländer abweichend von § 7 Abs. 2 Satz 2 SGB II Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Dabei zweifelt der Senat bereits daran, ob – ungeachtet der Frage der Glaubhaftmachung eines tatsächlich ohne wesentliche Unterbrechungen bestehenden fünfjährigen Aufenthalts in Deutschland – die rechtlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind. Denn die Frist nach Satz 4 beginnt gemäß § 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Dieser Meldung kommt nach dem Willen des Gesetzgebers konstituierende Wirkung zu; mit ihr dokumentiere der Betroffene seine Verbindung zu Deutschland, die Voraussetzung für eine Aufenthaltsverfestigung sei (BT-Drucks. 18/10211, S. 14). Vor diesem Hintergrund und in Ansehung dieses Regelungszwecks ist die Auffassung des Sozialgericht, dass nach der ersten Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde spätere Umzüge in Deutschland auch ohne Ummeldung unschädlich seien, wenn der fortbestehende Aufenthalt im Inland nachgewiesen werde, zumindest für den hier vorliegenden Fall in Zweifel zu ziehen. Denn hier fehlt es nicht nur an der melderechtlich erforderlichen Ummeldung des Antragstellers; vielmehr ist er seit der Abmeldung (als unbekannt verzogen) durch den Oberbürgermeister der Stadt D mit Wirkung vom 6. Dezember 2012 soweit ersichtlich überhaupt nicht mehr in Deutschland gemeldet gewesen. An der – vom Gesetzgeber unterstellten – Indizwirkung der Anmeldung für die Aufenthaltsverfestigung fehlt es deshalb. Es spricht im Übrigen viel dafür, dass das Gesetz für das Vorliegen der tatbestandlich eng gehaltenen Rückausnahme des § 7 Abs. 1 Sätze 4 und 5 SGB II nicht nur eine einmal erfolgte Anmeldung bei der (damals) zuständigen Behörde genügen lassen wollte, sondern fortwährende (und überdies melderechtskonforme) Anmeldungen während der gesamten Dauer der Fünfjahresfrist voraussetzt.

Dessen ungeachtet folgt der Senat jedenfalls der Einschätzung des Sozialgerichts, dass der Antragsteller einen im Wesentlichen ununterbrochenen Aufenthalt im Bundesgebiet über den vollen Zeitraum von fünf Jahren nicht glaubhaft gemacht hat. Soweit der Antragsteller sich auf die eidesstattlichen Versicherungen der Mitarbeiter des Straßenmagazins H beruft, zieht auch der Senat deren Glaubwürdigkeit nicht in Zweifel. Ebenso wie das Sozialgericht geht aber der Senat nach seiner Erfahrung davon aus, dass eine verlässliche Zeugenaussage darüber, ob eine zwar bekannte aber dennoch letztlich fremde Person über einen genau umrissenen Zeitraum von fünf Jahren ohne größere Unterbrechungen immer wieder gesehen worden ist, ohne schriftliche Aufzeichnungen dazu nahezu unmöglich ist. Auch der Senat gibt im Übrigen zu bedenken, dass nicht einmal die Zeugen selbst im maßgeblichen Zeitraum durchgehend im H Café anwesend gewesen sein dürften, so dass ihnen eine verbindliche Aussage über regelmäßige Besuche im gesamten maßgeblichen Zeitraum aus eigener Anschauung gar nicht möglich sein dürfte. Erschwerend kommt nach Ansicht des Senats hinzu, dass die Voraussetzungen für einen gewöhnlichen, also nicht nur vorübergehenden Aufenthalt (vgl. § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch [SGB I]) zugunsten einer obdachlosen Person tatsächlich schwerer glaubhaft zu machen sind als für eine sesshafte Person, die allein durch Vorhalten einer Wohnung regelmäßig die Zukunftsoffenheit ihres Aufenthalts (dazu Lilge, SGB I, 4. Aufl. 2016, § 30 Rn. 57 f. m.w.N.) zu dokumentieren vermag. Insoweit sind letztlich auch die beigebrachten Einsatzdokumentationen der Polizei nur von begrenztem Beweiswert.

