L 4 KR 3494/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 15 KR 4230/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 KR 3494/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 7. August 2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Im Streit steht die Übernahme von über den Festbetrag hinausgehenden Mehrkosten für Arzneimittel.

Die 1956 geborene, bei der Beklagten krankenversicherte Klägerin leidet u.a. an arterieller Hypertonie, Diabetes mellitus Typ 2 und Hyperlipoproteinämie.

Am 9. Oktober 2014 beantragte sie mit auf den 10. Oktober 2014 datiertem Schreiben bei der Beklagten unter Vorlage einer Apothekenrechnung die Erstattung des Eigenanteils für das verschreibungspflichtige Arzneimittel Crestor® 5 mg (Wirkstoff Rosuvastatin) in Höhe von EUR 81,82 sowie für die Zukunft die Versorgung mit dem genannten Arzneimittel ohne Begrenzung auf den Festbetrag. Zur Begründung führte sie aus, sie habe bereits mindestens vier verschiedene andere Statine (Cholesterinsenker) ausprobiert, die sie nicht vertragen habe und bei deren Anwendung ihre LDH (Lactatdehydrogenase)-Werte schlecht gewesen seien. Crestor® vertrage sie, und ihre Werte hätten sich erstmals gebessert.

In der Folge verordnete die Internistin D.-J. ab dem 1. Januar 2015 das Arzneimittel Crestor® am 25. Februar, 15. Juni, 30. September 2015, 21. Januar, 30. Mai 2016, 8. August und 13. November 2017 sowie am 4. Juni 2018.

Der Wirkstoff Rosuvastatin wurde zum 5. Dezember 2009 durch Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 15. Oktober 2009 – unter Berücksichtigung des damals (bis 2017) bestehenden Patentschutzes des Arzneimittels – in die Festbetragsgruppe "HMG-CoA-Reduktionshemmer, Gruppe 1" in Stufe 2 aufgenommen (BAnz. Nr. 184 S. 4 112).

Mit Bescheid vom 13. Oktober 2014 lehnte die Beklagte sowohl Kostenerstattung als auch die zukünftige Versorgung mit dem begehrten Arzneimittel ohne Begrenzung auf den Festbetrag ab. Sei – wie vorliegend – für ein Arzneimittel ein Festbetrag festgesetzt, trage die Krankenkasse die Kosten nur bis zur Höhe dieses Betrages. Ausnahmen gebe es selbst dann nicht, wenn im Einzelfall medizinisch begründet nur ein Arzneimittel oberhalb des Festbetrags verwendet werden könne.

Zur Begründung des dagegen eingelegten Widerspruches verwies die Klägerin auf ihr Antragsschreiben. Auf Anfrage der Beklagten gab Ärztin D.-J. in Attesten vom 3. und 7. November 2014 an, im gesamten Krankheitsverlauf der Klägerin seien Arzneimittel mit folgenden Wirkstoffen verordnet worden, jeweils mit den genannten Nebenwirkungen: • Ab Februar 2010 Simvastatin: Übelkeit, abdominelle Beschwerden und Dyspepsie • Ab September 2010 Fluvastatin: rezidivierende Kopfschmerzen, Parästhesien, Hypästhesien • Ab November 2012 Atorvastatin: Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit • Ab März 2014 Pravastatin: abdominelle Beschwerden, Dyspepsie, Flatulenzen. Nach dem Absetzen dieser Präparate sei die beschriebene Symptomatik jeweils rückläufig gewesen. Eine andere Ursache für die genannten Symptome seien im Rahmen einer ausführlichen Anamnese und einer Untersuchung inklusive Laborbefunden ausgeschlossen. Aufgrund multipler Risikofaktoren mit Diabetes mellitus, arterieller Hypertonie und Hyperlipoproteinämie sei eine präventive Therapie mit einem lipidsenkenden Präparat zwingend indiziert.

