S 34 U 174/11

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Gelsenkirchen (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
34
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 34 U 174/11
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 07.12.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.05.2011 verurteilt, dem Kläger Entschädigungsleistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen für eine Berufserkrankung nach Ziffer 2108 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung zu gewähren. Die Beklagte hat die außergerichtlichen erstattungsfähigen Kosten des Klägers zu tragen.

Tatbestand:

Streitig ist die Anerkennung um Entschädigung einer Berufserkrankung (BK) nach den Ziffern 2108 und 2109 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV).

Der 1948 geborene Kläger war als selbständiger Unternehmer bei der Beklagten versichert. Er betreibt eine Schlosserei. Aufgrund seiner Rückenerkrankung beantragte er bei der Beklagten die Anerkennung der BK nach den Ziffern 2108 und 2109. Die Beklagte leitete ein entsprechendes bg-liches Ermittlungsverfahren ein. In der Arbeitsplatzexposition führte der Diplom-Wirtschaftsingenieur Q. M. von der Fachstelle Ergonomie vom 26.05.2010 aus, dass der Kläger während seines Berufslebens in der Werkstatt Stahlbaukonstruktionen gefertigt und bei den Kunden eingesetzt habe. Es handele sich um Treppen, Podeste, Geländer, Balkonanbauten, Bodenabweiser, Regale, Garagentore, Gitter, Tore usw. Sein Aufgabenbereich habe darin bestanden, Material zum Fertigungsplatz heranzuschaffen, zu Trennen, Bohren und zu Schleifen, Auszurichten, Zusammenzufügen und zu Heften, Schweißen und Nachbararbeitung durchzuführen, gefertigte Werkstücke auf eine Kfz/Lkw-Ladefläche zu verladen und Teile auf der Baustelle zu montieren. Dabei habe er Hebetätigkeiten verschiedener Teile ausgeführt wie z. B. Kopfplatten, Profile, Bleche, Gitterrosten, Rohren etc. Die Anzahl der manuellen Lastenhandhabung sei unterschiedlich gewesen. An manchen Tagen habe der Kläger 20 Teile je Schicht gehoben, an anderen Tagen überwiegend Heft- und Schweißarbeiten vorgenommen und keine nennenswerten Hebetätigkeiten ausgeführt. Der Kläger habe beschrieben, dass er gemeinsam mit vier Mann einen Profilträger HEB 200 (6,4 m lang, 380 kg schwer) vom LKW abgeladen und in eine Garage geschafft habe. Weiter Beispiele seien U 200, Balkongeländer 150 kg mit Seiten auf einen Balkon hochzuziehen, Anheben einer Gasflasche auf das Grundblech der Schweißmaschine. Nennenswerte Lasten auf den Schultern im Sinne der BK 2109 habe der Kläger nicht getragen. Die Berechnung sei nach den Vorgaben des BSG-Urteils vom 31.10.2007 zur Gesamtdosis von 12,5 x 106 Nh und zur Druckkraft 2,7 x 103 B ohne Berücksichtigung der Tagesdosis erfolgt. Die Berechnung nach dem MDD-Verfahren habe eine Gesamtdosis von 13,2 x 106 Nh ergeben. Belastungen nach der BK 2109 sei der Kläger danach nicht ausgesetzt gewesen. Hinsichtlich der BK nach der Ziffer 2108 gab die Beklagte ein Zusammenhangsgutachten durch die Leitende Ärztin Dr. S. N., C. in Bochum, in Auftrag. In ihrem Gutachten vom 25.10.2010 führte diese aus, dass aufgrund des Verteilungsmusters der degenerativen Veränderung im Bereich der Wirbelsäule eine Anerkennung der BK 2108 abzulehnen sei, da bei einer beruflich bedingten lumbalen Bandscheibenerkrankung auch hier der bevorzugte Ort der Degeneration sein müsste. Klinisch ergäben sich keine Anhaltspunkte für eine lumbale bandscheibenbedingte Erkrankung. Die Sensibilitätsstörung im Bereich der rechten Oberschenkelaußenvorderseite sei auf eine Schädigung des Nervus cutanaeus femoris lateralis zu beziehen in Folge der Adipositas.