Soweit Zweifel bleiben, spricht auch eine insoweit ergänzend vorzunehmende Folgenabwägung gegen den Antragsteller. Dabei berücksichtigt der Senat einerseits wesentlich die fehlenden familiären und materiellen Bindungen des Antragstellers an seinen jetzigen Aufenthaltsort. Wenngleich er sich auch hier einen Freundes- und Bekanntenkreis und insbesondere bei den Anlaufstellen für Obdachlose ein vertrautes Umfeld geschaffen haben mag, kommt dem doch eine weniger große Bedeutung zu als etwa eine familiäre, durch das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in besonderer Weise dem staatlichen Schutzauftrag unterfallende Beziehung.

Ferner ist nach Ansicht des Senats im Rahmen der Folgenabwägung zulasten des Antragstellers zu berücksichtigen, dass sein aufenthaltsrechtlicher Status nicht gesichert ist, was unmittelbare rechtliche Folgewirkungen auch für den Grundsicherungsanspruch selbst dann haben könnte, wenn zu seinen Gunsten ein fünfjähriger gewöhnlicher Aufenthalt i.S. des § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II glaubhaft gemacht wäre. Denn diese Rückausnahme vom Leistungsausschluss greift gemäß § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 2 SGB II nur, solange der Verlust des Aufenthaltsrechts nach § 2 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) nicht festgestellt ist. Eine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU mit der Folge der Ausreisepflicht (§ 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU) und der weiteren unmittelbaren Folge des Wegfalls des ggf. bestehenden Anspruchs auf Grundsicherungsleistungen wäre der Ausländerbehörde der Beigeladenen aber mit hoher Wahrscheinlichkeit jederzeit möglich, weil zugunsten des Antragstellers ein Recht auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU mangels Vorliegen der weiteren Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU offensichtlich nicht besteht und während der Dauer seines Aufenthalts in Deutschland kaum jemals bestanden haben dürfte. Deshalb ist aber auch nahezu ausgeschlossen, dass der Antragsteller ein Daueraufenthaltsrecht erworben haben könnte, für dessen Entstehen § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU – anders als § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II (dazu LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. April 2017 – L 15 SO 353/16 B ER, juris) – die Rechtmäßigkeit des fünfjährigen (gewöhnlichen) Aufenthalts voraussetzt. Rechtmäßig in diesem Sinne ist aber nur ein Aufenthalt, der auf Freizügigkeit beruht (dazu Dienelt in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 4a FreizügG/EU Rn. 9); ein (rechtmäßiger) Aufenthalt, der lediglich auf der Freizügigkeitsvermutung beruht, ist insoweit nicht anrechnungsfähig (Dienelt, a.a.O., § 4a FreizügG/EU Rn. 16). Betriebe aber die Ausländerbehörde der Beigeladenen nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU wegen des unrechtmäßigen weil nicht freizügigkeitsberechtigten Aufenthalts (vgl Dienelt, a.a.O., § 5 FreizügG/EU Rn. 52) die Verlustfeststellung, würde auch deren Anfechtung am unmittelbaren Wegfall der ggf. zuvor noch bestehenden Leistungsberechtigung nach Maßgabe des § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 2 SGB II nichts ändern, weil Widerspruch und Anfechtungsklage insoweit keine aufschiebende Wirkung entfalten würden (vgl. LSG Hamburg, Beschluss vom 28. September 2017 – L 4 SO 55/17 B ER, juris).