Im Gutachten vom 14. November 2014 führte Dr. S., Medizinischer Dienst der Krankenversicherung (MDK), aus, Crestor® sei in Deutschland das einzige Präparat mit dem Wirkstoff Rosuvastatin. Es handle sich um ein für die vorliegende Indikation zugelassenes, verkehrsfähiges Arzneimittel. Weitere alternativ einsetzbare Fettsenker seien z.B. Anionenaustauscherharze, Fibrate und Nikotinsäure. Die geschilderten Nebenbewirkungen auf andere Arzneimittel seien zwar durch ärztliche Befundberichte weitgehend objektiviert. Der Schweregrad einer behandlungsbedürftigen Erkrankung sei aber nicht nachvollziehbar. Indiz für eine die ausnahmsweise mehrkostenfreie Versorgung rechtfertigende, behandlungsbedürftige Nebenbewirkung sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Meldung derselben durch den Arzt nach § 6 Musterberufsordnung für Ärzte an die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft oder an das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte. Eine derartige Meldung sei den vorliegenden Unterlagen nicht zu entnehmen. In einem weiteren Gutachten vom 10. Dezember 2014 führte er ergänzend aus, es sei wahrscheinlich, dass die Nebenbewirkungen nicht die Schwere einer behandlungsbedürftigen Krankheit erfüllten und deshalb nicht gemeldet worden seien.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19. Januar 2015 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch als unbegründet zurück. Hinsichtlich der Kostenerstattung in Höhe von EUR 81,62 sei der Versorgungsweg aus § 13 Abs. 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) nicht eingehalten. Die Klägerin habe sich das Arzneimittel besorgt und erst anschließend die Kostenübernahme bei der Beklagten beantragt. Auch ein Anspruch auf mehrkostenfreie Versorgung als Sachleistung bestehe nicht. Sofern für eine Leistung ein Festbetrag festgesetzt worden sei, erfülle die Beklagte nach § 12 Abs. 2 SGB V ihre Leistungspflicht mit dem Festbetrag. Nur wenn aufgrund ungewöhnlicher Individualverhältnisse keine ausreichende Versorgung zum Festbetrag möglich sei, dürfe die Beklagte die vollen Kosten des Arzneimittels übernehmen (Verweis auf BSG, Urteil vom 3. Juli 2012 – B 1 KR 22/11 R – juris). Für Statine wie den Wirkstoff des begehrten Crestor® (Rosuvastatin) bestehe seit 2005 ein zwischenzeitlich mehrfach abgesenkter Festbetrag von – derzeit – EUR 15,03. Damit eine vollständige Kostenübernahme für das von der Klägerin beantragte Arzneimittel in Betracht komme, müssten alle Statin-Wirkstoffe, gegebenenfalls mit allen Fertigarzneimitteln, die Kosten bis zum geltenden Festbetrag verursachten, erfolglos oder mit erheblichen, das Maß einer eigenständigen Krankheit erreichenden Nebenwirkungen "ausprobiert" worden sein. Der Klägerin seien von ihrer Ärztin noch nicht alle Arzneimittel aus der Gruppe der Statine verordnet worden, so ein zum Festbetrag erhältliches Präparat mit dem Wirkstoff Pitavastatin bzw. dem Wirkstoff Lovastatin. Gleiches gelte für Arzneimittel mit anderen lipidsenkenden Wirkstoffen. Auch seien die bei der Klägerin durch Einnahme der bereits getesteten Arzneimittel bestehenden Nebenwirkungen nicht derart gravierend, dass diesbezüglich eine eigenständige Krankheit angenommen werden könne.

Bereits am 10. Dezember 2014 erhob die Klägerin Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG). Zur Begründung ihrer Klage verwies die Klägerin auf ihr bisheriges Vorbringen. Sie sei als Schwerbehinderte und chronisch Kranke kein Versuchskaninchen, das Mengen von Arzneimitteln ausprobiere, um zu einem billigen Ergebnis für die Beklagte zu kommen.

Die Beklagte trat der Klage unter Verweis auf den Widerspruchsbescheid entgegen.