Mit Bescheid vom 07.12.2010 lehnte die Beklagte daraufhin die Anerkennung einer BK und die Gewährung von Entschädigungsleistungen ab. Es liege weder eine BK nach Nr. 2108 noch nach der Nr. 2109 vor. Den dagegen vom Kläger eingelegten Widerspruch wies sie mit Bescheid vom 12.05.2011 als unbegründet zurück.

Dagegen hat der Kläger am 06.06.2011 Klage vor dem Sozialgericht Gelsenkirchen erhoben.

Der Kläger ist der Auffassung, dass bei ihm sowohl von einer BK nach Nr. 2108 als auch 2109 ausgegangen werden müsse.

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 07.12.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.05.2011 zu verurteilen, ihm Entschädigungsleistungen für eine Berufserkrankung nach der Ziffer 2108 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich im Wesentlichen auf die Gründe ihrer angefochtenen Bescheide.

Das Gericht hat ein Gutachten von Amts wegen gemäß § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Prof. Dr. X., Arzt für Orthopädie des St. F. in Herten, eingeholt. In seinem Gutachten vom 26.08.2011 ist dieser zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger aufgrund seiner bandscheibenbedingten Erkrankung seine bisherige Tätigkeit habe aufgeben müssen. Dieser Zwang habe schon im Frühjahr 2010 bestanden. Die Wirbelkörper L 4 bis S 1 und dazwischenliegende Bandscheiben L4/5 und L5/S1 zeigten in der bildgebenden Diagnostik eine über das altersübliche Ausmaß hinausgehende Verschleißerscheinung. Die radiologisch nachweisbaren Veränderungen an der LWS nehmen von oben nach unten ab. Zwar ließen sich auch arthrotisch bedingte Veränderungen der HWS und BWS feststellen, die jedoch nicht über das altersübliche Ausmaß hinausgingen. Außerberufliche Faktoren für die Entstehung der Bandscheibenerkrankung ließen sich nicht feststellen. Wenn man daher unterstelle, dass der Kläger langjährig schwere Lasten getragen und gehoben habe, so sei ein Zusammenhang der Veränderungen der Bandscheiben L4/5 und L5/S1 wahrscheinlich. Er gelange daher zu dem Ergebnis, dass die von dem Kläger ausgeübte Berufstätigkeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu der vorliegenden Bandscheibenerkrankung an der LWS geführt habe. Eine BK nach der Ziffer 2108 sei daher anzuerkennen. Eine BK nach Ziffer 2109 müsse aufgrund der fehlenden Belastungskonformität abgelehnt werden. Die bandscheibendingte Erkrankung der LWS bedinge eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v. H ...

Zu diesem Gutachten hat die Beklagte eine beratungsärztliche Stellungnahme durch Dr. G., Facharzt für Orthopädie aus Bochum, eingeholt. Dieser führt in seiner Stellungnahme vom 17.11.2011 aus, das Gutachten von Prof. Dr. X. sei nicht verwertbar, da es an den für ein derartiges Gutachten zu fordernden methodischen Vorgaben fehle. Die medizinischen Voraussetzungen einer BK 2108 seien an bestimmte klinische wie auch bildtechnisch-morphologische Voraussetzungen geknüpft, die im Einzelfall nachzuweisen bzw. zuzuordnen seien. Es müsse zwingend auf das krankhafte veränderte Substrat abgestellt werden. Insbesondere bei der Gruppe der 45jährigen respektive über 50jährigen sei der Einzelnachweis bandscheibenkörperschädigungsassoziierter bzw. bedingter Sekundärveränderungen unverzichtbar. In dem Gutachten von Prof. Dr. X. seien keine einfachen Röntgenbilder ausgewertet worden. Die konkreten (fallbezogenen) pathomorphologischen Veränderungen mit der Übersicht 1 bis 8 der Konsensempfehlungen Teil I seien nicht abgeglichen worden.

