L 8 R 795/17

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 45 R 1363/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 8 R 795/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 15.05.2017 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass das beim Sozialgericht Düsseldorf unter dem Aktenzeichen S 45 R 1325/15 geführte Verfahren nicht durch fiktive Klagerücknahme erledigt und damit fortzusetzen ist. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Rechtstreit vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf mit dem Aktenzeichen (Az.) S 45 R 1325/15 nach § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Rücknahmefiktion wirksam beendet worden ist.

Die im Ausgangsverfahren unter dem Az. S 45 R 1325/15 (später: S 45 R 1363/16) am 26.6.2015 durch den damaligen Bevollmächtigten des Klägers erhobene Anfechtungsklage richtet sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 12.6.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.4.2015. Mit diesem erhob die Beklagte als prüfender Rentenversicherungsträger nach § 28p Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) im Rahmen einer bei dem Kläger durchgeführten Betriebsprüfung eine Nachforderung des Gesamtsozialversicherungsbeitrages für den Zeitraum September 2013 bis Februar 2014 i.H.v. 145.007,95 EUR inklusive Säumniszuschläge i.H.v. 19.627,00 EUR. Nachdem die Klage zunächst nicht begründet worden ist, hat der damalige Prozessbevollmächtigte des Klägers am 28.9.2015 mitgeteilt, der Kläger habe einen Herzinfarkt erlitten. Mit Verfügung ebenfalls vom 28.9.2015 hat das SG die Beteiligten um Stellungnahme zu einem Ruhen des Verfahrens aufgrund des gesundheitlichen Zustands des Klägers gebeten. Hierauf hat der Kläger trotz mehrfacher Erinnerungen nicht reagiert. Daraufhin hat ihn das SG am 17.12.2015 unter Hinweis auf § 102 Abs. 2 SGG aufgefordert, das Verfahren durch Übersendung einer Stellungnahme zu der gerichtlichen Verfügung vom 28.9.2015 zu betreiben. Die Klage gelte als zurückgenommen, wenn das Verfahren trotz dieser Aufforderung länger als drei Monate ab Zustellung der Verfügung nicht betrieben werde. Die Verfügung ist dem damaligen Bevollmächtigten des Klägers per Postzustellungsurkunde am 22.12.2015 zugegangen.

Am 14.3.2016 hat sich unter Versicherung seiner ordnungsgemäßen Bevollmächtigung der jetzige Prozessbevollmächtigte des Klägers bestellt und Akteneinsicht beantragt. Nach Einreichung einer schriftlichen Vollmachtsurkunde (per Fax am 21.3.2016, im Original am 6.4.2016) sowie nach Mitteilung, dass die Bevollmächtigung des früheren Vertreters des Klägers nicht mehr bestehe, hat das SG am 22.3.2016 zunächst Einsicht in die Verwaltungsakte und ergänzend mit Verfügung vom 7.4.2016 in die Gerichtsakte gewährt unter gleichzeitiger Auflage, die Klage nunmehr binnen vier Wochen zu begründen. Nach Rückgabe der Akten durch den Bevollmächtigten hat das SG unter erneuter Fristsetzung von drei Wochen (Verfügung v. 25.5.2016) an die Begründung erinnert.

Mit Verfügung vom 13.6.2016 hat das SG mit einfachem, an den Bevollmächtigten gerichteten Brief Folgendes mitgeteilt:

"in dem o.g. Rechtstreit weist das Gericht darauf hin, dass mit Verfügung vom 17.12.2015 (!) um Stellungnahme zum Ruhen des Verfahren gebeten wurde.

Insoweit wurde eine Betreibensaufforderung gem. § 102 Abs. 2 SGG erlassen, deren Zustellung an den ursprünglichen Prozessbevollmächtigten erfolgte.