Das SG hörte Ärztin D.-J. als sachverständige Zeugin, die unter dem 10. März 2015 die Behandlung mit den in den Attesten vom 3. und 7. November 2014 genannten Präparaten und die dort angegebenen Nebenbewirkungen, die man als eigenständige Krankheit einstufen könne, bestätigte. Laut Studien sei die Wirksamkeit der anderen von der Beklagten genannten Präparate nicht belegt.

Mit Gerichtsbescheid vom 7. August 2015 wies das SG die Klage ab. Ergänzend zu den Gründen des Widerspruchsbescheides führte es aus, unabhängig davon, ob die anderen, der Klägerin verordneten Arzneimittel bereits derart gravierende Nebenwirkungen i.S.e. eigenständigen Krankheit hervorgerufen hätten, könne jedenfalls die Alternativlosigkeit des Arzneimittels Crestor® nicht nachgewiesen werden. Denn es seien nicht alle zum Festbetrag in Betracht kommenden Arzneimittelalternativen bereits erfolglos ausgeschöpft worden. Nach der Auskunft von Ärztin D.-J. habe die Klägerin nachweislich zumindest die ebenfalls der Statinen-Gruppe zuzuordnenden Medikamente mit dem Wirkstoff Pitavastatin und dem Wirkstoff Lovastatin noch nicht angewendet. Auch andere Wirkstoffe wie z.B. Fibrate, Anionentauschharze und Cholesterol-Absorptions-Hemmer hätten lipidsenkende Wirkung. Es sei nicht ersichtlich, dass die Nutzung der bestehenden Alternativen der Klägerin nach den Regeln der ärztlichen Kunst nicht zumutbar sei.

Gegen diesen ihr am 11. August 2015 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 18. August 2015 Berufung eingelegt und zur Begründung vorgetragen, Lovastatin habe sie nachweislich angewendet. Pitavastatin habe ihre Ärztin nicht in der Liste aktueller Arzneimittel gefunden; in Deutschland gebe es diese nicht. Dies sei ihr auch von ihrer Apotheke bestätigt worden. Seit Oktober 2014 bis zum 17. Mai 2018 habe sie Mehrkosten für Crestor® (ohne Zuzahlung) in Höhe von insgesamt EUR 887,52 aufgewandt. Die Klägerin hat Bescheinigungen zweier Apotheken über Zuzahlungen und Eigenanteile für den Zeitraum vom 1. Januar 2015 bis 8. Mai 2018 sowie eine Apothekenrechnung vom 8. August 2017 vorgelegt.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 7. August 2015 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13. Oktober 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Januar 2015 zu verurteilen, ihr für das seit dem 9. Oktober 2014 selbstbeschaffte Arzneimittel Crestor® Kosten in Höhe von EUR 887,52 zu erstatten und sie zukünftig nach ärztlicher Verordnung mit dem Arzneimittel Crestor® ohne Begrenzung auf den Festbetrag zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Über ihr bisheriges Vorbringen hinaus hat sie ausgeführt, Pitavastatin sei nach dem WEBAPO-Infosystem der Fa. Lauer GmbH (Lauer-Taxe; Stand 1. Februar und 1. Juni 2016) als Livazo® in Deutschland von Apotheken sowohl über den Großhandel als auch beim Hersteller (wieder) erhältlich. Unabhängig davon seien aus der Gruppe der Statine sehr viele Fertigarzneimittel zum Festbetrag oder günstiger erhältlich. Allein bei einer Wirkstoffmenge von 20 mg und der Packungsgröße N3 seien es 72 Fertigarzneimittel (Wirkstoffe Fluvastatin, Atorvastatin, Pravastatin, Simvastatin und Lovastatin); entsprechende Ausdrucke aus der Lauer-Taxe hat sie vorgelegt. Nach der Rechtsprechung des BSG sei der Nachweis zu erbringen, dass jedes dieser Arzneimittel wegen erheblicher Nebenbewirkungen ausscheide.

