Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 9 KR 2583/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 KR 784/18 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Konstanz vom 1. Februar 2018 abgeändert. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, vom 1. Juli bis 31. Oktober 2018 vorläufig die Kosten für eine Versorgung des Antragstellers mit Bedrocan-Cannabisblüten in maximaler Tagesdosis von 1 Gramm nach Vorlage entsprechender ärztlicher Verordnungen zu übernehmen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen zur Hälfte.
Gründe:
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Übernahme der Kosten für eine Versorgung mit medizinischen Cannabisblüten.
Der am 1995 geborene, bei der Antragsgegnerin krankenversicherte Antragsteller stellte zunächst über Dr. M. (Privatpraxis für Psychiatrie und Psychotherapie in Berlin) am 6. Juni 2017 bei der Antragsgegnerin einen Antrag auf Übernahme der Kosten für Cannabisblüten zur Behandlung einer Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung mit Persistenz in das Erwachsenenalter. In einem daraufhin veranlassten Gutachten vom 13. Juni 2017 kam Dr. H., Medizinischer Dienst der Krankenversicherung (MDK), zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) vorlägen. Von einer schwerwiegenden Erkrankung sei auszugehen. Auch sei beschrieben worden, dass die für Erwachsene zugelassenen Therapien zur Behandlung von ADHS eingesetzt worden, jedoch nicht ausreichend wirksam gewesen seien oder zu intolerablen Nebenwirkungen geführt hätten, weshalb keine dem medizinischen Standard entsprechende Behandlungsalternative zur Verfügung stehe. Ferner bestehe beim Konsum von Cannabisblüten bei dem Antragsteller eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome des ADHS. Mit Bescheid vom 27. Juni 2017 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Kostenübernahme ab, da die Cannabisblüten zum einen für eine Verordnung mittels Betäubungsmittel(BTM)-Rezept näher bezeichnet werden müssten und zum anderen eine Verordnung i.S.d. § 31 SGB V eine solche durch einen Vertragsarzt erfordere; die vorliegend durch eine Ärztin ohne kassenärztliche Zulassung erstellte genüge nicht. Den hiergegen zunächst erhobenen Widerspruch nahm der Kläger später zurück. Einen Antrag auf Versorgung mit dem cannabishaltigen Fertigarzneimittel Sativex® lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 17. August 2017 ab.
Mit Schreiben vom 23. Oktober 2017 stellte Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie R. für den Antragsteller einen Antrag auf Übernahme der Kosten für die Cannabisblüten der Sorte Bedrocan zur Behandlung der ADHS. Der Antragsteller konsumiere seit vier Jahren vier- bis fünfmal am Tag Bedrocan (Tagesdosis: 0,5 - 1,5 g), wobei er ohne Cannabis nicht in der Lage sei, zu lernen und sich zu konzentrieren. Es gebe keine Alternative zu dieser Behandlung, da die zugelassenen Medikamente und Sativex® versucht, aber ohne Therapieerfolg geblieben seien. Die Antragsgegnerin veranlasste daraufhin nochmals ein Gutachten des MDK insbesondere zu der Fragestellung, ob alternative Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft seien, da bis 2014 laut den Abrechnungsdaten keinerlei Hinweise auf eine ADHS-Erkrankung vorgelegen hätten, keinerlei ärztliche Dokumentation und Behandlung erfolgt sei und die von Ärztin R. aufgeführten Medikamente mit den Wirkstoffen Methylphenidat und Atomoxetin nicht über sie (die Antragsgegnerin) abgerechnet worden seien. Beigefügt war ein von Ärztin R. am 6. November 2017 ausgefüllter Arztfragebogen zu Cannaboiden. Über die Einschaltung des MDK setzte sie den Antragsteller mit Schreiben vom 25. Oktober 2017 in Kenntnis.
In seinen Gutachten vom 24. November 2017 gab Dr. H. an, zur Behandlung der ADHS seien lediglich verschiedene Methylphenidat-Präparate sowie Atomoxetin zugelassen. Hinsichtlich der durchgeführten Therapien lägen widersprüchliche Angaben vor. Eine Ausschöpfung der dem medizinischen Standard entsprechenden Therapie mit den für das Krankheitsbild des Antragstellers zugelassenen Arzneimitteln und ebenso wie mit Psychotherapie könne nicht betätigt werden könne. Derzeit lägen keine höherwertigen Studien vor, die einen Nutzen von Cannabis bei ADHS belegen würden, jedoch Hinweise auf die Wirksamkeit im Rahmen von Fallberichten, einer Befragung und einer kleinen Pilotstudie.
Mit Bescheid vom 27. November 2017 lehnte die Antragsgegnerin daraufhin die Kostenübernahme für Cannabis der Sorte Bedrocan ab, da nicht belegt sei, dass keine allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechenden Leistungen als Alternative zur Verfügung stünden bzw. erfolglos ausgeschöpft oder nicht geeignet wären. Hiergegen erhob der Antragsteller am 15. Dezember 2017 Widerspruch.
Bereits am 4. Dezember 2017 beantragte der Antragsteller beim Sozialgericht Konstanz (SG) die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes, mit dem er die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur vorläufigen Kostenübernahme für eine Versorgung mit medizinischen Cannabisblüten der Sorte Bedrocan in maximaler Tagesdosis von 1,5 g sowie einem 4-Wochenbedarf von 45 g begehrte.
Den Widerspruch wies der Widerspruchsausschuss der Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 2018 als unbegründet zurück. Die hiergegen am 23. Februar 2018 erhobene Klage ist beim SG unter dem Aktenzeichen S 9 KR 447/97 anhängig. In diesem Verfahren legte der Antragsteller u.a. einen Verlaufsbericht von Dr. M. vom "10.01.2017" sowie einen Beratungsbericht von Dipl.-Psych. D. vor.
