L 10 R 4208/17

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 24 R 199/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 4208/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 29.09.2017 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung streitig.

Die am 1965 geborene Klägerin, b. Staatsangehörige, absolvierte keine Ausbildung. Im Juni 1992 zog sie ins Bundesgebiet zu und war zunächst bis 1996 versicherungspflichtig beschäftigt. Nachfolgend war sie überwiegend arbeitslos, zeitweise jedoch versicherungspflichtig und geringfügig beschäftigt, u.a. als Verkäuferin, Reinigungskraft und Produktionshelferin.

Im Dezember 2015 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Sie erachtete sich seit Mai 2015 für erwerbsgemindert und verwies auf mehrere Operationen im Unterleib, weshalb sie nicht mehr als ein Kilogramm heben dürfe. Sie könne nur noch Arbeiten ohne schwere körperliche Belastung acht Stunden täglich verrichten. Nach Beiziehung eines Befundberichtes des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. G. , nebst medizinischer Unterlagen sowie des Gutachtens der Agentur für Arbeit W. vom 19.09.2013 (leichte und gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten ohne Zeitdruck, häufiges Heben und Tragen ohne mechanische Hilfsmittel, Nachtschicht und Alkoholzugang vollschichtig möglich) veranlasste die Beklagte das Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit Zusatzbezeichnung Sozialmedizin Dr. E.-D. , die die Klägerin im Mai 2016 untersuchte. Sie ging diagnostisch von einer Dysthymie, einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, einem Alkoholabusus und einer Migräne aus und erachtete die Klägerin für in der Lage, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten ohne erhöhten Zeitdruck und ohne Akkord vollschichtig zu verrichten. Mit Bescheid vom 17.06.2016 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin daraufhin ab. Den dagegen am 25.07.2016 eingelegten Widerspruch (Schriftsatz vom 15.07.2016) wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.08.2016 als unzulässig zurück.

Die Beklagte behandelte den Schriftsatz vom 15.07.2016 als neuen Rentenantrag und veranlasste das allgemeinmedizinische Gutachten der Dr. H.-Z. , die die Klägerin im Oktober 2016 untersuchte. Die Gutachterin beschrieb eine Wirbelsäulenfehlhaltung, eine Verspannung der paravertebralen Muskulatur, geringgradige lumbale Bandscheibenschäden (ohne Funktionsminderung), eine Kieferfehlstellung, mehrmalige operative Interventionen bei Genitalprolaps, Dickdarmdivertikel, einen leichten alkoholtoxischen Leberschaden sowie Fußdeformitäten und erachtete die Klägerin für in der Lage, leichte Tätigkeiten ohne häufige Wirbelsäulenzwangshaltungen zumindest sechs Stunden täglich zu verrichten. Mit Bescheid vom 04.11.2016 und Widerspruchsbescheid vom 09.12.2016 lehnte die Beklagte die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung gemäß § 43 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB VI) erneut ab.

Am 12.01.2017 hat die Klägerin beim Sozialgericht Stuttgart (SG) Klage erhoben und geltend gemacht, auf Grund ihrer gesundheitlichen Situation Tätigkeiten im Umfang von mehr als drei Stunden täglich nicht mehr ausüben zu können.

Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen angehört; beigefügt hat es der Anfrage den auf der Grundlage des Gutachtens der Dr. H.-Z. und entsprechend dem zwischen Deutschland und Brasilien abgeschlossenen Sozialversicherungsabkommen erstellten "Ausführlichen Ärztlichen Bericht" des Dr. B. (Leiter des Ärztlichen Dienstes der Beklagten). Der Facharzt für Innere Medizin Dr. D. hat von einer ausgeprägten Colondivertikulose berichtet, die immer wieder zu rezidivierenden Unterbauchschmerzen und Stuhlunregelmäßigkeiten führen könne, ebenso könnten Verwachsungen zu Unterbauchbeschwerden führen. Er hat sich der Leistungsbeurteilung des Dr. B. angeschlossen und die Klägerin für in der Lage erachtet, leichte Tätigkeiten im Umfang von sechs Stunden und mehr zu verrichten. Den Schwerpunkt der Beeinträchtigungen hat er auf nervenärztlichem Fachgebiet gesehen. Der Arzt für Mund-, Kiefer- und plastische Gesichtschirurgie Dr. Dr. S. hat u.a. von einer habituellen Fehlpositionierung des Unterkiefers berichtet, die sich auf die berufliche Leistungsfähigkeit der Klägerin - abgesehen von Tagen der Arbeitsunfähigkeit nach einem oralchirurgischen Eingriff - nicht auswirke. Dr. M. , Oberarzt in der Frauenklinik des Klinikums S. , hat über eine deutliche Bindegewebsschwäche mit rezidivierenden Ausprägungen und operative Behandlungen von Scheidensenkungen im Oktober 2010 sowie Mai und Oktober 2015 berichtet und die Ausübung einer leichten Tätigkeit (kein schweres Heben und Tragen von Lasten) im Umfang von sechs Stunden und mehr für möglich erachtet. Dr. G. hat über hausärztliche Kontakte seit Oktober 2010 wegen den bekannten Gesundheitsstörungen berichtet, wobei die erhobenen Befunde mit jenen im Bericht des Dr. B. im Wesentlichen übereinstimmten; die Ausübung einer leichten beruflichen Tätigkeit hat er im Umfang von maximal sechs Stunden täglich für zumutbar erachtet.