Zu dieser Stellungnahme hat Prof. Dr. X. ergänzend am 27.02.2012 Stellung genommen. Er führt aus, dass für die Bandscheibenfächer L4/5 und L5/S1 abweichende Werte erhoben worden seien. Selbst bei Betrachtung des sagittalen Schnittes der LWS mit bloßem Auge stelle sich dar, dass sich das breiteste Bandscheibenfach zwischen dem 3. und 4. LWK befinde. In der Relation zu diesem Fach seien die Bandscheibenfächer L4/5 und L5/S1 um mehr als die Hälfte verschmälert. Daraus ergebe sich ein Osteochondrosegrad III für die Bandscheibe L4/5 und Grad III für die Bandscheibe L5/S1. Zusätzlich sei in beiden Segmenten in der T2-Gewichtung eine "black-disc" nachweisbar. Die Auswertung der Sklerose und Spondylarthrose sei im Rahmen der Begutachtung erfolgt und zwar anhand der vom Kläger mitgebrachten nativen LWS-Bilder vom 21.10.2010. Nach der altersuntypischen Höhenminderung der Bandscheiben fächer L4/5 und L5/S1 seien im MRT der LWS vom 12.03.2011 auch die Verlagerung von Bandscheibengewebe in den beiden Segmenten von über 5 mm über die Verbindungslinie der dorsalen Begrenzung der Wirbelkörperhinterkante nachweisbar. Die 3 oben beschriebenen patho-morphologischen Korrelate erfüllten die in der Konstellation B2 der KE diskutierten Kriterien der belastungskonformen Bandscheibenschäden. Für den Kläger sei die berufliche Gesamtdosis mit 12,5x106 Nh berechnet und damit der Richtwert für Männer nicht erreicht worden. In der Begutachtung sei daher, da der Kläger die Berechnung in Frage gestellt habe, eine hypothetische Situation in Unterstellung, dass die Expositionszeit ausreichend gewesen sei, erwogen worden. Er vertrete weiterhin die Auffassung, dass eine BK nach der Ziffer 2108 vorliege, wobei vor allem die nicht ausreichende Exposition während des Berufslebens eher dagegen spreche.

Zu dieser Stellungnahme hat die Beklagte erneut eine weitere Stellungnahme von Dr. G. vom 20.04.2012 vorgelegt. Die medizinischen Voraussetzungen einer BK 2108 lägen seiner Auffassung nach eindeutig nicht vor. Gegen den Zusammenhang sprächen auch die die bei der Diskussion zum ursächlichen Zusammenhang zu berücksichtigende liegende Gesamtbelastungsdosis.

Abschließend hat Prof. Dr. X. in seiner Stellungnahme vom 20.06.2012 ausgeführt, dass in der Tat der Richtwert für Männer mit der Gesamtbelastungsdosis 12,5 x 106 MNh nicht erreicht werde. Damit falle die allerwichtigste Voraussetzung zur Anerkennung der berufsbedingten Bandscheibenerkrankung bei dem Kläger weg. Darüber habe man sich jedoch bei der Begutachtung hinweggesetzt, da hypothetisch von dem Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen ausgegangen worden sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und die von der Beklagten beigezogenen Verwaltungsakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, vollinhaltlich Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Anerkennung seiner Wirbelsäulenerkrankung als BK nach der Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV (BK 2108). Dies steht zur Überzeugung der Kammer nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme fest.

Als Versicherungsfall gilt nach § 7 Abs. 1 des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII) auch eine BK. BK n sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer versicherten Tätigkeit erleidet (§ 9 Abs. 1 SGB VII). Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als BK n zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkung verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrigere Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann BK n auf bestimmte Gefährdungsbereiche beschränken oder mit dem Zwang zur Unterlassung aller gefährdeten Tätigkeiten versehen.