Sollte eine qualifizierte Stellungnahme bis zum 30.06.2016 nicht bei Gericht eingehen, wird die Klage durch Rücknahme fiktiven [gemeint: fiktiv] erledigt." (Einfügung diesseits)

Darauf hat der Kläger nicht reagiert. Das SG hat den Beteiligten unter dem 1.7.2016 mitgeteilt, dass die Klage als zurückgenommen gelte. Am 5.8.2016 hat sich der Kläger durch seinen Bevollmächtigten beim SG gemeldet. Er habe durch die ihn im finanzgerichtlichen Verfahren vertretene Kanzlei erfahren, dass die Klage vor dem SG als zurückgenommen gelte. Darüber sei anscheinend mit Schreiben vom 4.7.2016 informiert worden. Ein gerichtliches Schreiben vom 13.6.2016 sowie eine Mitteilung über die Erledigung vom 4.7.2016 habe er jedoch jeweils nicht erhalten. Es werde insofern beantragt, das sozialgerichtliche Verfahren fortzuführen. Die Betreibensaufforderung vom 13.6.2016 sei rechtlich fehlerhaft. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass sein Rechtsschutzinteresse entfallen sei. Nach Fortführung des Verfahrens könne dasselbe zunächst ruhend gestellt werden.

Das SG hat die Beteiligten sodann zum Erlass eines Gerichtsbescheides nach § 105 SGG angehört (Verfügung v. 16.8.2016). Der Rechtstreit weise deutliche Hinweise für den Wegfall eines klägerischen Rechtschutzinteresses auf. Gerichtliche Fristen würden regelmäßig missachtet. Auch die Frist der Betreibensaufforderung sei weit überzogen worden und habe das Gericht zu einem letzten Versuch der Anregung zur Mitwirkung im Rahmen der Verfügung vom 13.6.2016 veranlasst. Es sei daher beabsichtigt festzustellen, dass sich das Verfahren durch fiktive Klagerücknahme erledigt habe. Die Beteiligten erhielten eine Frist zur Stellungnahme von vier Wochen.

Der Kläger hat daraufhin mitgeteilt, dass er an seinem Antrag auf Fortführung des Verfahrens festhalte. Sein Rechtsschutzinteresse zeige sich bereits darin, dass er einen neuen Prozessbevollmächtigten beauftragt habe.

Der Kläger hat sinngemäß beantragt,

festzustellen, dass das Verfahren nicht durch fiktive Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 SGG erledigt ist.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt. Sie hat sich zum Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens ebenfalls nicht geäußert.

Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 15.5.2017 festgestellt, dass der Rechtstreit am 1.7.2016 auf Grund der fiktiven Rücknahmeerklärung des Klägers wirksam beendet worden sei. Auf die Begründung des Gerichtsbescheides wird Bezug genommen.

Gegen den dem Kläger am 23.5.2017 zugestellten Gerichtsbescheid hat dieser am 23.6.2017 Berufung eingelegt. Die Betreibensaufforderung sei fehlerhaft gewesen. Das Verfahren sei fortzuführen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 15.5.2017 aufzuheben und festzustellen, dass das Klageverfahren vor dem Sozialgericht Düsseldorf zu dem Aktenzeichen S 45 R 1325/15 nicht durch fiktive Klagerücknahme erledigt und demnach fortzusetzen ist.

Die Beklagte stellt keinen Antrag.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers hat Erfolg. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG Düsseldorf vom 15.5.2017, mit dem dieses die Erledigung des Klageverfahrens nach § 102 Abs. 2 SGG festgestellt hat.

Die am 23.6.2017 bei dem zuständigen Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) schriftlich eingelegte Berufung des Klägers gegen den ihm am 23.5.2017 zugestellten Gerichtsbescheid ist zulässig, insbesondere gemäß den §§ 143, 144 SGG ohne gerichtliche Zulassung statthaft und form- und fristgerecht eingelegt worden (§§ 151 Abs. 1, 3; 64 Abs. 1, 2; 63 SGG).

Die Berufung des Klägers ist auch begründet. Die am 19.9.2016 zulässig erhobene Klage auf Feststellung, dass der Rechtstreit vor dem SG nicht durch fiktive Klagerücknahme beendet worden ist (§ 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG), ist begründet. Die Voraussetzung des § 102 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

Eine Klage gilt danach als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt (§ 102 Abs. 2 Satz 1 SGG). Der Kläger ist in der Aufforderung auf die Rechtsfolgen hinzuweisen, die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 155 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ergeben (§ 102 Abs. 2 Satz 3 SGG).

Im vorliegenden Fall kommt als maßgebliche Betreibensaufforderung nur diejenige vom 17.12.2015 in Betracht, die dem damaligen Bevollmächtigten des Klägers am 22.12.2015 zugegangen ist. Hierauf kann die Fiktion einer Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG indessen nicht gestützt werden.