Mit Gerichtsbescheid vom 29.09.2017 hat das SG die Klage gestützt auf die Gutachten der Dr. E.-D. und der Dr. H.-Z. sowie die Auskünfte der behandelnden Ärzte der Klägerin abgewiesen. Eine quantitative Leistungseinschränkung lasse sich weder von orthopädischer noch von internistischer Seite und auch nicht von Seiten des uro-gynäkologischen Fachgebietes begründen.

Gegen den ihrem Bevollmächtigten am 04.10.2017 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 06.11.2017, einem Montag, beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) Berufung eingelegt und geltend gemacht, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht wenigstens drei Stunden täglich erwerbstätig sein zu können. Von orthopädischer Seite leide sie an einer Fehlhaltung der Wirbelsäule mit Einschränkungen der Beweglichkeit der Wirbelsäule und Bandscheibenschäden sowie Deformitäten des Fußes, auf uro-gynäkologischem Fachgebiet hätten mehrmalige operative Interventionen auf Grund eines Genitalprolapses erfolgen müssen und von internistischer Seite liege eine Colondivertikulose vor, die zu Unterbauchbeschwerden und Stuhlunregelmäßigkeiten führe. Dies alles führe auf psychiatrischem Fachgebiet zu einer Dysthmie und einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Hinzu kämen soziale Probleme, die die gesundheitliche Situation belaste. Zuletzt hat sie geltend gemacht, durch die zur Behandlung der Beckenbodenschwäche erhaltene Behandlung mit Reizstrom sei es zu einer peripheren Schädigung des Tibialis-Nervs im linken Unterschenkel gekommen, wodurch es zu einer Gangunsicherheit mit Kraftminderung in den Unterschenkeln und den Füßen komme. Hierzu hat sie in Kopie die Heilmittelverordnung des Dr. G. vom 15.05.2018 vorgelegt.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 29.09.2017 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 04.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.12.2016 zu verurteilen, ihr ab Antragstellung (15.07.2016) Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für richtig.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten sowie der Akten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig; die Berufung der Klägerin ist jedoch nicht begründet.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Denn der Bescheid der Beklagten vom 04.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.12.2016 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin ist im Sinne der maßgeblichen gesetzlichen Regelungen nicht erwerbsgemindert. Ihr steht daher weder Rente wegen voller noch wegen teilweiser Erwerbsminderung zu.

Das SG hat in der angefochtenen Entscheidung die rechtlichen Grundlagen der von der Klägerin beanspruchten Rente wegen Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI im Einzelnen dargelegt und mit zutreffender Begründung ausgeführt, dass die Klägerin diese Voraussetzungen trotz der bei ihr bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht erfüllt, weil sie unter Berücksichtigung qualitativer Einschränkungen (ohne Heben und Tragen schwerer Lasten, ohne Tätigkeiten in Wirbelsäulenzwangshaltungen) noch in der Lage ist, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zumindest sechs Stunden täglich zu verrichten und mit diesem Leistungsvermögen weder volle noch teilweise Erwerbsminderung vorliegt. Der Senat sieht deshalb gemäß § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück. Zu ergänzen sind die qualitativen Einschränkungen um die von Dr. E.-D. zusätzlich aufgeführten Tätigkeiten (ohne erhöhten Zeitdruck, ohne Akkordarbeiten).

