L 7 SB 17/18 B

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
7
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 1 SB 156/07
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 7 SB 17/18 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 17. Januar 2018 wird aufgehoben.

Die Kosten des gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz erstatteten Gutachtens von Dr. J. vom 12. Januar 2009 werden auf die Landeskasse übernommen.

Die Staatskasse hat dem Kläger die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Kläger und Beschwerdeführer (nachfolgend Kläger) begehrt die Erstattung von Kosten für ein nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeholtes Gutachten.

Nach einem gerichtlichen Vergleich vom 22. Oktober 2004 wurde beim Kläger ein Grad der Behinderung (GdB) von 20 festgestellt. Einen Neufeststellungsantrag des Klägers lehnte das Versorgungsamt ab. Dagegen hat der Kläger am 26. Juni 2007 Klage beim Sozialgericht (SG) Halle erhoben und einen höheren GdB begehrt. In einem vom SG beigezogenen rentenversicherungsrechtlichen Gutachten vom 7. Juli 2007 hatte die Fachärztin für Orthopädie Dipl.-Med. H. den Verdacht auf einen psychosomatischen Symptomenkomplex geäußert. In einem vom SG eingeholten Befundbericht vom 28. Januar 2008 hatte die Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. P. u.a. eine Angststörung diagnostiziert. Am 20. Juni 2008 hat der Kläger einen Antrag nach § 109 SGG und eine Begutachtung durch den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. J. beantragt. In einem 39-seitigen Gutachten vom 12. Januar 2009 hat Dr. J. in Abgrenzung möglicher Angststörungen eine leichte ängstlich-depressive Störung diagnostiziert, jedoch keine Erhöhung des Gesamt-GdB befürwortet. Der Kläger hat für das Gutachten von Dr. J. Vorschusszahlungen in Gesamthöhe von 1.232,26 EUR an die Landeskasse geleistet.

Mit Urteil vom 27. Mai 2009 hat das SG die Klage abgewiesen und in den Urteilsgründen u.a. auf die schlüssigen Darlegungen des Sachverständigen Dr. J. Bezug genommen. Dagegen hat der Kläger Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt eingelegt. Das Berufungsverfahren endete mit einem gerichtlichen Vergleich im April 2012.

Nach einer Aufforderung durch den Rechtsschutzversicherer des Klägers vom 22. November 2017 hat dieser am 7. Dezember 2017 beantragt, die Kosten für das Sachverständigengutachten von Dr. J. auf die Landeskasse zu übernehmen.

Mit Beschluss vom 17. Januar 2018 hat das SG den Antrag wegen Verwirkung abgelehnt. Seit dem gerichtlichen Vergleich im Jahr 2012 habe es der Kläger versäumt, einen Kostenübernahmeantrag zu stellen. In Anlehnung an die Verjährungsvorschrift von § 45 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil (SGB I) sei auch für den Kostenübernahmeantrag nach § 109 SGG von einer vierjährigen Verjährung auszugehen. Diese Frist habe der Kläger bei weitem überschritten, was eine Verwirkung des Erstattungsanspruchs begründe. Zu bedenken seien auch die haushalterischen Auswirkungen. Der Aufwand, für noch nicht gestellte Kostenübernahmeanträge jährlich Mittel einzuplanen, sei nicht zu rechtfertigen.

Gegen den ihm am 23. Januar 2018 zugestellten Beschluss hat der Kläger am 22. Februar 2018 Beschwerde beim SG eingelegt und zur Begründung ausgeführt: Die Verwirkung setze ein Zeit- und ein Umstandsmoment voraus. Ein Umstandsmoment liege nicht vor und das Haushaltsargument sei irrelevant.

Der Beschwerdegegner vertritt die Auffassung, dass eine Verwirkung eingetreten sei. Zwar sei das Antragsrecht auf Erstattung der Kosten nach § 109 SGG unbefristet und durch bloßen Zeitablauf nicht einfach verwirkbar. Es könne jedoch zu Lasten der Landeskasse keine zeitlich völlig uneingeschränkte Erstattungspflicht geben.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Die Kosten für das gemäß § 109 SGG eingeholte Gutachten von Dr. J. sind auf die Staatskasse zu übernehmen.

1. Die Voraussetzungen einer Kostenübernahme der Sachverständigenkosten auf die Landeskasse gemäß § 109 SGG sind gegeben, da das Gutachten von Dr. J. zur Sachverhaltsaufklärung beigetragen hat.

Gemäß § 109 Abs. 1 Satz 2 SGG kann die beantragte Anhörung eines Arztes davon abhängig gemacht werden, dass der Antragsteller die Kosten vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts endgültig trägt. Über die endgültige Kostentragungspflicht nach § 109 SGG entscheidet das Gericht nach Ermessen durch Beschluss. Das Gericht berücksichtigt bei seiner Ermessensentscheidung über die Kostenübernahme auf die Staatskasse, ob das Gutachten die Sachaufklärung wesentlich gefördert hat (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage, 2017, § 109 Rdn. 16a). Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn der Sachverständige wesentliche, bisher noch nicht bekannte rechtserhebliche Tatsachen feststellt und sich zu deren Bedeutung für den zu entscheidenden Rechtsstreit äußert. Dies gilt auch, wenn anstelle einer von Amts wegen gebotenen Sachaufklärung ein Gutachten nach § 109 SGG eingeholt wird oder in Fällen, in denen wegen des § 109 SGG-Gutachtens ein Anerkenntnis abgegeben oder ein Vergleich geschlossen wird (Keller, a.a.O.). Von objektiv wesentlichen Gesichtspunkten zur Sachverhaltsaufklärung kann nur dann gesprochen werden, wenn zusätzliche neue Erkenntnisse gewonnen werden, die zu einer Entscheidung geführt haben, die auf der Grundlage des bis dahin gewonnenen Ermittlungsergebnisses nicht möglich gewesen wäre.