Zur Begründung seines Eilantrags führte der Antragsteller im Wesentlichen aus, dass er seit dem 11. Lebensjahr an ADHS leide und Therapieversuche mit sämtlichen für die Behandlung der Erkrankung zugelassenen Arzneimitteln in der Vergangenheit bei verschiedenen Ärzten erfolglos verlaufen seien bzw. zu intolerablen Nebenwirkungen geführt hätten. Zusätzlich zur vertragsärztlichen habe er sich auch in privatärztlicher Behandlung befunden, in deren Rahmen auch die Behandlungsversuche mit Medikinet®adult retard und Strattera® erfolgt seien. In den Abrechnungsdaten der Antragsgegnerin seien diese daher nicht dokumentiert. Bei einem Preis in Höhe von EUR 25,00 pro Gramm und einer verordneten Tagesdosis von 1,5 g Cannabisblüten könne er die Therapiekosten (vorgelegte Apothekenrechnung vom 16. August 2017 über EUR 306,94) mit seinem geringen Ausbildungsgehalt (vorgelegte Entgeltbescheinigung für Oktober 2017; Auszahlung EUR 893,27) nicht mehr tragen. Mittlerweile habe er ca. EUR 15.000,00 Schulden. Ergänzend legte er u.a. einen Befundbericht von Prof. Dr. We., Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Kliniken K., vom 16. März 2007 (Verdacht auf [V.a.] eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen), privatärztliche Arzneimittelverordnungen von Dr. M. vom 3. März und 8. August 2017 (Strattera®; Medikinet® ret.) und des Neurologen und Psychiaters Dr. Sc. (Sativex®) vom 31. Juli 2017 sowie einen Bericht von Dr. T., Chefärztin des ZfP R., vom 26. Juli 2017 über fünf Vorstellungen in der dortigen Früherkennungssprechstunde von Juni bis August 2017 vor. Diese diagnostizierte eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung. Bei der dortigen Untersuchung habe der Antragsteller allerdings unter dem Einfluss von Cannabis gestanden, so dass aktuelle Symptome einerseits und die Wirkung und Nebenwirkung des Konsums andererseits nicht klar zu unterscheiden gewesen seien. Angesichts des regelmäßigen Konsums von Cannabis seit vier Jahren könne auch eine bestehende Abhängigkeit nicht ausgeschlossen werden. Empfohlen werde eine ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung.
Die Antragsgegnerin trat dem Antrag entgegen. Eine Eilbedürftigkeit sei nicht erkennbar, da der Antragsteller in den vergangenen vier Jahren täglich Cannabis konsumiert und dies selbst finanziert habe. Ferner seien die Voraussetzungen des § 31 Abs.6 SGB V nicht erfüllt. Es sei zweifelhaft, ob es sich bei der Erkrankung des Antragstellers um eine schwerwiegende Erkrankung handle, da die Diagnose ADHS zunächst als Verdachtsdiagnose aufgestellt und im Weiteren ärztlicherseits alleine festgestellt worden sei, dass einige Bereiche der ADHS nur leicht ausgeprägt seien. Weiterhin seien die alternativen Behandlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft, da für die Zeit bis Mitte 2017 keinerlei Behandlungsnachweise über eine ADHS-Erkrankung oder eine andere psychische Erkrankung vorlägen. Sofern der Antragsteller angebe, dass er sich privatärztlich habe behandeln lassen, seien entsprechende Befundberichte nicht bekannt. Auch die von Dr. T. empfohlene psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung sei nicht durchgeführt worden. Weiterhin sei auch der Nutzen von Cannabis bei ADHS nicht belegt. In einem vorgelegten Gutachten vom 21. Dezember 2017 stellte Dr. Me., MDK, die Diagnosen einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, eines V.a. Cannabisabhängigkeit bei regelhaftem Cannabiskonsum seit vier Jahren und Akzentuierung von innerer Anspannung bei zwei Abstinenzzeiten, V.a. rezidivierendes Cannabisentzugssyndrom, illegaler Besitz und Einfuhr von Cannabis, anamnestisch in der Kindheit V.a. Posttraumatische Belastungsstörung sowie Störung des Sozialverhaltens und der Emotion. Mit im Erwachsenenalter fortbestehenden ADHS mit schwerwiegenden psychosozialen anhaltenden Störungen liege eine schwerwiegende, die Lebensqualität nachhaltig auf Dauer beeinträchtigende Erkrankung vor. Eine Ausschöpfung der allgemein anerkannten, dem medizinischen Stand entsprechenden Behandlung sei aus den vorliegenden Unterlagen nicht zu erkennen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der seit Jahren bestehende Cannabiskonsum und die Cannabisabhängigkeit als vorrangige Erkrankungen zu behandeln seien.
Nach Durchführung eines Erörterungstermins lehnte das SG den Antrag mit Beschluss vom 1. Februar 2018 mangels Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes ab. Dem Anspruch aus § 31 Abs. 1 SGB V stehe bereits das Fehlen einer vertragsärztlichen Verordnung der Cannabisblüten entgegen. Ein privatärztliches Rezept genüge nicht. Des Weiteren bestünden Zweifel am Nachweis einer schwerwiegenden Erkrankung, da beim Antragsteller in einigen Bereichen nur ein leicht ausgeprägtes ADHS vorliege.
Gegen diesen ihm am 6. Februar 2018 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 28. Februar 2018 Beschwerde beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt und zur Begründung über sein bisheriges Vorbringen hinaus ausgeführt, zur Behandlung des ADHS im Erwachsenenalter seien lediglich die von ihm bereits getesteten Arzneimittel Medikinet®adult und Strattera® zugelassen. Die Zweifel des SG am Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung seien nicht nachzuvollziehen, da selbst der MDK diese bestätigt habe. Eine Sucht bestehe bei ihm nicht und sei auch den vorliegenden ärztlichen Unterlagen nicht zu entnehmen. Des Weiteren hat er eine vertragsärztliche Verordnung von Ärztin R. vom 22. März 2018 über Bedrocan, 30 g, 1 g täglich zur unzerkleinerten Abgabe sowie einen Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 18. Juni 2018 (L 1 KR 71/18 B ER) über eine vorläufige Versorgung mit Cannabisblüten bei ADHS vorgelegt.