Der Senat hat Ärztin D.-J. erneut als sachverständige Zeugin schriftlich vernommen. Unter dem 4. Januar 2016 hat diese angegeben, bei der Therapie mit Crestor® seien keine Nebenbewirkungen oder Komplikationen aufgetreten. Von Anfang bis Ende Juli 2015 sei die Klägerin mit Lovastatin behandelt worden. Dabei seien starke Myogelosen an den Oberarmen und Oberschenkeln, dyspeptische Beschwerden, Blähungen und Übelkeit aufgetreten.

Der Berichterstatter hat am 10. Februar 2016 eine Internetrecherche durchgeführt. Nach dem abrufbaren (aber nicht druckfähigen; Suchstichworte Pitavastatin und Deutschland) Arzneiverordnungsreport 2014 unter Ziff. 3.4 (S. 183) sei Pitavastatin im Februar 2013 vom Hersteller aus wirtschaftlichen Gründen zumindest in Deutschland vom Markt genommen worden. Die Pharmazeutische Zeitung online (Stand 29. Juni 2015) hat das genannte Arzneimittel (Livazo®) als "in Deutschland nicht im Handel" geführt. Andere Fertigarzneimittel mit dem genannten Wirkstoff sind bei der Internetsuche ebenfalls nicht gefunden worden (Bl. 36 der Senatsakte). Nach einer weiteren Internetrecherche am 20. Mai 2016 war das Arzneimittel Livazo® in zwei Online-Apotheken angeboten worden (Bl. 54/58 der Senatsakte).

Nach einer schriftlichen Auskunft des Herstellers von Livazo® vom 10. Juni 2016 sei dieses seit Inhandelnahme am 15. Januar 2016 nicht verfügbar und demnach im Großhandel und Apotheken nicht erhältlich.

Die Beteiligten habe sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten sowie der Verfahrensakten des SG und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die Berufung der Klägerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig. Sie ist gemäß § 143 SGG statthaft und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegt. Die Berufung bedurfte gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG auch nicht der Zulassung, denn die Klägerin begehrt die regelmäßig wiederkehrende Versorgung mit dem begehrten Arzneimittel ohne zeitliche Begrenzung und damit für die Dauer von mehr als einem Jahr (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

2. Streitgegenstand ist der Anspruch der Klägerin auf Vollversorgung mit dem Festbetragsarzneimittel Crestor® als Sachleistung für die Zukunft und als sachleistungsersetzende Kostenerstattung für die Vergangenheit. Nicht streitgegenständlich ist die zugrundeliegende Festbetragsfestsetzung der Statine als Wirkstoff, die die Klägerin nicht in Zweifel zieht.

3. Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 13. Oktober 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Januar 2015 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

a) Rechtsgrundlage des Anspruchs der Klägerin gegen die Beklagte auf zukünftige festbetragsfreie Arzneimittelversorgung mit Crestor® als Naturalleistung ist § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, § 31 SGB V. Daran knüpft auch der Anspruch auf Erstattung der der Klägerin entstandenen Kosten für die Vergangenheit nach § 13 Abs. 3 Satz 1 Fall 2 SGB V an. Denn der Anspruch auf Kostenerstattung für die Vergangenheit reicht nicht weiter als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch; er setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte und zukünftig zu beschaffende Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BSG, Urteil vom 3. Juli 2012 – B 1 KR 22/11 R – juris, Rn. 11).

Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V u.a. die Versorgung mit Arzneimitteln. Versicherte haben nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit diese nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossen sind. Die Versicherten erhalten nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V die Leistungen als Sach- und Dienstleistungen, soweit das SGB V oder das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) nichts Abweichendes vorsehen. Für ein Arznei- oder Verbandmittel, für das ein Festbetrag nach § 35 oder § 35a SGB V festgesetzt ist, trägt nach § 31 Abs. 2 Satz 1 SGB V die Krankenkasse (nur) die Kosten bis zur Höhe dieses Festbetrags. Ist für eine Leistung – wie hier für Crestor® – wirksam ein Festbetrag festgesetzt, erfüllt die Krankenkasse damit grundsätzlich ihre Leistungspflicht gegenüber dem Versicherten mit dem Festbetrag (vgl. § 12 Abs. 2 SGB V).

