S 2 RJ 556/00

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 2 RJ 556/00
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 12 RJ 711/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit.

Der 1953 geborene Kläger stammt aus Polen. Nach seinen Angaben war er dort als Kfz-Mechaniker und Berufskraftfahrer tätig. 1988 übersiedelte er in die BRD und war hier zunächst als Bauhelfer, Baggerfahrer und Monteur auf Baustellen tätig. Seit Juni 1992 arbeitete er bei den Stadtwerken A-Stadt als C. im Stadtbusverkehr.

Am 20.10.1999 beantragte der Kläger die Rentengewährung. Zu diesem Zeitpunkt war er seit dem 08.01.1999 laufend krankgeschrieben. Die Beklagte zog den Heilverfahrensentlassungsbericht der Klinik Naturana vom 04.08.1999 bei. Dort waren als Diagnosen gestellt worden: Rezidivierende Lumboischialgien bei Zustand nach Nukleolyse und perkutaner Nukleotomie bei Bandscheibenvorfall L4/L5 mit Nervenwurzelkompression links; beginnende Koxarthrose beiderseits, rechts ausgeprägter als links; Diabetes mellitus. Die Rehabilitationsziele seien erreicht worden, der Patient sei belastbarer gewesen, das Gangbild flüssig und physiologisch. Eine Fortsetzung der beruflichen Tätigkeit als C. erachtete der Entlassungsbericht als möglich.

Am 10.11.1999 wurde der Kläger sodann in der ärztlichen Untersuchungsstelle D-Stadt durch Dr. D. untersucht. Als Hauptleiden benannte dieser ein chronisches Wirbelsäulensyndrom, einen tablettenpflichtigen Diabetes mellitus mit diabetischer Netzhautschädigung der Augen, mäßigen Schulter-, Hüft- und Sprunggelenksverschleiß ohne wesentliche Funktionseinschränkungen sowie ein psychovegetatives Syndrom mit depressiven Verstimmungen und Angstgefühlen. Daneben diagnostizierte er eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung, labilen Bluthochdruck, Knie- und Sprunggelenksarthropathie ohne Funktionseinschränkungen, mäßiges Übergewicht und wiederkehrende Magenschleimhautentzündung. Die Leistungsfähigkeit des Klägers sei erheblich eingeschränkt, leichte körperliche Arbeiten könnten jedoch noch vollschichtig zugemutet werden mit bestimmten Funktionseinschränkungen.

Mit Bescheid vom 18.11.1999 lehnte die Beklagte den Rentenantrag unter Bezugnahme auf die ärztlichen Feststellungen ab. Den Widerspruch vom 20.12.1999 wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 17.03.2000 zurück. Der Kläger könne als Pförtner oder Poststellenmitarbeiter arbeiten. Damit sei er nicht berufsunfähig und erst recht nicht erwerbsunfähig.

Der Kläger hat am 22.03.2000 Klage zum Sozialgericht Gießen erhoben.

Er hält die Leistungsbeurteilung der Beklagten für unrichtig. Er verweist darauf, dass ihm sein behandelnder Arzt Dr. E. Erwerbsunfähigkeit bescheinige, ferner auf den durch das Versorgungsamt festgestellten Grad der Behinderung von 60.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 18.11.1999 und den Widerspruchsbescheid vom 17.03.2000 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit ab 01.11.1999 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich auf die angefochtenen Bescheide.

Das Gericht hat einen Befundbericht bei dem Orthopäden Dr. F. eingeholt und das Arbeitsamts-Gutachten von Dr. G. vom 09.03.2000 beigezogen; hiernach kann der Kläger leichte, zeitweise mittelschwere Arbeiten mit bestimmten Einschränkungen vollschichtig verrichten. Mit Beweisanordnung vom 23.10.2000 ist sodann Prof. Dr. H. vom Zentrum für Innere Medizin am Klinikum der Justus-Liebig-Universität Gießen mit der Erstellung eines Gutachtens über den Kläger beauftragt worden, welches er am 14.02.2001 vorgelegt hat. Er führt aus, bei dem Kläger bestehe ein komplettes metabolisches Syndrom mit Diabetes mellitus Typ 2 mit diabetischer Retinopathie, Fettstoffwechselstörung, arterieller Hypertonie sowie Übergewicht, ausgeheilte Hepatitis B, leichte Coxarthrose rechts mehr als links, Periarthropathia humeroscapularis links, Zustand nach Bandscheibenprolaps im Bereich der LWK 4 und 5 mit nachfolgender Lumboischialgie und Zehenheberschwäche links und Harnleiterverengung. Sowohl das Übergewicht, der Diabetes wie auch der Bluthochdruck bedürften einer besseren Behandlung bzw. Einstellung. Aus internistischer Sicht seien leichte Arbeiten vollschichtig ohne Zwangshaltungen, ohne maximale Hebebelastungen von mehr als 5 kg, ohne Absturzgefahr, ohne Schichtarbeit, ohne Verantwortung für andere Menschen möglich, ferner seien besondere Anforderungen an das Sehvermögen nicht mehr zuzumuten. Die orthopädischen Krankheiten seien nicht so gravierend, dass dadurch eine wesentliche weitere Minderung der Leistungsfähigkeit auf unter vollschichtig angenommen werden müsse (ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen vom 23.02.2001).