Der Antragsteller beantragt schriftsätzlich,
den Beschluss des Sozialgerichts Konstanz vom 1. Februar 2018 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Kosten einer Versorgung mit Cannabisblüten der Sorte "Bedrocan" in maximaler Tagesdosis von 1,5 g sowie einem 4-Wochenbedarf von 45 g gemäß der Dosierungsvorgaben der behandelnden Vertragsärztin vom 23. Oktober 2017 und unter Vorbehalt einer Rückforderung im Fall des Obsiegens im Hauptsacheverfahren zu übernehmen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend und hat insbesondere auf die Ausführungen im Gutachten von Dr. Me. verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verfahrensakten des Senats und des SG unter Einschluss des Klageverfahrens S 9 KR 447/18 sowie der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
1. Die nach § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragstellers ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 172 Abs. 1 und 3 Nr. 1 i.V.m. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG. Die begehrte Sachleistung übersteigt den Beschwerdewert von EUR 750,00, da deren Kosten – ausgehend von der vorgelegten Apothekenrechnung und der begehrten Tagesdosis – bereits nach zwei Monaten bei EUR 1.080,00 liegen.
2. Die Beschwerde hat in der Sache teilweise Erfolg. Das SG hat das Begehren auf vorläufige Versorgung mit medizinischen Cannabisblüten im Ergebnis zu Unrecht vollständig abgelehnt.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit – wie hier – nicht ein Fall des Abs. 1 vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Vorliegend kommt nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die – summarische – Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtschutzes verbundenen Belastungen – insbesondere auch im Hinblick auf ihre Grundrechtsrelevanz – wiegen. Orientieren in solchen Fällen die Gerichte ihre Entscheidung an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache, so sind sie gemäß Art 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz (GG) gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen, die, wenn dazu Anlass besteht, Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen muss. Ist im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers vorzunehmen (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 - juris Rn. 7 und Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - juris Rn. 25, 26). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
3. a) Ein Anordnungsgrund im Sinne einer besonderen Eilbedürftigkeit ist gegeben. Das Aufschieben einer Behandlung der bereits bestehenden Krankheit ist dem Antragsteller nicht zumutbar. Ebenso hat er glaubhaft dargelegt, dass er finanziell nicht in der Lage ist, das begehrte Arzneimittel selbst zu beschaffen. Nach der vorgelegten Apothekenrechnung betrugen die Kosten für 5 Packungen à 5 g Bedrocan ca. EUR 300,00, mithin EUR 12,00 pro Gramm. Bei der zuletzt verordneten Dosis von 1 g täglich, belaufen sich die monatlichen Kosten mithin auf EUR 360,00. Dem steht nach dem ebenfalls vorgelegten Entgeltnachweis ein monatliches Nettoeinkommen in Höhe von EUR 893,27 gegenüber. Es ist daher nachvollziehbar, dass die Eigenfinanzierung der begehrten Therapie eine dem Antragsteller nicht zumutbare weitere Verschuldung nach sich zöge.
b) Unter Beachtung der vorgenannten Maßstäbe ist jedoch offen, ob dem Antragsteller der geltend gemachte Anspruch auf Versorgung mit Cannabisblüten tatsächlich zusteht.
Nach § 31 Abs. 6 SGB V (in der ab 10. März 2017 geltenden Fassung durch Art. 4 Nr. 2 des Gesetzes zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 6. März 2017, BGBl. I, S. 403) haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn 1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung a. nicht zur Verfügung steht oder b. im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann, 2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist.
aa) Nach derzeitigem Stand liegt beim Antragsteller eine schwerwiegende Erkrankung in diesem Sinne vor, die aufgrund ihrer Schwere die Lebensqualität wesentlichen beeinträchtigt. Dies entnimmt der Senat insbesondere dem Gutachten von Dr. Me ... Danach ist aufgrund der im Widerspruchsverfahren vorgelegten Unterlagen zweifelsfrei davon auszugehen, dass seit der Kindheit ein ADHS besteht und durch dieses schwerwiegende psychosoziale anhaltende Störungen vorgelegen haben und weiterhin vorliegen. Auch Dr. T. stellte in ihrem Bericht die Diagnose einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0). Die Leistungen in der dort durchgeführten neuropsychologischen Testung mit deutlichen Einschränkungen im Bereich der Aufmerksamkeit, des Arbeitsgedächtnisses und der Verarbeitungsgeschwindigkeit beschrieb sie als typisch für ADHS-Patienten und konsistent mit der Selbst- und Fremdbeschreibung der Probleme. In einigen Gegenstandsbereichen der angewandten ADHS-Skalen, insbesondere im Bereich der Hyperaktivität, fanden sich zwar eher leichtere Ausprägungen. Allerdings weist Dr. T. einerseits darauf hin, dass sich diese im Erwachsenenalter mitunter auf den gedanklichen Bereich verlagert. Andererseits erfolgte die dortige Untersuchung bereits unter dem Einfluss der Cannabismedikation. Dies kann demnach erklären, dass sich die Schwierigkeiten im Bereich der Hyperaktivität in den ADHS-Skalen teilweise nur subklinisch darstellten. Ärztin R. bestätigte ebenfalls das Vorliegen eines ADHS mit im Vordergrund stehender Aufmerksamkeitsstörung mit ausgeprägter gedanklicher Ablenkbarkeit, Konzentrationsstörungen, eingeschränktem Arbeitsgedächtnis und erhöhter Impulsivität.