Die Festbetragsregelung als Ausdruck des Wirtschaftlichkeitsgebot garantiert für die Versicherten im Wesentlichen eine Gleichbehandlung, indem sie die Rechtsgrundlage schafft, um typische Fälle in Gruppen zusammenzufassen (auch im Folgenden BSG, Urteil vom 3. Juli 2012 – B 1 KR 22/11 R – juris, Rn. 13 ff., m.w.N.; siehe auch BSG, Beschluss vom 25. Januar 2017 – B 1 KR 8/16 BH – juris, Rn. 7 f.). Dies erleichtert auch die Erfüllung der Aufgabe, die Versicherten nach dem jeweiligen Stand der medizinischen Erkenntnis oder dem Stand der Technik angemessen zu versorgen. Die Konkretisierung des Wirtschaftlichkeitsgebots durch das Verfahren nach §§ 35, 36 SGB V macht das Verwaltungshandeln der Krankenkassen für die Teilnehmer am Gesundheitsmarkt effektiver und vorhersehbarer. Die Festbetragsfestsetzung gilt jeweils für eine Gruppe von Arzneimitteln (§ 35 Abs. 1 Satz 2 SGB V) und setzt hierfür die Geldbeträge fest, mit denen einerseits eine ausreichende medizinische Versorgung gewährleistet, andererseits aber ein Preiswettbewerb unter den Herstellern ermöglicht werden soll (§ 35 Abs. 5 Satz 1 und 2 SGB V). Die gesetzlich vorgegebenen Kriterien der Festbetragsfestsetzung sind nicht an den individuellen Verhältnissen des einzelnen Patienten ausgerichtet, sondern orientieren sich in generalisierender Weise an allen Versicherten. Dementsprechend sind die Festbeträge so festzusetzen, dass sie lediglich "im Allgemeinen" eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche sowie in der Qualität gesicherte Versorgung gewährleisten (§ 35 Abs. 5 Satz 1 SGB V). Nur in einem atypischen Ausnahmefall, in dem – trotz Gewährleistung einer ausreichenden Arzneimittelversorgung durch die Festbetragsfestsetzung im Allgemeinen – aufgrund der ungewöhnlichen Individualverhältnisse keine ausreichende Versorgung zum Festbetrag möglich ist, greift die Leistungsbeschränkung auf den Festbetrag nicht ein. Aufgrund ungewöhnlicher Individualverhältnisse ist keine ausreichende Versorgung zum Festbetrag mehr möglich, wenn die zum Festbetrag erhältlichen Arzneimittel unerwünschte Nebenwirkungen verursachen, die über bloße Unannehmlichkeiten oder Befindlichkeitsstörungen hinausgehen und damit die Qualität einer behandlungsbedürftigen Krankheit (§ 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V) erreichen. Die Beurteilung der Verursachung richtet sich nach der im Sozialrecht maßgeblichen Theorie der wesentlichen Bedingung. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen muss in Gerichtsverfahren grundsätzlich zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen. Lediglich für die zu prüfenden Kausalzusammenhänge genügt die überwiegende Wahrscheinlichkeit. Nach allgemeinen Grundsätzen tragen die Versicherten hierfür die objektive Beweislast.

b) Unter Anlegung dieser Maßstäbe kann die Klägerin keine Vollversorgung mit dem Arzneimittel Crestor® ohne Begrenzung auf die hierfür festgesetzten Festbeträge beanspruchen. Der Senat kann keine ungewöhnlichen Individualverhältnisse feststellen, die einer ausreichenden Arzneimittelversorgung zum Festbetrag entgegenstehen. Eine "Alternativlosigkeit" der Behandlung mit Crestor® bestand und besteht nicht.