Schließlich hat das Gericht das Lohngruppenverzeichnis des für den Kläger bei den Stadtwerken A-Stadt maßgeblichen Tarifvertrags beigezogen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in ihren Rechten. Dieser hat keinen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Maßgebend sind insoweit die §§ 43, 44 Sozialgesetzbuch sechstes Buch (SGB VI) in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung. Die zum 01.01.2001 in Kraft getretenen Neuregelungen auf Grund des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000 (BGB I. I S. 1827), welche die Zugangsvoraussetzungen für die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit verschärft haben, finden keine Anwendung auf Rentenansprüche, die vor dem Inkrafttreten der Neuregelungen entstanden sind.

Erwerbsunfähig sind gemäß § 44 Abs. 2 SGB VI in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das 630,00 DM monatlich übersteigt. Erwerbsunfähig ist nicht, wer 1. eine selbständige Tätigkeit ausübt oder 2. eine Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Berufsunfähig sind gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die die Versicherten durch Leistungen zur beruflichen Rehabilitation mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden sind. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Zur Überzeugung der Kammer kann der Kläger Berufstätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes vollschichtig ausüben. Damit ist er jedoch nicht berufsunfähig und erst recht nicht erwerbsunfähig.

Bei diese Beurteilung stützt sich die Kammer auf den Heilverfahrensentlassungsbericht der Klinik Naturana vom 04.08.1999 sowie die Gutachten von Dr. D. vom 11.11.1999, Dr. G. vom 09.03.2000 und Prof. Dr. H. vom 14.02.2001. Hiernach wird die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch verschiedene Krankheiten und Behinderungen beeinträchtigt. Auf internistischem Gebiet liegt bei dem Kläger ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörung, Hypertonie und Übergewicht vor. Der Diabetes mellitus hat außerdem zu einer Schädigung der Netzhaut der Augen geführt. Des Weiteren wird die Arbeitsfähigkeit des Klägers durch orthopädische Krankheiten eingeschränkt, wobei im Vordergrund die Beschwerden insbesondere der Lendenwirbelsäule stehen, die als Folge der Bandscheiben-Operation verblieben sind. Daneben besteht noch ein Schulter-Arm-Syndrom links sowie eine leichte Hüftgelenksarthrose rechts mehr als links. Alle Gutachter stimmen jedoch darin überein, dass diese Krankheiten nicht so schwerwiegend sind, dass der Kläger deswegen erwerbsunfähig ist. Vielmehr sind ihm leichte Arbeiten nach übereinstimmender Meinung aller Ärzte noch vollschichtig möglich, wenn hierbei belastende Arbeitsbedingungen vermieden werden. Prof. Dr. H. hat dies dahingehend zusammengefasst, dass der Kläger Arbeiten vollschichtig verrichten kann, bei denen er ohne Zwangshaltung, ohne schwere Hebebelastung, ohne Absturzgefahr, ohne Schichtarbeit und ohne besondere Anforderung an das Sehvermögen eingesetzt wird. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass nach den Ausführungen von Prof. Dr. H. eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit des Klägers noch möglich ist, wenn der Diabetes mellitus und der Bluthochdruck besser eingestellt werden und der Kläger sein Übergewicht reduziert.

Angesichts des übereinstimmenden Votums verschiedener unabhängiger Sachverständiger vermag die Kammer der abweichenden Meinung des behandelnden Arztes Dr. E., wonach es notwendig sei, dass der Kläger frühzeitig in Rente gehe, nicht zu folgen. Die in seiner ärztlichen Bescheinigung vom 04.05.2001 genannten Erkrankungen sind durchweg bekannt; neue, schwerwiegende Befunde teilt Dr. E. nicht mit. Angesichts dessen sah die Kammer keinen Anlass, weitere medizinische Ermittlungen anzustellen.