bb) Ebenso ist die Voraussetzung der Ziff. 2, nämlich eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome durch die Behandlung mit Cannabisblüten unter Berücksichtigung der übereinstimmenden Darlegung von Dr. M. und von Dr. H. in den MDK-Gutachten vom 13. Juni und 24. November 2017 nicht zweifelhaft. Danach liegen derzeit keine höherwertigen Studien über einen Nutzen von Cannabis beim ADHS vor, wohl aber Hinweise auf eine Wirksamkeit im Rahmen von Fallberichten, einer Befragung und einer kleinen randomisierten und placebokontrollierten Pilotstudie mit 30 Patienten (Cooper et al., 2017). Die Autoren beschreiben Hinweise auf Wirksamkeit bei gleichzeitiger Notwendigkeit weiterer Studien. Dem steht die Einschätzung von Dr. Me. im MDK-Gutachten vom 21. Dezember 2017 nicht entgegen. Soweit dort eine solche nicht ganz entfernt liegende Aussicht verneint wird, beruht dies nicht auf einer neueren oder abweichenden Studienlage, sondern auf der Vermutung, dass der seit Jahren bestehende Cannabiskonsum und eine -abhängigkeit die vorrangige Erkrankung darstellen könnte und vorrangig zu behandeln sei. Dies betrifft nicht die hier maßgebliche Frage einer möglichen Einwirkung auf das ADHS und seine Folgen.
dd) Eine vertragsärztliche Verordnung liegt mittlerweile vor. Ärztin R. verordnete am 22. März 2018 Bedrocan zur Inhalation, 30 g, 1 g täglich zur unzerkleinerten Abgabe. Die Begrenzungen nach § 2 Abs. 1 a) Ziff. 2a der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (max. 100.000 mg für 30 Tage) sind eingehalten.
ee) Offen ist jedoch derzeit, ob eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung vorliegend nicht zur Anwendung kommen kann. Maßgeblich ist insoweit nach der gesetzlichen Regelung die begründete Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes im Einzelfall unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten. Dr. Me. beschreibt als leitliniengerechte Behandlung des ADHS im Erwachsenenalter – gestützt auf die NICE Guidelines – vorrangig die Gabe von Stimulanzien (Evidenz 1 B, Empfehlung A), als zweite Wahl TAD mit noradrenergem Wirkmechanismus, ATX, Bupropion, Phenylalanin, Nikotinpflaster, Nikotin Rezeptoragonisten (Evidenz 1 C, Empfehlung D) im Rahmen eines Behandlungskonzepts umfassend Psychotherapie (Evidenz III, Empfehlung D). Als für die Behandlung von Erwachsenen zugelassene Arzneimittel stehen danach zur Verfügung der Wirkstoff Atomoxetin sowie Medikinet® adult und weitere im einzelnen genannte Arzneimittel, die diesem in ihrem Wirkstoff (Methylphenidat) und in ihrer Wirkstärke pro Dosiseinheit entsprechen. Nach dem Antragsschreiben von Ärztin R. vom 23. Oktober 2017 habe der Antragsteller jedoch auf Methylphenidat – ebenso wie auf Atomoxetin und Sativex® – in der Vergangenheit nicht angesprochen; es sei lediglich zu Nebenwirkungen wie Appetitlosigkeit, innere Unruhe, Depressivität und Schlafstörungen gekommen. Im ärztlichen Fragebogen vom 6. November 2017 hat sie dies nochmals bestätigt. Hinsichtlich einer Behandlung mit Atomoxetin wird dies auch von Dr. M. angegeben. Der Antragsteller hat entsprechende – privatärztliche – Arzneimittelverordnungen von Dr. M. vom 3. März und 9. August 2017 sowie von Dr. Sc. vom 1. August 2017 vorgelegt. Allerdings weist Dr. Me. zu Recht darauf hin, dass es sich nach den vorgelegten Verordnungen nur um jeweils eine kleine Dosis handelt, so dass nicht festgestellt werden kann, ob eine leitliniengerechte Pharmakotherapie durchgeführt wurde, gegebenenfalls über welche Zeiträume und ob im Rahmen eines Gesamtkonzepts. Im Erörterungstermin vor dem SG hat der Antragsteller angegeben, die Versuche mit den zugelassenen Wirkstoffen über die in Berlin praktizierende Dr. M. unternommen zu haben. Diese hat er nach seinen Angaben aber nur dreimal persönlich aufgesucht. Es ist daher nicht ersichtlich, inwieweit die Angaben zu den Nebenwirkungen auf eigenen Befundungen durch Dr. M. oder Ärztin R. beruhen oder lediglich Darstellungen des Antragstellers wiedergegeben wurden. Soweit der Antragsteller vorträgt, Ärztin R. habe ein Therapiekonzept, bestehend aus dem begehrten Medikament und regelmäßigen Gesprächssitzungen aufgestellt, ist letzteres den vorliegenden Unterlagen bislang nicht zu entnehmen. Nach dem im Klageverfahren vorgelegten Bericht der Dipl.-Psych. D. fanden die dortigen sechs Stunden Einzelgespräche zwischen dem 9. Juni 2017 und 16. März 2018 im Rahmen der Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Einzelinterventionsmaßnahme statt, waren also nicht Teil eines Behandlungskonzepts des ADHS. Schließlich ist auch nicht ersichtlich, inwieweit der Verordnung durch Ärztin R. eine Abklärung und Abwägung einer möglichen Cannabisabhängigkeit, wie von Dr. T. angesprochen, zugrunde liegt. Die Klärung dieser noch offenen Punkte bleibt dem bereits anhängigen Hauptsacheverfahren vorbehalten.
c) Angesichts der Offenheit der Erfolgsaussichten in der Hauptsache entscheidet der Senat aufgrund einer umfassenden Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichtigung des grundrechtlichen Gewichts des geltend gemachten Begehrens. Abzuwägen sind die Folgen, die einträten, wenn die Eilentscheidung zugunsten des Antragstellers erginge, die Klage aber später keinen Erfolg hätte, mit denen, die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erginge, die Klage später aber erfolglos bliebe.