Mit diesen Vorgaben lassen sich bei einer Listen-BK im Regelfall folgende Tatbestandsmerkmale ableiten, die ggfs. bei einzelnen Listen-BK n einer Modifikation bedürfen: Die Verrichtung einer – grundsätzlich – versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zur Einwirkung von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität), und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung", "Einwirkung" und "Krankheit" müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt der hinreichenden Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl. BSG, Urteile vom 27.06.2006, B 2 U 20/04 R, SozR 4 – 2700 § 9 Nr. 7 und vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, SozR 4 – 2700 § 8 Nr. 17).

Bei der hinreichenden Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs muss absolut mehr dafür als gegen die jeweilige Tatsache sprechen (BSG vom 08.08.2001, B 9 U 23/01 R). Um hinreichende Wahrscheinlichkeit zu bejahen, muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, das ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden und nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung deutlich mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (BSG vom 08.08.2001, B 9 U 23/01 R). Die diesbezüglichen Anforderungen sind grundsätzlich höher als diejenigen an die Glaubhaftmachung (BSG vom 08.08.2001, B 9 U 23/01 R), bei der im Sinne eines Beweismaßstabes nach herrschender Auffassung der Grad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit verstanden wird, d. h. die gute Möglichkeit, dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können; dieser Beweismaßstab durch seine Relativität gekennzeichnet (BSG vom 08.08.2001, B 9 V 23/01 B; vom 14.12.2006, B 4 R 29/06 R). Der sogenannte Vollbeweis ist dagegen erst erfüllt, wenn eine Tatsache in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen, die eben bei an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegeben ist (BSG, vom 08.08.2001, B 9 V 23/01 B m.w.N.; vom 29.03.1963, 2 RU 75/61; vom 22.09.1977, 10 RV 15/77; vom 01.08.1978, 7 RAr 37/77; vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R).

Die Voraussetzungen sind vorliegend im Hinblick auf die BK 2108 nach Ansicht der Kammer erfüllt. Von Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV werden in "bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben ursächlich waren oder sein können", erfasst.