Ebenso wie das SG geht auch der Senat davon aus, dass bei der Klägerin Gesundheitsstörungen von orthopädischer, uro-gynäkologischer, internistischer und psychiatrischer Seite vorliegen, den hieraus resultierenden funktionellen Einschränkungen jedoch durch die Berücksichtigung qualitativer Einschränkungen hinreichend Rechnung getragen werden kann und diese daher keine rentenrelevante Leistungsminderung bedingen. So kommen auf Grund der auch für die Klägerin im Vordergrund der Beeinträchtigungen stehenden Bindegewebsschwäche mit rezidivierenden Scheidensenkungen, die mehrmals operativ behandelt wurden, lediglich noch leichte berufliche Tätigkeiten in Betracht, mithin Tätigkeiten, die nicht mit Hebe- und Tragebelastungen ab 10 kg (s. Das ärztliche Gutachten für die gesetzliche Rentenversicherung, DRV-Schriften Band 21, S. 47; Sozialmedizinisches Glossar, DRV-Schriften Band 81, S. 23) verbunden sind. Wegen den beklagten Wirbelsäulenbeschwerden verbieten sich zudem Wirbelsäulenzwangshaltungen und angesichts der von Dr. E.-D. beschriebenen psychischen Beeinträchtigungen Akkordarbeiten sowie sonstige Tätigkeiten mit erhöhtem Zeitdruck. Im Rahmen dieses Leistungsbildes können der Klägerin jedoch Tätigkeiten im Umfang von zumindest sechs Stunden täglich zugemutet werden. Hierin sind sich sämtliche am Verfahren beteiligten Ärzte einig, namentlich die von der Beklagten im Verwaltungsverfahren hinzugezogenen Gutachterinnen Dr. E.-D. und Dr. H.-Z. sowie auch die behandelnden Ärzte der Klägerin Dr. D. , Dr. Dr. Schrempf, Dr. M. und Dr. G ... Mit Ausnahme des Dr. G. , der der Klägerin entsprechende Tätigkeiten nur noch maximal sechs Stunden täglich - und damit einschließlich sechs Stunden täglich, was eine Erwerbsminderung (unter sechs Stunden) ausschließt - hat zumuten wollen, haben sich gerade auch die behandelnden Ärzte der Einschätzung der Dr. H.-Z. bzw. der darauf beruhenden Beurteilung des Dr. B. angeschlossen. Der Senat sieht keine Anhaltspunkte an der Richtigkeit dessen zu zweifeln, zumal Dr. E.-D. und Dr. H.-Z. aus dem von ihnen erhobenen Befunden eine überzeugende Leistungsbeurteilung ableiteten.

Das Vorbringen der Klägerin im Berufungsverfahren rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. Das SG hat insbesondere die von der Klägerin im Einzelnen aufgeführten Gesundheitsstörungen berücksichtigt, die hiervon ausgehenden funktionellen Beeinträchtigungen beschrieben und deren Auswirkungen auf das berufliche Leistungsvermögen zutreffend gewürdigt. Zu Recht hat es dabei berücksichtigt, dass weder von orthopädischer noch von psychiatrischer Seite adäquate Behandlungen stattfinden und dies nicht auf das Vorliegen schwerer Beeinträchtigungen hinweist. Soweit die Klägerin im Berufungsverfahren auf soziale Probleme hingewiesen hat, lässt sich hieraus eine abweichende Beurteilung nicht herleiten. Denn als Gründe für die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung kommen gemäß § 43 SGB VI ausschließlich Krankheiten oder Behinderungen in Betracht.

Soweit die Klägerin zuletzt eine periphere Schädigung des Tibialis-Nervs im Unterschenkel als Folge einer Reizstrombehandlung geltend gemacht hat, lässt sich auch hieraus keine für sie günstige Entscheidung herleiten. Ausweislich der vorgelegten Heilmittelverordnung hat Dr. G. insoweit Mitte Mai 2018 Behandlungsmaßnahmen in Form von Krankengymnastik mit dem Ziel eingeleitet, die Koordination sowie Grob- und Feinmotorik zu fördern und zu bessern und damit die Mobilität zu sichern. Hieraus schließt der Senat, dass die Mobilität vorhanden ist, weil sie sich sonst nicht sichern ließe. Die Mobilität der Klägerin wird auch daran deutlich, dass sie zu dem Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 28.06.2018 mit öffentlichen Verkehrsmitteln angereist ist, wie ihrem Antrag, sie für die insoweit entstandenen Kosten in Höhe des vorgelegten Tagestickets des Verkehrsverbundes zu entschädigen, entnommen werden kann. Die Klägerin ist somit in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen und die entsprechenden Wegstrecken zurückzulegen. Da die Klägerin auch keine Gehhilfe mit sich geführt hat, sieht der Senat insgesamt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Gehfähigkeit der Klägerin so massiv eingeschränkt sein könnte, dass Zweifel an ihrer Wegefähigkeit bestehen könnten. Entsprechendes hat die Klägerin auch nicht geltend gemacht. Eine rentenbegründende Leistungsminderung lässt sich somit auch aus der zuletzt aufgetretenen Symptomatik nicht herleiten. Soweit mit der zwischenzeitlich begonnenen Behandlung der zuvor vorhanden gewesene Zustand nicht mehr zu erreichen sein sollte, könnte allenfalls die Berücksichtigung (weiterer) qualitativer Einschränkungen erforderlich und könnten damit Tätigkeiten überwiegend im Gehen, Stehen und mit Absturzgefahr (also mit Besteigen von Leitern und Gerüsten) auszuschließen sein. Eine rentenbegründende Leistungsminderung ließe sich jedoch auch hieraus nicht herleiten.

Die Berufung der Klägerin kann nach alledem keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Für eine Zulassung der Revision besteht keine Veranlassung.
Rechtskraft
Aus
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