Die Betreibensaufforderung genügt bereits den gesetzlichen Anforderungen nicht, denn es fehlt der nach § 102 Abs. 2 Satz 3 SGG erforderliche Hinweis auf die Kostenfolge einer (fiktiven) Klagerücknahme. Zudem ist mindestens fraglich, ob das SG aus dem Umstand, dass der Kläger nicht auf seine Ruhensanfrage (!) reagiert hatte, auf einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung schließen durfte (vgl. zu diesem ungeschriebenen Tatbestandserfordernis BSG, Urteil v. 1.7.2010, B 13 R 58/09 R, SozR 4-1500 § 102 Nr.1, juris-Rdnr. 46 m.w.N.).

Darüber hinaus fehlt es an der Voraussetzung, dass der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betrieben hat. Innerhalb der hier maßgeblichen Drei-Monats-Frist, die am 22.3.2016 ablief, hat der (neue) Prozessbevollmächtigte des Klägers sich nämlich am 14.3.2016 unter Versicherung ordnungsgemäßer Bevollmächtigung gemeldet und Einsicht in die Akte beantragt. Seine Vollmacht vom 29.2.2016 hat er auf gerichtlichen Wunsch unter dem 21.3.2016 als Telefaxschreiben - innerhalb der Frist - und am 6.4.2016 im Original vorgelegt. Damit war offenkundig, dass der Kläger das Klageverfahren weiter betreiben wollte. Ansonsten hätte es der Beauftragung eines neuen Bevollmächtigten nicht bedurft, nachdem der frühere Prozessbevollmächtigte verstorben war. Ebenso erkennbar war, dass der neue Bevollmächtigte zunächst eine Zeit der Einarbeitung in den Rechtsstreit benötigen würde. Ihm ist daher zunächst Akteneinsicht gewährt worden, die durch Rücksendung der Akten an das SG am 22.4.2016 abgeschlossen wurde.

Die Betreibensaufforderung vom 17.12.2015 war damit verbraucht. Eine weitere Betreibensaufforderung ist in der Folgezeit nicht ergangen.

Mangels Erfüllung der Voraussetzungen für eine fiktive Klagerücknahme ist der Rechtsstreit in ersten Instanz nicht nach § 102 Abs. 2 SGG beendet worden und vor dem SG fortzusetzen (vgl. LSG NRW, Urteil v. 19.5.2017, L 17 U 315/16, juris; Sächsisches LSG, Urteil v. 28.2.2013, L 7 AS 523/09, juris Rdnr. 27 ff.; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Aufl., § 159 Rn. 3b m.w.N.). Mit der Aufhebung des angefochtenen Gerichtsbescheides vom 15.5.2017 und der Feststellung, dass das Ausgangsverfahren vor dem SG fortzuführen ist, ist der zulässige Streitgegenstand des im Berufungsverfahren allein rechtshängig gewesenen Fortsetzungsstreits erschöpft. Eine durch den Kläger beantragte Zurückverweisung an das SG nach § 159 SGG kommt nicht in Betracht und steht deshalb auch nicht im Ermessen des Senats, da die Rechtshängigkeit des Ausgangsverfahrens S 45 R 1325/15 zu keinem Zeitpunkt entfallen war, weil eine Erledigung i.S.d. § 102 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht eingetreten ist. Daher hat das SG von Amts wegen über das dort durchgehend offen gebliebene Verfahren noch in der Sache zu entscheiden und ist der Senat an einer weitergehenden Entscheidung gehindert (LSG NRW, Urteil v. 19.5.2017, a.a.O.).

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung des SG im Ausgangsverfahren vorbehalten, weil der Fortsetzungsstreit ein Zwischenstreit ist (vgl. Sächsisches LSG, Urteil v. 28.2.2013, a.a.O., juris Rn. 30; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 15.3.2017, L 18 AS 2584/16, juris Rn. 19). Insoweit folgt die Entscheidung über die Kosten der vom SG zu Unrecht angenommenen Verfahrensbeendigung durch fiktive Klagerücknahme der Entscheidung in der Sache (LSG NRW, Urteil v. 19.5.2017, a.a.O.; LSG NRW, Urteil v. 17.1.2013, L 9 AL 173/11, juris).

Gründe, gemäß § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Der Streitwert ist aus den o.g. Gründen gleichfalls nicht zu bestimmen.
Rechtskraft
Aus
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