aa) Dass bei der Klägerin – bezogen auf das Behandlungsziel der Hyperlipoproteinämie – allein Crestor® wirksam gewesen wäre, ist nicht belegt. Solches ergibt sich insbesondere nicht aus den Attesten vom 3. und 7. November 2014 und der sachverständigen Zeugenaussage vom 4. Januar 2016 der Ärztin D.-J ...

bb) Im gesamten Krankheitsverlauf sind der Klägerin Arzneimittel mit folgenden Wirkstoffen der Gruppe der Statine verordnet worden: ab Februar 2010 Simvastatin, ab September 2010 Fluvastatin, ab November 2012 Atorvastatin, ab November 2012 Atorvastatin, ab März 2014 Pravastatin sowie im Juli 2015 Lovastatin. Dies entnimmt der Senat den Angaben der Ärztin D.-J. auf Anfrage der Beklagten in den Attesten vom 3. und 7. November 2014 sowie in ihrer schriftlichen Aussage als sachverständige Zeugin vom 4. Januar 2016. Damit hat die Klägerin neben dem Wirkstoff des begehrten Arzneimittels (Rosuvastatin) mit Ausnahme des Wirkstoffes Pitavastatin alle in der Festbetragsgruppe "HMG-CoA-Reduktionshemmer" enthaltenen Wirkstoffe getestet. Ein Fertigarzneimittel mit dem Wirkstoff Pitavastatin konnte sich die Klägerin jedoch nicht verschaffen. Das auch von der Beklagten als einziges diesen Wirkstoff enthaltende Fertigarzneimittel Livazo® wurde zwar bei einer Internetabfrage am 20. Mai 2016 in zwei Online-Apotheken angeboten. Dass es tatsächlich lieferbar war, ergibt sich hieraus jedoch nicht. Vielmehr hatte eine Internetrecherche am 10. Februar 2016 zum Ergebnis, dass Pitavastatin im Februar 2013 vom Hersteller aus wirtschaftlichen Gründen zumindest in Deutschland vom Markt genommen worden war (Arzneiverordnungsreport 2014 unter Ziff. 3.4, S. 183). Die Pharmazeutische Zeitung online (Stand 29. Juni 2015) führte das genannte Arzneimittel (Livazo®) als "in Deutschland nicht im Handel". Nach Auskunft des Herstellers von Livazo® vom 10. Juni 2016 war dieses seit Inhandelnahme am 15. Januar 2016 nicht verfügbar und demnach im Großhandel und Apotheken nicht erhältlich. Dies entspricht auch den Angaben der Klägerin, dass sie dieses Fertigarzneimittel über eine Apotheke nicht habe beziehen können. Als weitere alternativ einsetzbare Fettsenker kommen hingegen z.B. Anionenaustauscherharze, Fibrate und Nikotinsäure in Betracht. Dies entnimmt der Senat dem überzeugenden Gutachten von Dr. S ... Die undifferenzierte und unbelegte Behauptung von Ärztin D.-J., die Wirksamkeit von Pitavastatin, Lovastatin, Anionenaustauscherharze, Fibrate und Cholesterol-Absorptionshemmern sei nicht belegt, vermag daher nicht zu überzeugen. Behandlungsversuche mit Anionenaustauscherharzen, Fibraten und Nikotinsäure sind bei der Klägerin nicht unternommen worden.

cc) Dass die von Ärztin D.-J. für die Zeiträume der Behandlung mit anderen Statinen angegebenen Nebenwirkungen alle über bloße Unannehmlichkeiten oder Befindlichkeitsstörungen hinausgingen und damit die Qualität einer behandlungsbedürftigen Krankheit erfüllten, vermag der Senat nicht festzustellen. Solches wurde von Ärztin D.-J. zwar angegeben, lässt sich deren weiteren Angaben aber in dieser Absolutheit nicht entnehmen. So wurden – ohne differenzierende Darstellung von Ausmaß, Stärke und Dauer – zur Behandlung mit Simvastatin lediglich Übelkeit, abdominelle Beschwerden und Dyspepsie angegeben sowie bei Pravastatin abdominelle Beschwerden, Dyspepsie und Flatulenzen. Inwiefern diese Beschwerden einer eigenen Behandlung bedurft hätten oder dass eine solche während der Anwendung des jeweiligen Wirkstoffes auch tatsächlich erfolgt ist, wurde nicht dargelegt und ist für den Senat nicht ersichtlich.