Bei Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung und späterer Klageabweisung müsste der Antragsteller die von der Antragsgegnerin nur vorläufig getragenen Arzneimittelkosten erstatten. Dies stellt nicht nur ein finanzielles Risiko für ihn selbst dar, sondern bei Uneinbringlichkeit der Erstattungsforderung im Hinblick auf die vorgetragene bereits bestehende Verschuldung auch für die von der Antragsgegnerin vertretene Versichertengemeinschaft. Bei Ablehnung der begehrten einstweiligen Anordnung und späterem Erfolg der Klage bliebe die bestehende Krankheit unzureichend behandelt oder gar unbehandelt. Der Antragsteller wäre in seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG verletzt. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass dieses Grundrecht nicht immer und zwingend für die vorläufige Verpflichtung einer Krankenkasse zur Erbringung einer begehrten Leistung streitet. Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung dient insbesondere im Hinblick auf das ihr eigene Qualitätsgebot auch dem Schutz des Versicherten vor unwirksamen oder mit erheblichen Nebenwirkungen verbundenen Behandlungsleistungen. Zu beachten ist daher vorliegend auch die Möglichkeit einer bestehenden Cannabisabhängigkeit des Antragstellers. So hat Dr. T. darauf hingewiesen, dass eine solche bei regelmäßigem Konsum seit ca. vier Jahren nicht ausgeschlossen werden kann. Einen Verdacht auf ein rezidivierendes Cannabisentzugssyndrom, wie von Dr. Me. diagnostiziert, äußert sie jedoch nicht. Insoweit ist zu beachten, dass die vom Antragsteller während der Zeiträume ohne Cannabiskonsum angegebenen Beschwerden gerade auch Folgen des unbehandelten ADHS darstellen können, wovon offenbar Dr. T. ausgeht. Stellte sich im Klageverfahren heraus, dass die Behandlung der ADHS mit zugelassenen Arzneimitteln nicht möglich oder wegen der Nebenwirkungen nicht zumutbar wäre, hätte der Kläger die – auch nach Auffassung von Dr. Me. – bestehenden schwerwiegenden psychosozialen Störungen mit erheblichen Einschränkungen in der Lebensqualität zu tragen. Neben dieser Beeinträchtigung der grundrechtlich geschützten Gesundheit bestünde des Weiteren die Gefahr, dass sich die Folgen des unbehandelten ADHS negativ auf die vom Antragsteller derzeit – auch unter Einnahme von medizinischem Cannabis – absolvierte Berufsausbildung auswirkt.
Unter Abwägung dieser Umstände und Berücksichtigung des besonderen Gewichts des Art. 2 Abs. 2 GG erachtet es der Senat als geboten, dem Begehren des Antragstellers dem Grunde nach stattzugeben. Den oben im Einzelnen dargelegten offenen Fragen, die im bereits anhängigen Hauptsacheverfahren geklärt werden können, trägt der Senat durch eine Befristung seiner Entscheidung Rechnung. Dadurch wird – bis zu einer näheren Abklärung – auch das Abhängigkeitsrisiko nicht weiter gesteigert. Eine Leistungsgewährung über die in der vertragsärztlichen Verordnung von Ärztin R. angegebene Dosis hinaus kommt allerdings nicht in Betracht. Desgleichen war die Antragsgegnerin aufgrund der Folgenabwägung nicht zu einer Kostenerstattung für zurückliegende Zeiträume bis zur Entscheidung des Senats zu verpflichten.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
5. Diese Entscheidung ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen zur Hälfte.
Gründe:
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Übernahme der Kosten für eine Versorgung mit medizinischen Cannabisblüten.
Der am 1995 geborene, bei der Antragsgegnerin krankenversicherte Antragsteller stellte zunächst über Dr. M. (Privatpraxis für Psychiatrie und Psychotherapie in Berlin) am 6. Juni 2017 bei der Antragsgegnerin einen Antrag auf Übernahme der Kosten für Cannabisblüten zur Behandlung einer Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung mit Persistenz in das Erwachsenenalter. In einem daraufhin veranlassten Gutachten vom 13. Juni 2017 kam Dr. H., Medizinischer Dienst der Krankenversicherung (MDK), zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) vorlägen. Von einer schwerwiegenden Erkrankung sei auszugehen. Auch sei beschrieben worden, dass die für Erwachsene zugelassenen Therapien zur Behandlung von ADHS eingesetzt worden, jedoch nicht ausreichend wirksam gewesen seien oder zu intolerablen Nebenwirkungen geführt hätten, weshalb keine dem medizinischen Standard entsprechende Behandlungsalternative zur Verfügung stehe. Ferner bestehe beim Konsum von Cannabisblüten bei dem Antragsteller eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome des ADHS. Mit Bescheid vom 27. Juni 2017 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Kostenübernahme ab, da die Cannabisblüten zum einen für eine Verordnung mittels Betäubungsmittel(BTM)-Rezept näher bezeichnet werden müssten und zum anderen eine Verordnung i.S.d. § 31 SGB V eine solche durch einen Vertragsarzt erfordere; die vorliegend durch eine Ärztin ohne kassenärztliche Zulassung erstellte genüge nicht. Den hiergegen zunächst erhobenen Widerspruch nahm der Kläger später zurück. Einen Antrag auf Versorgung mit dem cannabishaltigen Fertigarzneimittel Sativex® lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 17. August 2017 ab.
Mit Schreiben vom 23. Oktober 2017 stellte Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie R. für den Antragsteller einen Antrag auf Übernahme der Kosten für die Cannabisblüten der Sorte Bedrocan zur Behandlung der ADHS. Der Antragsteller konsumiere seit vier Jahren vier- bis fünfmal am Tag Bedrocan (Tagesdosis: 0,5 - 1,5 g), wobei er ohne Cannabis nicht in der Lage sei, zu lernen und sich zu konzentrieren. Es gebe keine Alternative zu dieser Behandlung, da die zugelassenen Medikamente und Sativex® versucht, aber ohne Therapieerfolg geblieben seien. Die Antragsgegnerin veranlasste daraufhin nochmals ein Gutachten des MDK insbesondere zu der Fragestellung, ob alternative Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft seien, da bis 2014 laut den Abrechnungsdaten keinerlei Hinweise auf eine ADHS-Erkrankung vorgelegen hätten, keinerlei ärztliche Dokumentation und Behandlung erfolgt sei und die von Ärztin R. aufgeführten Medikamente mit den Wirkstoffen Methylphenidat und Atomoxetin nicht über sie (die Antragsgegnerin) abgerechnet worden seien. Beigefügt war ein von Ärztin R. am 6. November 2017 ausgefüllter Arztfragebogen zu Cannaboiden. Über die Einschaltung des MDK setzte sie den Antragsteller mit Schreiben vom 25. Oktober 2017 in Kenntnis.