Die Beschwerde der Beigeladenen hat dagegen Erfolg. Sie ist zulässig. Auch sie ist form- und fristgerecht erhoben worden und überdies statthaft. Insbesondere liegt der Ausschlussgrund des § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG nicht vor. Die Berufung in der Hauptsache bedürfte nicht der Zulassung, weil der Wert des Beschwerdegegenstands 750,00 EUR übersteigt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Zwar beträgt der Wert der Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege nach § 23 Abs. 3 Satz 5 Nr. 1 SGB XII in der Regelbedarfsstufe 1 nur etwas mehr als 186,00 EUR monatlich (vgl. Groth in: BeckOK Sozialrecht, 48. Edition, § 23 Rn. 17d.1; Schwabe, ZfF 2018, 1, 14), so dass sich bei einem Verpflichtungszeitraum von knapp drei Monaten insoweit lediglich ein Beschwerdewert von knapp 550,00 EUR ergibt. Das Sozialgericht hat die Beigeladene darüber hinaus jedoch auch zur Gewährung von Leistungen zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände (§ 23 Abs. 3 Satz 5 Nr. 3 SGB II) verpflichtet, ohne diese Verpflichtung zu konkretisieren. Angesichts des Verpflichtungszeitraums von knapp drei Monaten und der zweifellos erheblichen und chronischen internistischen Erkrankungen des Antragstellers ist das Eintreten von Akutbehandlungsfällen innerhalb dieses Zeitraums bei Beschwerdeerhebung wahrscheinlich gewesen; ebenso wahrscheinlich ist es gewesen, dass der Wert der zu erbringenden Leistungen einen Betrag von noch ca. 200,00 EUR überschreitet. Da maßgeblicher Zeitpunkt für die Wertberechnung der Zeitpunkt der Erhebung der Beschwerde ist (vgl. Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 114 Rn. 19 m.w.N.), kommt es für die Statthaftigkeit nicht darauf an, ob letztlich überhaupt Leistungen für Akutbehandlungen abgerechnet worden sind, was – dies hat eine telefonische Nachfrage bei der Beigeladenen ergeben – bisher offenbar nicht der Fall ist.

Die Beschwerde der Beigeladenen ist auch begründet. Nach den inzwischen vorliegenden Erkenntnissen sind die Voraussetzungen für die Gewährung von Überbrückungsleistungen über die Dauer von einem Monat hinaus (§ 23 Abs. 3 Satz 6 Halbsatz 2 SGB XII) nicht erfüllt. Die Gewährung von Überbrückungsleistungen für die Dauer von bis zu einem Monat dürfte zwischen den Beteiligten nicht in Streit stehen, so dass es einer einstweiligen Anordnung insoweit von vornherein nicht bedurft hat. Es kann daher in diesem Verfahren offen bleiben, ob diese – in dieser Form vom Antragsteller zunächst gar nicht begehrten – Leistungen bereits seit dem 19. Januar 2018 zu zahlen gewesen wären, oder ob die Monatsfrist von der tatsächlichen Aufnahme der Zahlungen bzw. dem Beginn des Verpflichtungszeitraums der einstweiligen Anordnung des Sozialgerichts an gelaufen ist. Der Senat geht angesichts der gutachterlichen Stellungnahme von Frau Dr. B nicht von einem besonderen Härtefall i.S. des § 23 Abs. 3 Satz 6 Halbsatz 2 SGB XII aus. Richtig ist, dass krankheitsbedingte Reiseunfähigkeit generell einen solchen Härtefall zu begründen geeignet ist (vgl. Groth, a.a.O, § 23 Rn. 18b). Die Ärztin Dr. B ist allerdings nach Vorstellung des Antragstellers bei ihr am 5. April 2018 von Reisefähigkeit im Sinne von Transportfähigkeit ausgegangen. Zwar genügt die amtsärztliche Stellungnahme den üblichen Anforderungen an medizinische Sachverständigengutachten nicht, weil sie u.a. insbesondere keine konkreten Diagnosen benennt. Der Senat vermag aber aus seiner sozialmedizinischen Erfahrung heraus mithilfe der zeitnah vom Städtischen Krankenhaus in seinem vorläufigen Arztbrief vom 1. März 2018 gestellten Diagnosen der ärztlichen Stellungnahme von Dr. B zu folgen.

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG. Sie orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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