Nach dem Tatbestand der BK 2108 muss der Versicherte aufgrund einer versicherten Tätigkeit langjährig schwer gehoben und getragen bzw. in extremer Rumpfbeugehaltung gearbeitet haben. Durch die spezifischen, der versicherten Tätigkeit zuzurechnenden besonderen Einwirkungen muss eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS entstanden sein und noch bestehen. Zwischen der versicherten Tätigkeit und den schädigenden Einwirkungen muss ein sachlicher Zusammenhang und zwischen diesen Einwirkungen und der Erkrankung muss ein (wesentlicher) Ursachenzusammenhang bestehen. Der Versicherte muss darüber hinaus gezwungen gewesen sein, alle gefährdenden Tätigkeiten aufzugeben. Als Folge dieses Zwangs muss die Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit tatsächlich erfolgt sein. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, liegt eine BK 2108 nicht vor (vgl. Urteil des BSG vom 30.10.2007 – B 2 U 4/06 R -, SozR 4 – 5671 Anl. 1 Nr. 2108 Nr. 5 sowie Urteile vom 18.11.2008 – B 2 U 14/07 R und B 2 U 14/08 R -). Der Kläger erfüllt zunächst die sogenannten arbeitstechnischen Voraussetzungen, d. h. die im Sinne der BK 2108 erforderlichen Einwirkungen durch langjähriges schweres Heben und Tragen bzw. Arbeiten in Rumpfbeugehaltungen. Dies ergibt sich aus den vorliegenden Berechnungen des TAD der Beklagten zum Ausmaß der mechanischen Belastungen nach dem MDD in Höhe von 13,2 x 106 Nh. Das MDD legt selber für die Belastungen durch Heben und Tragen keine Mindestwerte fest, die erreicht werden müssen, damit von einem erhöhten Risiko von Bandscheibenschäden durch die berufliche Tätigkeit ausgegangen werden kann. Die aufgrund einer retrospektiven Belastungsermittlung für risikobehaftete Tätigkeitsfelder ermittelten Werte, insbesondere die Richtwerte für die Gesamtbelastungsdosis, sind nicht als Grenzwerte, sondern als Orientierungswerte oder –vorschläge zu verstehen. Von diesem Verständnis geht auch das aktuelle Merkblatt des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung zur BK 2108 aus, das für eine zusammenfassende Bewertung der Wirbelsäulenbelastung auf das MDD verweist (BArbBl. 2006, Heft 10, Seite 30 ff.). Danach sind die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine BK 2108 zu bejahen, wenn die Richtwerte im Einzelfall erreicht oder überschritten werden; umgekehrt schließt aber ein Unterschreiten dieser Werte das Vorliegen der BK nicht vornherein aus (vgl. BSG Urteile vom 30.10.2007 a.a.O. sowie vom 18.11.2008 a.a.O.). Das BSG hat in seiner Entscheidung vom 30.11.2008 – B 2 U 14/07 R und B 2 U 14/08 R – die Berechnung nach dem MDD bestätigt, jedoch eine Modifizierung zur Anwendung für notwendig erachtet. Danach ist die dem MDD zugrunde liegende Mindestdruckkraft je Arbeitsvorgang bei Männern nunmehr mit dem Wert 2700 N pro Arbeitsvorgang anzusetzen. Auf eine Mindesttagesdosis ist nach dem Ergebnis der deutschen Wirbelsäulenstudie zu verzichten. Alle Hebe- und Tragebelastungen, die die aufgezeigte Mindestbelastung von 2700 N bei Männern erreichen, sind entsprechend dem quadratischen Ansatz (Kraft mal Kraft mal Zeit) zu berechnen und aufzuaddieren. Der untere Grenzwert, bei dessen Unterschreitung nach gegenwärtigem Wissensstand ein Kausalzusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkrankung der LWS ausgeschlossen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen verzichtet werden kann, ist auf die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis von 25 MNh, also auf 12,5 MHh herabzusetzen. Ausweislich der eingeholten Stellungnahme des TAD der Beklagten überschreitet die Gesamtbelastungsdosis des Klägers eindeutig diesen vorgeschlagenen Orientierungswert, so dass von dem Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen bei dem Kläger auszugehen ist.