dd) Es ist des Weiteren nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die angegebenen Nebenbewirkungen durch den jeweiligen Wirkstoff verursacht wurden. Denn die Klägerin hat nicht mehrere Fertigarzneimittel mit den jeweiligen Wirkstoffen getestet. Gegenteiliges hat sie auf entsprechenden Einwand der Beklagten – selbst nicht behauptet und wird auch von Ärztin D.-J. nicht angegeben. Hinsichtlich der Wirkstoffe Fluvastatin und Lovastatin ist dies schon angesichts des jeweils angegebenen Behandlungszeitraums von zwei Monaten bzw. einem Monat nicht zu erwarten. Ohne die Testung anderer, wirkstoffgleicher Fertigarzneimittel kann keine Wahrscheinlichkeit der Verursachung der angegebenen Beschwerden gerade durch den Wirkstoff und nicht durch andere Inhaltsstoffe beurteilt werden. Der erforderliche kausale Zusammenhang muss auch – abgesehen von dem beanspruchten – hinsichtlich aller anderen Festbetragsarzneimittel mit überwiegender Wahrscheinlichkeit bestehen (BSG, Urteil vom 3. Juli 2012 – B 1 KR 22/11 R – juris, Rn. 25). Zutreffend hat die Beklagte darauf hingewiesen, dass allein bei einer Wirkstoffmenge von 20 mg und der Packungsgröße N3 72 Fertigarzneimittel mit den Wirkstoffen Fluvastatin, Atorvastatin, Pravastatin, Simvastatin und Lovastatin zum Festbetrag oder günstiger erhältlich sind. Dies entnimmt der Senat den vorgelegten Ausdrucken aus der Lauer-Taxe. Es kann offenbleiben, ob es der Klägerin zumutbar wäre, tatsächlich alle Fertigarzneimittel zu testen, wenn bei mehreren getesteten, wirkstoffgleichen Fertigarzneimitteln jeweils dieselben Nebenbewirkungen aufträten. Denn mehrere wirkstoffgleiche Fertigarzneimittel hat die Klägerin gerade nicht getestet. Gleiches gilt nach derzeitigem Sachstand auch für andere Fertigarzneimittel mit dem Wirkstoff Rosuvastatin nach Ablauf des entsprechenden Patentes.

c) Ein Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit dem Festbetragsarzneimittel Crestor® ergibt sich auch nicht aus § 13 Abs. 3a SGB V. Denn eine Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V ist nicht eingetreten. Nach § 13 Abs. 3a SGB V hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des MDK, eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden (Satz 1). Kann die Krankenkasse Fristen u.a. nach Satz 1 nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit (Satz 5). Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt (Satz 6). Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet (Satz 7).

Die Klägerin wandte sich erstmalig am 9. Oktober 2014 wegen der Übernahme der über den Festbetrag hinausgehenden Kosten des Festbetragsarzneimittels Crestor® an die Beklagte. Damit begann die Frist des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V am 10. Oktober 2014 zu laufen (§ 26 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB X] i.V.m. § 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]). Die Beklagte entschied mit Bescheid vom 13. Oktober 2014, mithin deutlich vor Ablauf der Dreiwochenfrist am 30. Oktober 2014 (§ 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. §§ 188 Abs. 2, 193 BGB). Der Bescheid vom 13. Oktober 2014 ging der Klägerin vor dem 30. Oktober 2014 zu. Denn sie erhob am 15. Oktober 2014 Widerspruch gegen diesen Bescheid.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

5. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG), liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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