In seinen Gutachten vom 24. November 2017 gab Dr. H. an, zur Behandlung der ADHS seien lediglich verschiedene Methylphenidat-Präparate sowie Atomoxetin zugelassen. Hinsichtlich der durchgeführten Therapien lägen widersprüchliche Angaben vor. Eine Ausschöpfung der dem medizinischen Standard entsprechenden Therapie mit den für das Krankheitsbild des Antragstellers zugelassenen Arzneimitteln und ebenso wie mit Psychotherapie könne nicht betätigt werden könne. Derzeit lägen keine höherwertigen Studien vor, die einen Nutzen von Cannabis bei ADHS belegen würden, jedoch Hinweise auf die Wirksamkeit im Rahmen von Fallberichten, einer Befragung und einer kleinen Pilotstudie.
Mit Bescheid vom 27. November 2017 lehnte die Antragsgegnerin daraufhin die Kostenübernahme für Cannabis der Sorte Bedrocan ab, da nicht belegt sei, dass keine allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechenden Leistungen als Alternative zur Verfügung stünden bzw. erfolglos ausgeschöpft oder nicht geeignet wären. Hiergegen erhob der Antragsteller am 15. Dezember 2017 Widerspruch.
Bereits am 4. Dezember 2017 beantragte der Antragsteller beim Sozialgericht Konstanz (SG) die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes, mit dem er die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur vorläufigen Kostenübernahme für eine Versorgung mit medizinischen Cannabisblüten der Sorte Bedrocan in maximaler Tagesdosis von 1,5 g sowie einem 4-Wochenbedarf von 45 g begehrte.
Den Widerspruch wies der Widerspruchsausschuss der Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 2018 als unbegründet zurück. Die hiergegen am 23. Februar 2018 erhobene Klage ist beim SG unter dem Aktenzeichen S 9 KR 447/97 anhängig. In diesem Verfahren legte der Antragsteller u.a. einen Verlaufsbericht von Dr. M. vom "10.01.2017" sowie einen Beratungsbericht von Dipl.-Psych. D. vor.
Zur Begründung seines Eilantrags führte der Antragsteller im Wesentlichen aus, dass er seit dem 11. Lebensjahr an ADHS leide und Therapieversuche mit sämtlichen für die Behandlung der Erkrankung zugelassenen Arzneimitteln in der Vergangenheit bei verschiedenen Ärzten erfolglos verlaufen seien bzw. zu intolerablen Nebenwirkungen geführt hätten. Zusätzlich zur vertragsärztlichen habe er sich auch in privatärztlicher Behandlung befunden, in deren Rahmen auch die Behandlungsversuche mit Medikinet®adult retard und Strattera® erfolgt seien. In den Abrechnungsdaten der Antragsgegnerin seien diese daher nicht dokumentiert. Bei einem Preis in Höhe von EUR 25,00 pro Gramm und einer verordneten Tagesdosis von 1,5 g Cannabisblüten könne er die Therapiekosten (vorgelegte Apothekenrechnung vom 16. August 2017 über EUR 306,94) mit seinem geringen Ausbildungsgehalt (vorgelegte Entgeltbescheinigung für Oktober 2017; Auszahlung EUR 893,27) nicht mehr tragen. Mittlerweile habe er ca. EUR 15.000,00 Schulden. Ergänzend legte er u.a. einen Befundbericht von Prof. Dr. We., Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Kliniken K., vom 16. März 2007 (Verdacht auf [V.a.] eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen), privatärztliche Arzneimittelverordnungen von Dr. M. vom 3. März und 8. August 2017 (Strattera®; Medikinet® ret.) und des Neurologen und Psychiaters Dr. Sc. (Sativex®) vom 31. Juli 2017 sowie einen Bericht von Dr. T., Chefärztin des ZfP R., vom 26. Juli 2017 über fünf Vorstellungen in der dortigen Früherkennungssprechstunde von Juni bis August 2017 vor. Diese diagnostizierte eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung. Bei der dortigen Untersuchung habe der Antragsteller allerdings unter dem Einfluss von Cannabis gestanden, so dass aktuelle Symptome einerseits und die Wirkung und Nebenwirkung des Konsums andererseits nicht klar zu unterscheiden gewesen seien. Angesichts des regelmäßigen Konsums von Cannabis seit vier Jahren könne auch eine bestehende Abhängigkeit nicht ausgeschlossen werden. Empfohlen werde eine ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung.
Die Antragsgegnerin trat dem Antrag entgegen. Eine Eilbedürftigkeit sei nicht erkennbar, da der Antragsteller in den vergangenen vier Jahren täglich Cannabis konsumiert und dies selbst finanziert habe. Ferner seien die Voraussetzungen des § 31 Abs.6 SGB V nicht erfüllt. Es sei zweifelhaft, ob es sich bei der Erkrankung des Antragstellers um eine schwerwiegende Erkrankung handle, da die Diagnose ADHS zunächst als Verdachtsdiagnose aufgestellt und im Weiteren ärztlicherseits alleine festgestellt worden sei, dass einige Bereiche der ADHS nur leicht ausgeprägt seien. Weiterhin seien die alternativen Behandlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft, da für die Zeit bis Mitte 2017 keinerlei Behandlungsnachweise über eine ADHS-Erkrankung oder eine andere psychische Erkrankung vorlägen. Sofern der Antragsteller angebe, dass er sich privatärztlich habe behandeln lassen, seien entsprechende Befundberichte nicht bekannt. Auch die von Dr. T. empfohlene psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung sei nicht durchgeführt worden. Weiterhin sei auch der Nutzen von Cannabis bei ADHS nicht belegt. In einem vorgelegten Gutachten vom 21. Dezember 2017 stellte Dr. Me., MDK, die Diagnosen einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, eines V.a. Cannabisabhängigkeit bei regelhaftem Cannabiskonsum seit vier Jahren und Akzentuierung von innerer Anspannung bei zwei Abstinenzzeiten, V.a. rezidivierendes Cannabisentzugssyndrom, illegaler Besitz und Einfuhr von Cannabis, anamnestisch in der Kindheit V.a. Posttraumatische Belastungsstörung sowie Störung des Sozialverhaltens und der Emotion. Mit im Erwachsenenalter fortbestehenden ADHS mit schwerwiegenden psychosozialen anhaltenden Störungen liege eine schwerwiegende, die Lebensqualität nachhaltig auf Dauer beeinträchtigende Erkrankung vor. Eine Ausschöpfung der allgemein anerkannten, dem medizinischen Stand entsprechenden Behandlung sei aus den vorliegenden Unterlagen nicht zu erkennen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der seit Jahren bestehende Cannabiskonsum und die Cannabisabhängigkeit als vorrangige Erkrankungen zu behandeln seien.