Darüber hinaus ist die Kammer nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zu dem Schluss gelangt, dass auch die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen einer BK Nr. 2108 bei dem Kläger erfüllt sind. Die Kammer schließt sich insoweit dem überzeugenden Gutachten das von Amts wegen gehörten Sachverständigen Prof. Dr. X. an. In der medizinischen Wissenschaft ist anerkannt, dass Bandscheibenschäden und Bandscheibenvorfälle insbesondere der unteren LWS in allen Altersgruppen, sozialen Schichten und Berufsgruppen vorkommen. Sie sind von multifaktorieller Äthiologie. Da diese Bandscheibenerkrankung ebenso in Berufsgruppen vorkommen, die während ihres Arbeitslebens keiner schweren körperlichen Belastung ausgesetzt waren, genauso wie in solchen, die wie der Kläger auch schwere körperliche Arbeiten geleistet haben, kann allein die Erfüllung der arbeitstechnischen Voraussetzungen im Sinne des MDD die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines wesentlichen Kausalzusammenhanges nicht begründen. Insoweit war die medizinische Wissenschaft gezwungen, weitere Kriterien zu erarbeiten, die zumindest in ihrer Gesamtschau für oder gegen eine berufliche Verursachung sprechen. Diese sind niedergelegt in den medizinischen Beurteilungskriterien zur bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der LWS, die als Konsensempfehlung zur Zusammenhangsbegutachtung auf Anregung der vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften eingerichteten interdisziplinären Arbeitsgruppe anzusehen sind. Die Kammer geht nach den Ausführungen von Prof. Dr. X. davon aus, dass die Voraussetzungen der Konsensempfehlung im vorliegenden Fall erfüllt sind. Die bei dem Kläger durch Prof. Dr. X. festgestellten Veränderungen der Wirbelsäule stellen eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS im Sinne der BK 2108 dar. Prof. Dr. X. beschreibt einen belastungskonformen Bandscheibenschaden L4/5 und L5/S1, der auch zuerst in der Kernspintomographie der LWS vom 13.06.2003 beschrieben wurde. Konkurrierende Ursachen der bandscheibenbedingten Erkrankungen konnten von ihm nicht festgestellt werden. Die Wirbelkörper L4/S1 und dazwischen liegende Bandscheiben L4/5 und L5/S1 zeigten in der bildgebenden Diagnostik über das altersübliche Ausmaß hinausgehende Verschleißerscheinungen. Diese bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS sei so schwerwiegend, dass bei dem Kläger objektiv der Zwang der Unterlassung der bis dato ausgeübten mittelschwer- und schwerbelastenden Tätigkeit gestanden habe. Den Ausführungen des Beratungsarztes Dr. G., der ein schadenkonformes Belastungsbild verneint, vermag die Kammer hingegen nicht zu folgen. Dr. G. wirft dem Sachverständigen Prof. Dr. X. vor, keine entsprechende bildtechnische Diagnose durchgeführt zu haben. Dies ist jedoch unrichtig, da Prof. Dr. X. darauf hingewiesen hat, dass der Kläger zur Untersuchung Röntgenaufnahmen mitgebracht hatte. Vielmehr hat Prof. Dr. X. eine Messung der Bandscheibenhöhe bei konventionellen seitlichen Röntgenbildern der Lendenwirbelsäule sowie bei Darstellung der sagittalen Ebene der Lendenwirbelsäule bei CT und MRT durchgeführt. Insoweit hat er die vorliegende Kontrose der LWS berechnet. Zwar kommt er zu abweichenden Ergebnissen wie Dr. G., jedoch beruhen seine Messergebnisse der durchgeführten Untersuchung des Klägers. Selbst bei Betrachtung des sagittalen Schnittes der LWS mit bloßem Auge habe sich dargestellt, dass das breiteste Bandscheibenfach sich zwischen dem dritten und vierten Lendenwirbelkörper befinde. In der Relation zu diesem Fach seien die Banscheibenfächer L4/5 und L5/S1 um mehr als die Hälfte verschmälert. Daraus ergibt sich ein Osteochondrosegrad III für die Bandscheibe L4/5 und Grad III für die Bandscheibe L5/S1. Zusätzlich ist in beiden Segmenten in der T2-Gewichtung eine "black-disc" nachweisbar. Die Auswertung der Sklerose und Spondylarthrose sei ebenfalls im Rahmen der Begutachtung erfolgt anhand der vom Kläger mitgebrachten LWS-Bilder vom 21.10.2010. Wegen der altersuntypischen Höhenminderung der Bandscheibenfächer L4/5 und L5/S1 ist im MRT der LWS vom 12.03.2011 die Verlagerung von Bandscheibengewebe in den beiden Segmenten von über 5 mm über die Verbindungslinie der dorsalen Begrenzung der Wirbelkörperhinterkante nachweisbar. Entgegen der Auffassung von Dr. Falkenstein sind damit aber die in der Konstellation B2/B4 der Konsensempfehlung diskutierten Kriterien der belastungskonformen Bandscheibenschäden erfüllt. Des Weiteren ist auch eine plausible zeitliche Korrelation zwischen der beruflichen Belastung und der Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung im Falle des Klägers zu bejahen. Wesentlich konkurrierende Ursachenfaktoren sind nicht bekannt. Auch Dr. G. konnte hier keine passenden Faktoren benennen. Da somit sowohl die arbeitstechnischen als auch arbeitsmedizinischen Voraussetzungen der BK 2108 erfüllt sind, ist das Vorliegen der BK anzuerkennen und dem Kläger entsprechende Entschädigungsleistungen, die im Einzelnen noch festgelegt werden müssen, zu erbringen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved