L 11 SF 2/17 EK KN

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 11 SF 2/17 EK KN
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 10 ÜG 10/18 B
Datum
Kategorie
Urteil
Bemerkung
NZB als unzulässig verworfen
Das beklagte Land wird verurteilt, dem Kläger eine Entschädigung von 700,00 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.01.2017 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits zu ¾, das beklagte Land zu ¼. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Entschädigung wegen Staatshaftung nach § 198 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG). Er macht eine unangemessene Dauer des Gerichtsverfahrens S 14 KN 203/13 Sozialgericht (SG) Duisburg geltend.

Am 01.02.2013 erhob er die Klage vor dem SG Duisburg, mit der er die Berücksichtigung zusätzlicher Zeiten im Versicherungsverlauf und bei der Rentenzahlung begehrte. Nach Eingang der Klageerwiderung wies das SG den Kläger darauf hin, dass entgegen seinem Vortrag beim SG Düsseldorf kein von ihm geführtes Verfahren bekannt sei. Nach mehrfacher Erinnerung und Anhörung zum Gerichtsbescheid am 14.01.2014 nahm der Kläger erstmals am 14.02.2014 Stellung. Nach weiterem Schriftwechsel übersandte das SG dem Kläger eine Stellungnahme der Beklagten am 18.06.2014 zur Kenntnis. Danach war die Streitsache ab 11.07.2014 zur Sitzung vorgesehen. Im März 2015 informierte die Beklagte das Gericht über die Bewilligung von Regelaltersrente an den Kläger. Das SG teilte den Beteiligten mit, dass der Bescheid Gegenstand des Verfahrens geworden sein dürfte. Das Schreiben der Beklagten erhielt der Kläger zur Stellungnahme. Zusammen mit seiner Stellungnahme vom 16.04.2015 erhob der Kläger Verzögerungsrüge. Am 02.07.2015 übersandte die Beklagte eine weitere Verwaltungsakte einschließlich des zwischenzeitlich ergangenen Widerspruchsbescheids zur Bewilligung von Regelaltersrente. Der Kläger teilte daraufhin am 06.07.2015 mit, dass der Widerspruchsbescheid zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werde. Am 08.06.2016 wurde die Streitsache auf den 08.07.2016 geladen. Am 07.07.2016 nahm der Kammervorsitzende telefonisch Rücksprache bei der AOK, ob dort weitere Unterlagen über den Kläger existierten. Nach mündlicher Verhandlung wurde die Klage am 08.07.2016 abgewiesen.

Gegen das ihm am 16.07.2016 zugestellte Urteil legte der Kläger am 26.07.2016 Berufung ein (L 18 KN 76/16 Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen). Nach Stellungnahme der Beklagten am 05.09.2016 wurde die Streitsache am 14.09.2016 zum Erörterungstermin am 25.10.2016 geladen. Am 14.10.2016 erklärte der Kläger die Berufungsrücknahme.

Am 02.01.2017 hat der Kläger eine Entschädigungsklage (§ 198 GVG) vor dem erkennenden Senat anhängig gemacht. Zur Begründung trägt er vor, der Streitgegenstand des Ausgangsverfahrens sei sehr einfach gelagert gewesen. Es sei lediglich zu klären gewesen, ob er auch im Zeitraum 01.03.1982 bis 28.05.1982 arbeitslos gewesen sei. Nach seinem Beweisantritt vom 14.02.2014 habe das SG nichts mehr getan. Am 16.04.2015 habe er Verzögerungsrüge erhoben. Am 08.07.2016 habe das SG durch Urteil entschieden ohne die von ihm benannte Zeugin zu hören. Das Berufungsverfahren sei zügig verlaufen und spiele bei der Feststellung der unangemessenen Prozessdauer keine Rolle. Die vom Gesetz vorgesehene Bearbeitungszeit für Rechtsanwälte betrage 14 Tage (z.B. §§ 276, 277 Abs. 3 ZPO). Die Ansprüche und Zeitvorstellungen, die der Gesetzgeber an die Parteien und Rechtsanwälte stelle, stelle er prinzipiell auch an seine Gerichte. Es bestehe kein Recht der Gerichte, Prozessakten unbearbeitet liegen zu lassen oder langsamer und weniger effektiv zu arbeiten als Anwälte und Prozessparteien. Die Gerichte könnten diese Verpflichtung gegenüber dem Rechtsstaat erfüllen, wenn der Staat die dafür notwendige Anzahl von qualifizierten und motivierten Richtern und Mitarbeitern bereitstelle und Arbeitsabläufe vereinfache und optimiere. Das SG Duisburg hätte daher nach seinem Schriftsatz vom 14.02.2014 innerhalb der nächsten vier Wochen, also bis spätestens zum 14.03.2014 einen Termin anberaumen müssen. Statt 1256 Tage hätte der Prozess maximal 409 Tage dauern dürfen. Es liege daher eine Sollüberschreitung von 2,3205 Jahren vor. Bei einer Entschädigung von 1.200,00 EUR pro Jahr ergebe sich die Klageforderung von 2.784,60 EUR. In der Sozialgerichtsbarkeit gebe es ebenso wenig wie in anderen Gerichtszweigen eine "übliche Vorbereitungs- und Bedenkzeit von zwölf Monaten". Es zähle nur die für den konkreten Prozess notwendige Bearbeitungszeit. Beim Arbeitsgericht betrage die durchschnittliche Prozessdauer bis zum Urteil in erster Instanz drei Monate, beim Sozialgericht 25 Monate. Beim durchschnittlichen konkreten Arbeitsaufwand bestehe zwischen den beiden Gerichtszweigen aber kein Unterschied. Die Diskrepanz beruhe ausschließlich auf den stark unterschiedlich vorhandenen Personalkapazitäten bezogen auf die Anzahl der jeweiligen Verfahren. Dies sei keine Rechtfertigung für eine überlange Verfahrensdauer.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

das beklagte Land zu verurteilen, ihm Entschädigung in Höhe von 2.784,60 EUR wegen unangemessener Dauer des Gerichtsverfahrens S 14 KN 203/13 (SG Duisburg) zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 02.01.2017 zu zahlen.

Das beklagte Land beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Ausgangsverfahren sei bis zur Stellungnahme der Beklagten am 17.06.2014 ausreichend aktiv gefördert worden. Erst danach sei bis zur Ladung vom 08.06.2016 keine Aktivität zu verzeichnen. Die Bedeutung des Verfahrens für den Kläger sei eher gering gewesen. Es sei lediglich um die Berücksichtigung einer Zeit der Arbeitslosigkeit vom 01.03.1982 bis 27.05.1982 im Versicherungsverlauf und damit eine höhere Rentenzahlung gegangen. Die Sicherung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage sei damit für den Kläger vom Ausgang des Klageverfahrens nicht abhängig gewesen. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung seien bei der Bewertung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer zwölf Monate "Vorbereitungs- und Bedenkzeit" zu berücksichtigen. Für das besonders schnell geführte Berufungsverfahren seinen weitere sieben Monate in Abzug zu bringen. Daher liege insgesamt keine unangemessene Verfahrensdauer vor.

Hinsichtlich des Sach- und Streitstands im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Streitakte S 14 KN 203/13 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte und im Übrigen zulässige Klage (nachfolgend I.) ist nur teilweise begründet. Der Kläger hat gegen das beklagte Land nur Anspruch auf Entschädigung wegen einer unangemessenen Dauer des Verfahrens S 14 KN 203/13 (SG Duisburg) in Höhe von 700,00 EUR (nachfolgend II.).

I.

Für eine Entschädigungsklage wegen unangemessener Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens sind § 198 Abs. 1 GVG sowie die §§ 183, 197a und 202 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in der ab 03.12.2011 geltenden Fassung durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGG) vom 24.11.2011 (BGBl. I 2302), zuletzt geändert durch das Gesetz über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung und zur Änderung weiterer gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften sowie des Bundesdisziplinargesetzes vom 06.12.2011 (BGBl. I 2554), maßgebend.

Davon ausgehend gilt:

1. Für die Entscheidung über die Klage ist das LSG Nordrhein-Westfalen zuständig. Nach § 200 Satz 1 GVG haftet das Land für Nachteile, die auf Grund von Verzögerungen bei Gerichten des Landes eingetreten sind. Für Klagen auf Entschädigung gegen das Land ist nach § 201 Abs. 1 Satz 1 GVG das Oberlandesgericht (OLG) zuständig, in dessen Bezirk das streitgegenständliche Verfahren durchgeführt wurde. Für sozialgerichtliche Verfahren ergänzt § 202 Satz 2 SGG diese Regelung dahin, dass die Vorschriften des 17. Titels des GVG (§§ 198 - 201 GVG) u.a. mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden sind, dass an die Stelle des OLG das LSG und an die Stelle der Zivilprozessordnung (ZPO) das SGG tritt.

Daraus folgt die Zuständigkeit des LSG Nordrhein-Westfalen; das streitgegenständliche Verfahren S 14 KN 203/13 (SG Duisburg) wurde im Bezirk des LSG Nordrhein-Westfalen geführt.

2. Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG statthaft (hierzu Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 12.02.2015 - B 10 ÜG 11/13 R -; Urteil vom 21.02.2013 - B 10 ÜG 1/12 KL -; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.12.2014 - L 10 SF 11/14 EK -; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27.05.2014 - L 2 SF 3228/13 EK -).

3. Der Kläger hat die Wartefrist des § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG eingehalten. Hiernach kann die Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs nach § 198 Abs. 1 GVG frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden (zur Wartefrist als Sachurteilsvoraussetzung: BSG, Urteil vom 05.05.2015 - B 10 ÜG 8/14 R -). Am 16.04.2015 hat der Kläger eine Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 3 Satz 1 GVG) erhoben. Bezogen hierauf hat er die Klage nach Fristablauf rechtshängig gemacht. Die Entschädigungsklage datiert vom 01.02.2013.

Er hat ebenfalls die Klagefrist nach § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG eingehalten. Danach muss die Klage spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens - hier der Berufungsrücknahme am 14.10.2016 - erhoben werden.

II.

Die Klage ist nur im ausgeurteilten Umfang begründet.

1. Das beklagte Land ist für die Entschädigungsklage nach § 200 Satz 1 GVG passiv legitimiert, weil es danach für Nachteile haftet, die aufgrund von Verzögerungen bei seinen Gerichten entstehen.

2. Der Kläger hat die nach § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG zwingend erforderliche Verzögerungsrüge am 16.04.2015 erhoben.

3. Das Ausgangsverfahren war im Umfang von sieben Monaten unangemessen lang. Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet.

a) Ausgangspunkt und erster Schritt der Angemessenheitsprüfung bildet die Feststellung der in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG definierten Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens. Kleinste relevante Zeiteinheit ist hierbei der Kalendermonat (BSG, Urteile vom 07.09.2017 - B 10 ÜG 1/16 R - und 12.02.2015 - B 10 ÜG 11/13 R -).

Das Gerichtsverfahren i.S.d. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG beginnt entsprechend der Legaldefinition des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG mit der Einleitung und endet mit dem rechtskräftigen Abschluss.

aa) Die "Einleitung" meint das Rechtshängigmachen des Rechtsstreits vor dem SG (§ 94 SGG). Abweichend von § 261 Abs.1 i.V.m. § 253 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) ist das der Zeitpunkt der Einreichung der Klageschrift, also deren Eingang bei Gericht. Der den Endzeitpunkt bestimmende rechtskräftige Abschluss (§ 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG) bezieht sich auf den Eintritt der formellen Rechtskraft. Diese richtet sich nach § 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 705 ZPO und bedeutet, dass die Entscheidung des Gerichts nicht mehr angefochten werden kann und damit endgültig (formell) rechtskräftig wird (vgl. Frehse, Die Kompensation der verlorenen Zeit, 1. Auflage, 2017, S. 797; von Nicolai, in: Redeker/von Oertzen, VwGO, § 121 Rdn. 1; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 141 Rdn. 2).

bb) Rechtsfehlerhaft wäre es, das Verfahren in einzelne Abschnitte (1. Instanz, 2. Instanz und 3. Instanz) zu parzellieren. Der Wortlaut des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG ist eindeutig: "Ein Gerichtsverfahren beginnt mit dessen Einleitung und endet mit rechtskräftigem Abschluss." Ein mehrzügiges Gerichtsverfahren ist demnach ein Gerichtsverfahren. Eine Splittung scheitert schon am insoweit nicht weiter auslegungsfähigen Wortlaut des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG (zur Normauslegung: Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 17.12.2013 - 1 BvL 5/08 -; zum Wortlaut als Grenze der Auslegung: BVerfG, Beschluss vom 20.10.1992 - 1 BvR 698/89 -; ausführlich auch Senat, Beschluss vom 27.11.2013 - L 11 KA 81/13 B ER -). Bezugspunkt für die Angemessenheitsprüfung (§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG) ist folglich die in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG bestimmte Verfahrensdauer, also der gesamte Zeitraum von der Einleitung des Verfahrens in der ersten Instanz bis zur Zustellung der endgültigen rechtskräftigen Entscheidung (BVerwG, Urteil vom 27.02.2014 - 5 C 1/13 D - und 11.07.2013 - 5 C 27.12 D -; Senat, Urteile vom 17.02.2016 - L 11 SF 85/16 EK SB und L 11 SF 86/16 EK SB - m.w.N.). Eine hiervon strikt zu trennende Frage ist, ob der jeweilige Kläger kraft ihm eingeräumter Dispositionsbefugnis nur die Dauer des gerichtlichen Verfahrens in allen Rechtsstufen zum Gegenstand des Entschädigungsverlangens machen kann oder auch eine Beschränkung auf die Verfahrensdauer in einer bestimmten Rechtsstufe möglich ist (hierzu BVerwG, Urteil vom 27.02.2014 - 5 C 1/13 D -; VGH Bayern, Beschluss vom 26.06.2015 - 23 A 14.2254 -). Das ist zu bejahen, denn der jeweilige Kläger verfügt über den Streitgegenstand (auch) der Entschädigungsklage. Dieser Streitgegenstand ist teilbar, infolgedessen ist ein Kläger befugt, die Entschädigungsklage auf einzelne Verfahrensabschnitte zu beschränken (BVerwG, Urteil vom 27.02.2014 - 5 C 1/13 D-). Das allerdings ändert nichts daran, dass wegen § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG materiell-rechtlicher Bezugsrahmen des geltend gemachten Entschädigungsanspruchs immer der Zeitraum von der Einleitung des Gerichtsverfahrens bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss bleibt (Senat, a.a.O.; Frehse, a.a.O., S. 802).

Auch BVerfG und EGMR gehen in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass grundsätzlich auf die Gesamtdauer des Verfahrens abzustellen ist (vgl. etwa EGMR, Urteile vom 24.06.2010 - 25756/09 - (P./Deutschland) und 30.03.2010 - 46682/07 - (Sinkovec/Deutschland); BVerfG, Beschlüsse vom 20.07.2000 - 1 BvR 352/00 - und 14.12.2010 - 1 BvR 404/10 -). Gegen die Möglichkeit, die materiell-rechtliche Prüfung auf eine Verfahrensstufe zu begrenzen, spricht vor allem der Umstand, dass eine lange Verfahrensdauer innerhalb einer Stufe gegebenenfalls durch eine zügige Verfahrensführung in einer anderen (höheren) Stufe ausgeglichen werden kann (vgl. EGMR, Urteile vom 07.01.2010 - 40009/04 - (von Köster/Deutschland) und 22.03.2012 - 23338/09 - (Kautzor/Deutschland); BVerfG, Beschlüsse vom 20.07.2000, a.a.O., und 14.12.2010, a.a.O.). Die Befugnis des Klägers, seinen Antrag infolge der Dispositionsmaxime einzuschränken, führt nicht dazu, dass der durch § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG bestimmte Gesamtzeitraum hinfällig wird. Hierüber können die Beteiligten nicht disponieren (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.09.2015 - 13 D 117/14 -, Urteil vom 28.09. 2015 - 13 D 27/14 -; VGH Bayern, Beschluss vom 26.06.2015 - 23 A 14.2254 -). Auch das Gericht ist an diese normative Vorgabe gebunden. Folglich kann ein Kläger eine Entschädigungsforderung präzisieren, indem er diese auf einen Teil des Gesamtzeitraums bezieht. Ob jedoch das rügebefallene Verfahren unangemessen gedauert hat, muss das Entschädigungsgericht mit Blick auf die Gesamtverfahrensdauer beurteilen. Etwaige Verzögerungen in der einen Instanz können durch zügige Bearbeitung in einer anderen Instanz ganz oder teilweise kompensiert werdend (BSG, Urteil vom 03.09.2014 - B 10 ÜG 12/13 R -; BGH, Urteil vom 10.04.2014 - III ZR 335/13 -; BVerwG, Urteile vom 27.02.2014 - 5 C 1/13 D - und 11.07.2013 - 5 C 23/12 D -; Senat, Urteil vom 25.11.2015 - L 11 SF 215/15 EK R -; LSG Hamburg, Urteil vom 30.10.2014 - L 1 SF 16/13 ESV -; LSG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 03.07.2014 - L 37 SF 34/14 EK AL - und 04.09.2013 - L 37 SF 66/12 EK VG -; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 29.11.2012 - L 10 SF 5/12 ÜG -).

cc) Nach diesen Maßgaben begann das Verfahren S 14 KN 203/13 mit Einreichung der Klage beim SG am 01.02.2013 und endete mit der Berufungsrücknahme am 14.10.2016. Der entschädigungsrechtlich relevante Zeitraum ist daher auf die Zeit vom 01.02.2014 bis 14.10.2016 festzulegen.

b) Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten des Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG). Der unbestimmte Rechtsbegriff "unangemessene Dauer eines Gerichtsverfahrens" ist insbesondere unter Rückgriff auf diejenigen Grundsätze auszulegen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und das BVerfG zum Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG)) sowie zum Justizgewährleistungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) entwickelt haben (BSG, Urteil vom 12.02.2015 - B 10 ÜG 7/14 R -).

aa) Feste Zeitvorgaben sind mit § 198 GVG nicht vereinbar. Die Vorschrift verbietet es nachgerade, die Angemessenheit der Verfahrensdauer mit Hilfe von Orientierungs- oder Richtwerten für die Laufzeit gerichtlicher Verfahren zu ermitteln, und zwar unabhängig davon, ob diese auf eigener Annahme, Erfahrungswerten oder auf statistisch basierten durchschnittlichen Verfahrenslaufzeiten beruhen (Senat, Urteile vom 22.04.2015 - L 11 SF 667/14 EK R -, 15.04.2015 - L 11 SF 546/14 EK KR -, und 27.08.2014 - L 11 SF 155/13 EK SO -; so auch BGH, Urteile vom 13.03.2014 - III ZR 91/13 - und 05.12.2013 - II ZR 73/13 -; BFH, Urteil vom 07.11.2013 - X K 13/12 -; BVerwG, Urteile vom 11.07.2013 - 5 C 27/12 D - und 11.07.2013 - 5 C 23/12 D -; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.12.2013 - L 37 SF 82/12 EK R -; OLG Karlsruhe, Urteil vom 19.12.2013 - 23 SchH 2/13 EntV -; LSG Thüringen, Urteile vom 18.06.2013 - L 3 SF 1149/12 EK -, 18.06.2013 - L 3 SF 1759/12 EK -, 18.06.2013 - L 3 SF 1147/12 EK -). Dies ergibt sich bereits aus dem Gesetzeswortlaut, nach dem sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer "nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter" richtet, folgt überdies aus der Gesetzesbegründung, der zufolge eine generelle Festlegung, wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, nicht möglich ist (BT-Drucks. 17/3802, S. 18). Auch die als Auslegungshilfe mit Orientierungsfunktion heranzuziehende Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK (hierzu BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04 -) lässt nicht ansatzweise den Schluss zu, der Gerichtshof habe feste Vorgaben entwickelt. Das Gegenteil ist der Fall. Jeder Sachverhalt wird auf der Grundlage der immer wiederkehrenden Eingangsformel

"Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Lichte der Umstände der Rechtssache sowie unter Berücksichtigung folgender Kriterien zu beurteilen ist: Komplexität der Rechtssache, Verhalten des Beschwerdeführers sowie der zuständigen Behörden und Bedeutung des Rechtsstreits für den Beschwerdeführer (siehe u.v.a. Frydlender./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 30979/96, Rdnr. 43, ECHR 2000-VII)."

einer individuellen Betrachtung unterzogen (z.B. EGMR, Urteil vom 04.09.2014 - 68919/10 - (Peter/Deutschland); Urteil vom 13.10.2011 - 37264/06 - (Mianowicz/Deutschland); Urteil vom 22.09.2011 - 28348/09 - (Otto/Deutschland); Urteil vom 21.07.2011 - 21965/09 - (Bellut/Deutschland); Urteil vom 07.06.2011 - 277/05 - (S.T.S./Niederlande)). Es gibt weder eine feste zeitliche Grenze noch hat der EGMR eine allgemeine Höchstdauer für Verfahren einer bestimmten Art definiert (vgl. Mayer-Ladewig, EMRK, 3. Auflage, 2011, Art 6. Rdn. 199; Meyer, in Karpenstein/Mayer, EMRK, 2. Auflage, 2015, Art. 6 Rdn. 76). So hat der EGMR eine Verfahrensdauer von zwölf Jahren und sieben Monaten durch mehrere Instanzen einschließlich des Kosten- und Vollstreckungsverfahrens unter Berücksichtigung der Komplexität der Sach- und Rechtslage und des Verhaltens des Beschwerdeführers als angemessen bewertet (EGMR, Urteil vom 04.02.2010 - 13791/06 - (Gromzig/Deutschland)). In Umsetzung der Rechtsprechung des EGMR benennt § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG deshalb nur beispielhaft ("insbesondere") solche Umstände, die für die Beurteilung der Angemessenheit besonders bedeutsam sind (BT-Drucks. 17/3802, S. 18), nämlich die Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.

bb) Die Verfahrensdauer ist unangemessen i.S.v. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete und den Gestaltungsspielraum der Gerichte bei der Verfahrensführung beachtende Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalls ("Gesamtabwägung") ergibt, dass die Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist (Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK). Die Verfahrensdauer muss insgesamt eine Grenze überschreiten, die sich auch unter Berücksichtigung gegenläufiger rechtlicher Interessen für den Betroffenen als sachlich nicht mehr gerechtfertigt oder unverhältnismäßig darstellt. Durch die Anknüpfung des gesetzlichen Entschädigungsanspruchs an die Verletzung konventions- und verfassungsrechtlicher Normen wird deutlich gemacht, dass die durch die lange Verfahrensdauer verursachte Belastung einen gewissen Schweregrad erreichen muss. Es reicht nicht jede Abweichung von einer optimalen Verfahrensführung aus (BGH, Urteil vom 13.02.2014 - III ZR 311/13 -). Allerdings verdichtet sich mit zunehmender Verfahrensdauer die gerichtliche Pflicht, sich nachhaltig um eine Förderung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen (BVerfG, Beschluss vom 20.09.2007 - 1 BvR 775/07 -; BGH, Urteil vom 12.02.2015 - III ZR 141/14 -).

Eine gleichzeitige inhaltlich tiefgehende Bearbeitung sämtlicher Verfahren, die bei einem Gericht anhängig oder einem Spruchkörper bzw. Richter zugewiesen sind, ist schon aus tatsächlichen Gründen nicht möglich und wird auch von Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG bzw. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK nicht verlangt (vgl. BGH, Urteil vom 12.02.2015 - III ZR 141/14 -; Urteil vom 13.02.2014 - III ZR 311/13 -; BSG, Urteil vom 03.09.2014 - B 10 ÜG 12/13 R -; BFH, Urteil vom 07.11.2013 - X K 13/12 -). Gerichte sind überdies wegen des Verfassungsgrundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) berechtigt, unter Beachtung des Gebots effektiven Rechtsschutzes einzelne (ältere und jüngere) Verfahren aus Gründen eines sachlichen, rechtlichen, persönlichen oder organisatorischen Zusammenhangs zu bestimmten Gruppen zusammenzufassen oder die Entscheidung einer bestimmten Sach- oder Rechtsfrage als dringlicher anzusehen als die Entscheidung anderer Fragen, auch wenn eine solche zeitliche "Bevorzugung" einzelner Verfahren jeweils zu einer längeren Dauer anderer Verfahren führt (BSG, Urteil vom 03.09.2014 - B 10 ÜG 2/13 R -). Inhaltliche Richtigkeit geht wegen Art. 20 Abs. 3 GG vor Schnelligkeit (Frehse, a.a.O., S. 115). Die gerichtliche Entscheidung ergeht idealerweise richtig und schnell. Immer aber muss sie richtig sein. Nimmt ein Richter infolge hoher Belastung oder Überlastung billigend in Kauf, zwar schnell, möglicherweise aber unrichtig zu entscheiden, verstößt er gegen die Vorgaben des Art. 20 Abs. 3 GG und ist infolge der durch Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK postulierten Anforderungen an die Qualität richterlicher Tätigkeit ggf. nicht mehr (gesetzlicher) Richter i.S.d. Art. 92 Satz 1 GG bzw. Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG. Je nach Bedeutung und Zeitabhängigkeit des Rechtsschutzziels und abhängig von der Schwierigkeit des Rechtsstreits sowie vom Verhalten des Rechtsschutzsuchenden sind diesem daher gewisse Wartezeiten zuzumuten. Grundsätzlich muss jedem Gericht eine ausreichende Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit zur Verfügung stehen (BGH, Urteil vom 12.02.2015 - III ZR 141/14 -, Urteil vom 13.03.2014 - III ZR 91/13 -; BSG, Urteil vom 03.09.2014 - B 10 ÜG 2/13 R -; OLG Frankfurt, Urteil vom 14.01.2015 - 4 EK 3/14 -), um dem Richtigkeitsgebot als dem wesentlichen Element des Justizgewährungsanspruchs Rechnung tragen zu können.

Unerheblich ist in diesem Kontext, ob das SG das Verfahren aus Sicht ex-post (hierzu BT-Drucks.17/3802, S. 18) optimal gefördert hat. Es ist nicht die Aufgabe des Entschädi-gungsgerichts, jede richterliche Verfahrenshandlung darauf zu überprüfen, ob und inwieweit sie sich ex-post als verfahrensfördernd oder -hemmend darstellt. Anspruchsauslösend sind vom Haftungssubjekt zu vertretenes Systemversagen und/oder strukturelle Defizite (zutreffend LSG Hessen, Urteil vom 06.02.2013 - L 6 SF 6/12 EK U -; hierzu auch LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 22.07.2014 - L 12 SF 47/13 EK U WA - zu strukturellen Defiziten der Sozialgerichtsbarkeit des Landes Mecklenburg-Vorpommern), nicht aber etwaige richterliche Pflichtwidrigkeiten (hierzu BT-Drucks. 17/3802, S. 19).

Auch Art. 97 Abs. 1 GG verlangt eine äußerst zurückhaltende Prüfung der Verfahrensgestaltung des Ausgangsgerichts. Losgelöst von der Frage, ob und inwieweit Entscheidungen des Entschädigungsgerichts die richterliche Unabhängigkeit des für das Ausgangsverfahren zuständigen Richters beeinträchtigen können, sind die Gewährleistungen des Art. 97 Abs. 1 GG und des Art. 19 Abs. 4 GG, letztere als Anspruch auf eine richtige Entscheidung in angemessener Zeit, in praktischer Konkordanz zu gewichten. Eine in richterlicher Unabhängigkeit getroffene und von Art. 97 Abs. 1 GG gedeckte zeitzehrende Maßnahme kann hiernach keinen Entschädigungsanspruch auslösen. Das wäre nicht nur ein Widerspruch in sich, wäre vielmehr nicht mehr von Art. 19 Abs. 4 GG gedeckt. Der Justizgewährungsanspruch greift nicht absolut und allumfassend. Er wird in seiner inhaltlichen Reichweite durch andere Verfassungssätze begrenzt. Hierzu rechnet die Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit (zum Spannungsverhältnis von Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 97 Abs. 1 GG s. BGH, Urteil vom 05.12.2013 - III ZR 73/13 -; vgl. auch BFH, Urteil vom 07.11.2013 - X K 13/12 - BVerwG, Urteil vom 11.07.2013 - 5 C 23/12 D -). Das Haftungssystem der §§ 198 ff. GVG strebt eine praktische Konkordanz zwischen effektivem Rechtsschutz, richterlicher Unabhängigkeit und Schutz der Justiz vor unnötigen Belastungen an (hierzu Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2010, 205; Roller, DRiZ-Beilage Juni 2012, 1, 2; zur Gemengelage der unterschiedlichen Interessen ausführlich die Gesetzesbegründung in BT-Drucks. 17/3802, S. 16 unter Gliederungspunkt 5.). Erst wenn das Gericht den Schutzbereich der richterlichen Unabhängigkeit verlässt, kann dies entschädigungsrelevant werden. Im Kernbereich der Rechtsprechung sind der Dienstaufsicht nach den Maßgaben der §§ 25, 25 Deutsches Richtergesetz (DRiG) lediglich offensichtliche, jedem Zweifel entrückte Fehlgriffe oder offensichtlich unvertretbare Entscheidungen zugänglich (BGH, Urteile vom 04.06.2009 - RiZ (R) 5/08 -, vom 14.04.1997 - RiZ (R) 1/96 -, vom 12.10.1995 - RiZ (R) 2/95 -). Das etwa ist dann der Fall, wenn der Richter eine abwegige, schlechterdings nicht mehr vertretbare und weder von der Rechtsprechung noch in der veröffentlichen Fachliteratur vertretene Rechtsauffassung seiner Entscheidung zugrunde legt (zum "offenkundigen Fehlgriff" s. BGH, Urteil vom 12.10.1995 - RiZ (R) 2/95 -; hierzu auch Dienstgericht Bremen, Beschluss vom 17.06.2005 - DG 1/04, DG 1/04 -; vertiefend zu Evidenzverstößen Hillgruber, in Maunz-Dürig, GG, 74. Lieferung, Mai 2015. Art. 97 Rdn. 83 ff.). Entschädigungsrelevant ist eine zeitzehrende Verfahrensgestaltung daher nur, wenn das Handeln oder Unterlassen des Gerichts nicht mehr von Art. 97 Abs. 1 GG gedeckt ist, es also offenkundig fehlsam oder offenkundig unvertretbar agiert (vgl. auch Frehse, a.a.O. S. 806 f).

cc) Das beklagte Land Nordrhein-Westfalen als verantwortlicher Justizgewährungsträger und Haftungssubjekt ist zwar verpflichtet, die Justiz so zu organisieren und mit Personal und sächlichen Mitteln auszustatten, dass die Gerichte in der Lage sind, Rechtsschutz in einer den Vorgaben von Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK entsprechender Weise inhaltlich richtig und zeitnah zu gewähren. Versäumt das Land, entsprechende Ressourcen zur Verfügung zu stellen, haftet es nach § 198 Abs. 1 GVG für die dem jeweiligen Beteiligten entstandenen materiellen und/oder immateriellen Nachteile. Andererseits ist das Land nicht verpflichtet, so große Gerichtskapazitäten vorzuhalten, dass jedes anhängige Verfahren sofort und ausschließlich von einem Richter bearbeitet werden kann. Aus dem Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit folgt kein Recht auf sofortige Befassung des Gerichts mit jedem Rechtsschutzbegehren und dessen unverzügliche Erledigung. Bereits aus nachvollziehbaren Gründen der öffentlichen Personalwirtschaft ist es gerichtsorganisatorisch mitunter unvermeidbar, Richtern oder Spruchkörpern einen relativ großen Bestand an Verfahren zuzuweisen (BSG, Urteil vom 03.09.2014 B 10 ÜG 2/14 R ; BFH, Urteil vom 07.11.2013 - X K 13/12 -). Hingegen vermag eine hohe Belastung des zuständigen Gerichts eine lange Verfahrensdauer nicht zu rechtfertigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.08.2010 - 1 BvR 331/10 -). Um einer Überlastung der Gerichte vorzubeugen und ihr dort, wo sie eintritt, rechtzeitig abzuhelfen, haben Landesregierung und Haushaltsgesetzgeber vielmehr die dafür erforderlichen - personellen wie sächlichen - Mittel aufzubringen, bereitzustellen und einzusetzen (BVerfG, Beschluss vom 12.12.1973 - 2 BvR 558/73 -; Verfassungsgericht des Landes (LVerfG) Brandenburg, Urteil vom 17.12.2009 - VfGBbg 30/09 - und Beschluss vom 13.04.2012 - VfGBbg 54/11 - zu Art. 52 Abs. 4 der Landesverfassung). Dies lässt sich mit dem LVerfG Brandenburg (Beschluss vom 20.03.2003 - 108/02 -) wie folgt konkretisieren:

"Und Landesregierung und Haushaltsgesetzgeber haben zu akzeptieren, dass die Personalausstattung der Gerichte die Einlösung des Grundrechts auf ein zügiges Verfahren vor Gericht ermöglichen muss und dass es sich dabei um einen staatlichen Auftrag handelt, der manchen anderen staatlichen Aufgaben eben deshalb vorgeht, weil ein Grundrecht in Frage steht; Grundrechte ‚binden‘ auch die Regierung und die Gesetzgebung (s. Art. 5 Abs. 1 LV im Einklang mit Art. 1 Abs. 2 Grundgesetz) und stehen damit nicht oder nur bedingt unter dem ‚Vorbehalt des Möglichen‘."

Für das Land Nordrhein-Westfalen als verantwortlicher Justizgewährungsgarant dafür, dass die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit des Landes entsprechend den verfassungs- und konventionsrechtlichen Vorgaben ausgestattet sind, gilt nichts anderes. Dieser Verpflichtung ist das Land vorliegend nicht nachgekommen.

c) In Anwendung vorgenannter rechtlicher Maßstäbe ergeben sich bei einer Verfahrensdauer von ca. 44 ½ Monaten als zunächst sog. "inaktive Zeiten" - die Zeit vom August 2014 bis Februar 2015, - die Zeit vom Mai 2015 bis Juni 2015 und - die Zeit vom August 2015 bis Mai 2016, mithin 19 Monate.

Eine in der Zeit bis 14.02.2014 eingetretene Verzögerung durch das erfolglose Warten auf die Stellungnahme des Klägers ist seinem Verhalten zuzuordnen. Solche durch zulässiges Prozessverhalten, wie z.B. Fristverlängerungsanträge, herbeigeführte Verfahrensverzögerungen fallen in den Verantwortungsbereich des Betroffenen und werden nicht dem Staat zugerechnet (BSG, Urteil vom 07.09.2017 - B 10 ÜG 1/16 R -).

Ebenfalls ist der Juli 2014 nicht den "inaktiven Zeiten" zuzurechnen. Im Juni 2014 hatte das SG die Stellungnahme der Beklagten dem Kläger zur Kenntnis übersandt. Ein Entschädigungstatbestand ist danach erst ab August 2014 - d.h. nach einer ca. sechswöchigen Frist zur möglichen Stellungnahme - anzunehmen. Das SG konnte aus seiner ex-ante-Sicht eine Replik des Klägers nicht ausschließen. Denn die Übersendung eines Schriftsatzes, eines Gutachtens o.Ä. an die Beteiligten zur Kenntnis beinhaltet stets die Möglichkeit zur Stellungnahme. Die Entscheidung des Gerichts, im Hinblick auf eine mögliche Stellungnahme zunächst nicht weitere Maßnahmen zur Verfahrensförderung zu ergreifen, unterliegt grundsätzlich noch seiner Entscheidungsprärogative und ist - mit Ausnahme unvertretbarer oder schlechthin unverständlicher Wartezeiten - weder durch das Entschädigungs- noch durch das Revisionsgericht als Verfahrensverzögerung zu bewerten (BSG, Urteil vom 07.09.2017 - B 10 ÜG 1/16 R -).

Das Berufungsverfahren ist zügig durchgeführt worden. Entschädigungserhebliche Inaktivitäten sind nicht feststellbar.

d) Diese 19 Monate sind jedoch nicht gleichzusetzen mit der Feststellung, dass die Verfahrensdauer entsprechend unangemessen lang war. Eine ggf. durch inaktive Zeiten bedingte statistische "Überlänge" hat keinen Bezug zur rechtserheblichen Fragestellung, ob das Ausgangsverfahren unangemessen gedauert hat. Beruht die Verfahrensdauer nämlich auf einem sachlichen Grund oder wird sie maßgeblich durch das Verhalten des Klägers, anderer Verfahrensbeteiligter oder Dritter verlängert, so macht dies die Verfahrensdauer in der Regel noch nicht unangemessen (vgl. dazu BSG, Urteil vom 03.09.2014 - B 10 ÜG 9/13 R -). Maßgeblich sind Verzögerungen (vgl § 200 GVG), also sachlich nicht gerechtfertigte Zeiten des Verfahrens, insbesondere aufgrund von Untätigkeit des Gerichts (vgl BVerfG Nichtannahmebeschluss vom 13.8.2012 - 1 BvR 1098/11 -; BSG, Urteil vom 07.09.2017 - B 10 ÜG 1/16 R -).

Die wertende Gesamtbetrachtung und Abwägung aller Einzelfallumstände ergibt, ob die Verfahrensdauer die äußerste Grenze des Angemessenen überschritten und deshalb das Recht auf Rechtsschutz in angemessener Zeit verletzt hat (BSG, Urteil vom 07.09.2017 - B 10 ÜG 1/16 R -). Die von § 198 GVG genannte Bedeutung eines Verfahrens ergibt sich aus der allgemeinen Tragweite der Entscheidung für die materiellen und ideellen Interessen der Beteiligten. Zur Bedeutung der Sache i.S. von § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG trägt dabei im Kontext des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz maßgeblich das Interesse des Betroffenen gerade an einer raschen Entscheidung sowie eine mögliche Entwertung der Rechtsposition durch Zeitablauf bei (BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R -).

Zur Ausübung seiner verfahrensgestaltenden Befugnisse ist dem Gericht ein weiter Gestaltungsspielraum zuzubilligen, der es ihm ermöglicht, dem Umfang und der Schwierigkeit der einzelnen Rechtssachen ausgewogen Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es welches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und welche Verfahrenshandlungen dazu erforderlich sind. So ist jedes Gericht berechtigt, einzelne (ältere und jüngere) Verfahren aus Gründen eines sachlichen oder rechtlichen Zusammenhangs zu bestimmten Gruppen zusammenzufassen oder die Entscheidung einer bestimmten Sach- oder Rechtsfrage als vordringlich anzusehen, auch wenn ein solches "Vorziehen" einzelner Verfahren zu einer längeren Dauer anderer Verfahren führt. Eine gleichzeitige inhaltlich tiefgehende Bearbeitung sämtlicher Verfahren ist aus tatsächlichen Gründen nicht möglich und wird auch von Art. 19 Abs. 4 und 20 Abs. 3 GG beziehungsweise Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK nicht verlangt. Erst wenn die Verfahrenslaufzeit in Abwägung mit den weiteren Kriterien im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG auch bei Berücksichtigung dieses Gestaltungsspielraums nicht mehr verständlich ist, liegt eine unangemessene Verfahrensdauer vor. Das BSG hat dies für den Bereich der Sozialgerichtsbarkeit dahin gehend konkretisiert, dass dem Ausgangsgericht bei Verfahren mit etwa durchschnittlicher Schwierigkeit und Bedeutung eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von bis zu zwölf Monaten eingeräumt werden könne, so dass insoweit inaktive Zeiten unschädlich seien und nicht zu einer unangemessenen Verfahrensdauer beitrügen, selbst wenn sie nicht durch konkrete Verfahrensförderungsschritte begründet und gerechtfertigt werden könnten (BSG, Urteile vom 05.05.2015 - B 10 ÜG 8/14 R -, 12.02.2015 - B 10 ÜG 7/14 R -, 12.02.2015 - B 10 ÜG 11/13 R -, 03.09.2014 - B 10 ÜG 2/13 R -; kritisch zur methodischen Herleitung: Frehse, a.a.O., S. 845 ff.).

e) Bei der Gesamtabwägung ist im Übrigen zu berücksichtigen:

Der Streitstoff des Ausgangsverfahrens war nicht umfangreich. Das Vorbringen der Beteiligten beschränkte sich auf wenige Seiten. Das Ausgangsverfahren wies rechtlich und tatsächlich eine tendenziell mittlere Schwierigkeit auf. Die Bedeutung des Verfahrens für den Kläger kann durch wirtschaftliche, ideelle oder sonst berechtigte Interessen geprägt werden. Vielfach lassen sich dem aus Antrag und Klagegrund bestimmten prozessualen Streitgegenstand hinreichende Anhaltspunkte für die Bedeutung des Verfahrens für den Kläger entnehmen. Hier ging es lediglich um die zusätzliche Berücksichtigung von knapp drei Monaten der Arbeitslosigkeit (01.03.1982 bis 28.05.1982) im Versicherungsverlauf bzw. seit März 2015 bei der Berechnung der Rente. Wie der Kläger selbst erkannt hat, war die wirtschaftliche Bedeutung gering. Überdies stand kein eilbedürftiger, z.B. auf Existenzsicherung gerichteter Anspruch in Streit. Damit ist eine unterdurchschnittliche bis allenfalls mittelgradige Bedeutung anzunehmen. Die Beweislast liegt beim Kläger.

Davon ausgehend besteht kein Anhaltspunkt dafür, von der Zeitspanne von zwölf Monaten je Instanz abzuweichen. Daher ist es geboten, die Zeit der Inaktivität von 19 Monaten um die vom BSG definierte Karenzzeit von 12 Monaten auf sieben Monate zu reduzieren.

Die sich danach errechnende sachlich nicht gerechtfertigte Verzögerung des erstinstanzlichen Verfahrens im Umfang von sieben Monaten ist im Rahmen der gebotenen Gesamtabwägung mit Blick auf das Berufungsverfahren nicht weiter zu verringern. Die im erstinstanzlichen Verfahren eingetretene Säumnis ist nicht durch ein forciertes Berufungsverfahren repariert worden (vgl. dazu BGH, Urteil vom 10.04.2014 - III ZR 335/13 -; Frehse, a.a.O., S. 946 m.w.N.). Zwar hat das LSG das Berufungsverfahren zügig bearbeitet und ist eine Erledigung bereits nach weniger als drei Monaten eingetreten. Dies beruht jedoch nicht auf einem Beschleunigungsimpuls der Berufungsinstanz (vgl. dazu Frehse, a.a.O., S. 304) sondern darauf, dass der Kläger sich unabhängig vom und außerhalb des Gerichtsverfahrens über die monetären Konsequenzen eines möglichen Obsiegens erkundigt und angesichts der geringen wirtschaftlichen Bedeutung entschieden hat, das Verfahren nicht weiter zu betreiben. Die Erledigung der Berufung beruht daher weder auf einer Entscheidung des LSG (Urteil, Beschluss) noch auf dessen Hinweis oder Ermittlungen. Es fehlt an einer Ursächlichkeit der gerichtlichen Verfahrensgestaltung für die zügige Erledigung.

III.

Der für den immateriellen Nachteil zuerkannte Entschädigungsbetrag ist in entsprechender Anwendung der § 288 Abs. 1, § 291 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ab Eintritt der Rechtshängigkeit mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu verzinsen (BSG, Urteil vom 03.09.2014 - B 10 ÜG 12/13 R -; BVerwG, Urteil vom 27.02.2014 - 5 C 1/13 D -).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 SGG i.V.m. § 155 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung.
Rechtskraft
Aus
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