Bereits in dem vom SG beigezogenen orthopädischen Gutachten von Dipl.-Med. H. wird der Verdacht auf eine psychische Erkrankung des Klägers gestellt. Hierfür spricht auch die psychiatrische Diagnose einer Angststörung von Dr. P. vom 28. Januar 2008. Damit waren weitere Ermittlungen auf psychiatrischem Gebiet veranlasst. Das Sachverständigengutachten von Dr. J. hat somit die von Amts wegen erforderliche Sachaufklärung übernommen. Auch hat das ausführliche und inhaltlich überzeugende Gutachten von Dr. J. den Prozess nachhaltig und nachweisbar gefördert. So hat das SG das Sachverständigengutachten inhaltlich vollumfänglich in seine Entscheidung einbezogen.

2. Der Erstattungsanspruch ist auch nicht verwirkt.

Allein die Tatsache, dass der Antrag des Klägers auf Kostenübernahme vom 6. Dezember 2017 weit über fünf Jahre nach Abschluss des Berufungsverfahrens im Jahr 2012 gestellt worden ist, führt noch nicht zum Verlust des Anspruchs. Denn der Antrag auf Übernahme der Gutachtenskosten auf die Landeskasse ist nicht an die Einhaltung gesetzlicher Fristen gebunden. Die Vorschrift des § 2 Abs. 1 Justizvergütungs- und entschädigungsgesetz (JVEG), wonach der Anspruch eines Sachverständigen auf Vergütung oder Entschädigung erlischt, wenn er nicht binnen drei Monaten geltend gemacht wird, ist auf den Kostenübernahmeanspruch aus § 109 SGG nicht anwendbar (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Auflage, 2017, § 109 Rdn 16 mwN; auch Hessisches LSG, Beschluss vom 29. September 2005, L 5 B 148/05; auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Januar 2017, L 16 R 345/16 B, zitiert nach Juris). Auch die Verjährungsvorschrift des § 45 SGB I kann wertungsmäßig nicht herangezogen werden, da es sich beim Kostenübernahmeanspruch nach § 109 SGG nicht um einen Anspruch auf Sozialleistungen handelt, sondern um einen verfahrensrechtlichen Anspruch, der sich aus dem SGG ergibt. Ob § 5 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG) analog als Verjährungsvorschrift herangezogen werden kann (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, a.a.O.), kann vom Senat offengelassen werden. Eine Verjährung eines Kostenerstattungsanspruchs kann erst dann diskutiert werden, wenn ein Beschluss nach § 109 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 SGG zur endgültigen Kostentragung ergangen ist (so Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O.). Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 109 Abs. 1, Satz 2 2. Halbsatz SGG "vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts endgültig trägt." (vgl. dazu Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, §109 Rdn. 27). Diesen Beschluss hat das SG jedoch erst im Jahr 2018 getroffen, so dass eine Verjährung auch unter diesem Aspekt noch nicht eingetreten sein kann.

Auch eine Verwirkung des Antragsrechts liegt – entgegen der Ansicht des SG – nicht vor. Die Verwirkung als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung wegen einer gegen Treu und Glauben verstoßenden verspäteten Geltendmachung von Rechten setzt neben einem Zeitmoment, ein Umstandsmoment voraus. Ein Recht ist verwirkt, wenn sich der Schuldner wegen der Untätigkeit seines Gläubigers über einen gewissen Zeitraum hin bei objektiver Beurteilung darauf einrichten darf und eingerichtet hat, dieser werde sein Recht nicht mehr geltend machen, so dass die verspätete Geltendmachung gegen Treu und Glauben verstößt. Zu dem Zeitablauf müssen besondere, auf dem Verhalten des Berechtigten beruhende Umstände hinzutreten, die das Vertrauen des Verpflichteten rechtfertigen, der Berechtigte werde sein Recht nicht mehr geltend machen (ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes für Zivilsachen vgl. zuletzt BGH, Urteil vom 23. Januar 2014, VII ZR 177/13, juris; Staudinger-Kommentar, §§ 241-243, 2015, zu § 242 Rdn. 300 ff).

Im vorliegenden Fall sind außer der mehrjährigen schlichten Untätigkeit des Klägers keine Tatsachen erkennbar, die bei der Landeskasse den berechtigten Eindruck hätten entstehen lassen können, der Kläger werde von seinem Recht auf Stellung eines Kostenübernahmeantrags keinen Gebrauch mehr machen. Hierbei darf nicht übersehen werden, dass zwischen Verjährungsvorschriften und dem Rechtsinstitut der Verwirkung ein enger Zusammenhang besteht. Je weiter die Verjährungsvorschrift mittels Verwirkung unterschritten werden soll, desto höher werden die Anforderungen an das Umstandsmoment zu stellen sein (so Staudinger-Kommentar, §§ 241-243, 2015, zu § 242 Rdn. 312). Da für den Kostenerstattungsanspruch bereits das Vorliegen einer Verjährungsvorschrift zweifelhaft ist bzw. eine Verjährung des Anspruchs im vorliegenden Fall aus den oben genannten Gründen nicht einmal annähernd gegeben sein kann, sind daher sehr hohe Anforderungen an das Umstandsmoment zu stellen, die hier erkennbar nicht gegeben sind. Haushalterische und haushaltstechnische Überlegungen sind in diesem Zusammenhang sachfremd und zudem nicht gewichtig genug, um ohne entsprechende gesetzliche Grundlage einen Eingriff in bestehende Vermögensrechte des Klägers zu rechtfertigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Kostenpflichtig ist im Falle der erfolgreichen Beschwerde die Staatskasse.

Die Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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