Mit dem festgestellten Leistungsvermögen kann der Kläger seine berufliche Tätigkeit als C. im Personennahverkehr nicht mehr ausüben. Wie Prof. Dr. H. ausführt, schließt bereits die Insulin-Behandlung Tätigkeiten als C. oder Taxifahrer aus. Im Rahmen von § 43 Abs. 2 SGB VI kommt es jedoch nicht allein darauf an, ob der Kläger seinen bisherigen Beruf nicht mehr ausüben kann. Vielmehr muss er sich auch auf andere, ihm gesundheitlich und sozial zumutbare Tätigkeiten verweisen lassen. Das Bundessozialgericht (BSG) wendet hierzu in ständiger Rechtsprechung ein "Mehrstufenschema" an, welches die Arbeiterberufe in verschiedene Qualifikationsgruppen unterteilt: Den Vorarbeiter mit Leitungs- und Vorgesetzenfunktion, den Facharbeiter, den angelernten Arbeiter und den ungelernten Arbeiter. Von der Einstufung des bisherigen Berufs hängt der Umfang der Verweisbarkeit ab. Grundsätzlich kann ein Arbeitnehmer auf die nächst niedrigere Stufe zumutbar verwiesen werden (BSG § 1246 RVO Nr. 138, 140 mwN).

Im Sinne des Mehrstufenschemas ist der Kläger als angelernter Arbeiter zu beurteilen. Maßgeblich ist insoweit nämlich nicht der von dem Kläger nach seinen Angaben erlernte Beruf des Kfz-Mechanikers, den er in Polen ausgeübt hat. "Bisheriger Beruf" im Sinne des Rentenversicherungsrechts ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG vielmehr die zuletzt versicherungspflichtig ausgeübte Beschäftigung und die berufliche Wertigkeit dieser Tätigkeit. Als C. im Personennahverkehr ist der Kläger jedoch nicht als Facharbeiter anzusehen. Denn im Sinne des Mehrstufenschemas ist nur derjenige Arbeitnehmer Facharbeiter, der eine mehr als 2-jährige Berufsausbildung für die Ausübung seiner Berufstätigkeit benötigt (BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 143 mwN). Eine solche mehr als 2 jährige Berufsausbildung war für die berufliche Tätigkeit des Klägers bei den Stadtwerken A-Stadt indes nicht erforderlich.

Nach der neueren Rechtsprechung des BSG können allerdings unter bestimmten Voraussetzungen auch solche Berufe, bei denen die Ausbildung die Grenze von 2 Jahren nicht überschreitet, Facharbeiterberufe im Sinne des Mehrstufenschemas sein. Abgestellt wird dabei auf die Bewertung eines Berufs durch die Tarifvertragsparteien. Die Einstufung einer Berufstätigkeit, die keine oder eine Ausbildung von bis zu 2 Jahren erfordert, in eine Tarifgruppe, die geprägt ist durch die Berufsgruppe mit dem Leitbild eines Facharbeiters, lässt in der Regel erkennen, dass auch diese Berufstätigkeit qualitativ wie ein Facharbeiterberuf zu bewerten ist (BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 164 mwN). Auch hiernach ist die Tätigkeit des C.s im Personennahverkehr aber nicht als Facharbeitertätigkeit zu qualifizieren, denn wie sich aus dem von den Stadtwerken A-Stadt vorgelegten Tarifvertrag nebst Lohngruppenverzeichnis ergibt, werden die dort beschäftigten C. durch den Tarifvertrag nicht den "anerkannten" Facharbeitern (wie z. B. Schreinern oder Schlossern) gleichgestellt.

Damit kann der Kläger im Rahmen des Mehrstufenschemas allenfalls in die Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters im oberen Bereich zugeordnet werden. Diesem Personenkreis ist nach der Rechtsprechung des BSG im Rahmen des § 43 Abs. 2 SGB VI jedoch auch die Verweisung auf ungelernte Tätigkeiten zumutbar, sofern diese sich durch Qualitätsmerkmale wie z. B. das Erfordernis einer Einweisung oder Einarbeitung oder durch die Notwendigkeit beruflicher oder betrieblicher Vorkenntnisse auszeichnen (BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 132, 140). Als solche Tätigkeiten kommen für den Kläger z. B. die eines Warenaufmachers oder Versandfertigmachers, aber auch eines Montierers in der Metall- oder Elektroindustrie in Betracht. Wie der Kammer aus vielfachen Auskünften des Landesarbeitsamtes Hessen bekannt ist, handelt es sich dabei um Tätigkeiten, die körperlich leicht sind und auch sonst dem Leistungsvermögen des Klägers entsprechen. Hierbei ist es ohne Belang, dass es bisher nicht gelungen ist, dem Kläger einen solchen Arbeitsplatz tatsächlich zu vermitteln. Denn wie sich aus §§ 43 Abs. 2 Satz 4, 44 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB VI in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung ergibt, ist Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit ausgeschlossen, wenn der Versicherte "eine (zumutbare) Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen".

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Rechtskraft
Aus
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