Nach Durchführung eines Erörterungstermins lehnte das SG den Antrag mit Beschluss vom 1. Februar 2018 mangels Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes ab. Dem Anspruch aus § 31 Abs. 1 SGB V stehe bereits das Fehlen einer vertragsärztlichen Verordnung der Cannabisblüten entgegen. Ein privatärztliches Rezept genüge nicht. Des Weiteren bestünden Zweifel am Nachweis einer schwerwiegenden Erkrankung, da beim Antragsteller in einigen Bereichen nur ein leicht ausgeprägtes ADHS vorliege.
Gegen diesen ihm am 6. Februar 2018 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 28. Februar 2018 Beschwerde beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt und zur Begründung über sein bisheriges Vorbringen hinaus ausgeführt, zur Behandlung des ADHS im Erwachsenenalter seien lediglich die von ihm bereits getesteten Arzneimittel Medikinet®adult und Strattera® zugelassen. Die Zweifel des SG am Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung seien nicht nachzuvollziehen, da selbst der MDK diese bestätigt habe. Eine Sucht bestehe bei ihm nicht und sei auch den vorliegenden ärztlichen Unterlagen nicht zu entnehmen. Des Weiteren hat er eine vertragsärztliche Verordnung von Ärztin R. vom 22. März 2018 über Bedrocan, 30 g, 1 g täglich zur unzerkleinerten Abgabe sowie einen Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 18. Juni 2018 (L 1 KR 71/18 B ER) über eine vorläufige Versorgung mit Cannabisblüten bei ADHS vorgelegt.
Der Antragsteller beantragt schriftsätzlich,
den Beschluss des Sozialgerichts Konstanz vom 1. Februar 2018 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Kosten einer Versorgung mit Cannabisblüten der Sorte "Bedrocan" in maximaler Tagesdosis von 1,5 g sowie einem 4-Wochenbedarf von 45 g gemäß der Dosierungsvorgaben der behandelnden Vertragsärztin vom 23. Oktober 2017 und unter Vorbehalt einer Rückforderung im Fall des Obsiegens im Hauptsacheverfahren zu übernehmen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend und hat insbesondere auf die Ausführungen im Gutachten von Dr. Me. verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verfahrensakten des Senats und des SG unter Einschluss des Klageverfahrens S 9 KR 447/18 sowie der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
1. Die nach § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragstellers ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 172 Abs. 1 und 3 Nr. 1 i.V.m. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG. Die begehrte Sachleistung übersteigt den Beschwerdewert von EUR 750,00, da deren Kosten – ausgehend von der vorgelegten Apothekenrechnung und der begehrten Tagesdosis – bereits nach zwei Monaten bei EUR 1.080,00 liegen.
2. Die Beschwerde hat in der Sache teilweise Erfolg. Das SG hat das Begehren auf vorläufige Versorgung mit medizinischen Cannabisblüten im Ergebnis zu Unrecht vollständig abgelehnt.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit – wie hier – nicht ein Fall des Abs. 1 vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Vorliegend kommt nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die – summarische – Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtschutzes verbundenen Belastungen – insbesondere auch im Hinblick auf ihre Grundrechtsrelevanz – wiegen. Orientieren in solchen Fällen die Gerichte ihre Entscheidung an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache, so sind sie gemäß Art 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz (GG) gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen, die, wenn dazu Anlass besteht, Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen muss. Ist im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers vorzunehmen (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 - juris Rn. 7 und Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - juris Rn. 25, 26). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
3. a) Ein Anordnungsgrund im Sinne einer besonderen Eilbedürftigkeit ist gegeben. Das Aufschieben einer Behandlung der bereits bestehenden Krankheit ist dem Antragsteller nicht zumutbar. Ebenso hat er glaubhaft dargelegt, dass er finanziell nicht in der Lage ist, das begehrte Arzneimittel selbst zu beschaffen. Nach der vorgelegten Apothekenrechnung betrugen die Kosten für 5 Packungen à 5 g Bedrocan ca. EUR 300,00, mithin EUR 12,00 pro Gramm. Bei der zuletzt verordneten Dosis von 1 g täglich, belaufen sich die monatlichen Kosten mithin auf EUR 360,00. Dem steht nach dem ebenfalls vorgelegten Entgeltnachweis ein monatliches Nettoeinkommen in Höhe von EUR 893,27 gegenüber. Es ist daher nachvollziehbar, dass die Eigenfinanzierung der begehrten Therapie eine dem Antragsteller nicht zumutbare weitere Verschuldung nach sich zöge.
b) Unter Beachtung der vorgenannten Maßstäbe ist jedoch offen, ob dem Antragsteller der geltend gemachte Anspruch auf Versorgung mit Cannabisblüten tatsächlich zusteht.
Nach § 31 Abs. 6 SGB V (in der ab 10. März 2017 geltenden Fassung durch Art. 4 Nr. 2 des Gesetzes zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 6. März 2017, BGBl. I, S. 403) haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn 1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung a. nicht zur Verfügung steht oder b. im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann, 2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist.
aa) Nach derzeitigem Stand liegt beim Antragsteller eine schwerwiegende Erkrankung in diesem Sinne vor, die aufgrund ihrer Schwere die Lebensqualität wesentlichen beeinträchtigt. Dies entnimmt der Senat insbesondere dem Gutachten von Dr. Me ... Danach ist aufgrund der im Widerspruchsverfahren vorgelegten Unterlagen zweifelsfrei davon auszugehen, dass seit der Kindheit ein ADHS besteht und durch dieses schwerwiegende psychosoziale anhaltende Störungen vorgelegen haben und weiterhin vorliegen. Auch Dr. T. stellte in ihrem Bericht die Diagnose einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0). Die Leistungen in der dort durchgeführten neuropsychologischen Testung mit deutlichen Einschränkungen im Bereich der Aufmerksamkeit, des Arbeitsgedächtnisses und der Verarbeitungsgeschwindigkeit beschrieb sie als typisch für ADHS-Patienten und konsistent mit der Selbst- und Fremdbeschreibung der Probleme. In einigen Gegenstandsbereichen der angewandten ADHS-Skalen, insbesondere im Bereich der Hyperaktivität, fanden sich zwar eher leichtere Ausprägungen. Allerdings weist Dr. T. einerseits darauf hin, dass sich diese im Erwachsenenalter mitunter auf den gedanklichen Bereich verlagert. Andererseits erfolgte die dortige Untersuchung bereits unter dem Einfluss der Cannabismedikation. Dies kann demnach erklären, dass sich die Schwierigkeiten im Bereich der Hyperaktivität in den ADHS-Skalen teilweise nur subklinisch darstellten. Ärztin R. bestätigte ebenfalls das Vorliegen eines ADHS mit im Vordergrund stehender Aufmerksamkeitsstörung mit ausgeprägter gedanklicher Ablenkbarkeit, Konzentrationsstörungen, eingeschränktem Arbeitsgedächtnis und erhöhter Impulsivität.
bb) Ebenso ist die Voraussetzung der Ziff. 2, nämlich eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome durch die Behandlung mit Cannabisblüten unter Berücksichtigung der übereinstimmenden Darlegung von Dr. M. und von Dr. H. in den MDK-Gutachten vom 13. Juni und 24. November 2017 nicht zweifelhaft. Danach liegen derzeit keine höherwertigen Studien über einen Nutzen von Cannabis beim ADHS vor, wohl aber Hinweise auf eine Wirksamkeit im Rahmen von Fallberichten, einer Befragung und einer kleinen randomisierten und placebokontrollierten Pilotstudie mit 30 Patienten (Cooper et al., 2017). Die Autoren beschreiben Hinweise auf Wirksamkeit bei gleichzeitiger Notwendigkeit weiterer Studien. Dem steht die Einschätzung von Dr. Me. im MDK-Gutachten vom 21. Dezember 2017 nicht entgegen. Soweit dort eine solche nicht ganz entfernt liegende Aussicht verneint wird, beruht dies nicht auf einer neueren oder abweichenden Studienlage, sondern auf der Vermutung, dass der seit Jahren bestehende Cannabiskonsum und eine -abhängigkeit die vorrangige Erkrankung darstellen könnte und vorrangig zu behandeln sei. Dies betrifft nicht die hier maßgebliche Frage einer möglichen Einwirkung auf das ADHS und seine Folgen.
dd) Eine vertragsärztliche Verordnung liegt mittlerweile vor. Ärztin R. verordnete am 22. März 2018 Bedrocan zur Inhalation, 30 g, 1 g täglich zur unzerkleinerten Abgabe. Die Begrenzungen nach § 2 Abs. 1 a) Ziff. 2a der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (max. 100.000 mg für 30 Tage) sind eingehalten.
ee) Offen ist jedoch derzeit, ob eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung vorliegend nicht zur Anwendung kommen kann. Maßgeblich ist insoweit nach der gesetzlichen Regelung die begründete Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes im Einzelfall unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten. Dr. Me. beschreibt als leitliniengerechte Behandlung des ADHS im Erwachsenenalter – gestützt auf die NICE Guidelines – vorrangig die Gabe von Stimulanzien (Evidenz 1 B, Empfehlung A), als zweite Wahl TAD mit noradrenergem Wirkmechanismus, ATX, Bupropion, Phenylalanin, Nikotinpflaster, Nikotin Rezeptoragonisten (Evidenz 1 C, Empfehlung D) im Rahmen eines Behandlungskonzepts umfassend Psychotherapie (Evidenz III, Empfehlung D). Als für die Behandlung von Erwachsenen zugelassene Arzneimittel stehen danach zur Verfügung der Wirkstoff Atomoxetin sowie Medikinet® adult und weitere im einzelnen genannte Arzneimittel, die diesem in ihrem Wirkstoff (Methylphenidat) und in ihrer Wirkstärke pro Dosiseinheit entsprechen. Nach dem Antragsschreiben von Ärztin R. vom 23. Oktober 2017 habe der Antragsteller jedoch auf Methylphenidat – ebenso wie auf Atomoxetin und Sativex® – in der Vergangenheit nicht angesprochen; es sei lediglich zu Nebenwirkungen wie Appetitlosigkeit, innere Unruhe, Depressivität und Schlafstörungen gekommen. Im ärztlichen Fragebogen vom 6. November 2017 hat sie dies nochmals bestätigt. Hinsichtlich einer Behandlung mit Atomoxetin wird dies auch von Dr. M. angegeben. Der Antragsteller hat entsprechende – privatärztliche – Arzneimittelverordnungen von Dr. M. vom 3. März und 9. August 2017 sowie von Dr. Sc. vom 1. August 2017 vorgelegt. Allerdings weist Dr. Me. zu Recht darauf hin, dass es sich nach den vorgelegten Verordnungen nur um jeweils eine kleine Dosis handelt, so dass nicht festgestellt werden kann, ob eine leitliniengerechte Pharmakotherapie durchgeführt wurde, gegebenenfalls über welche Zeiträume und ob im Rahmen eines Gesamtkonzepts. Im Erörterungstermin vor dem SG hat der Antragsteller angegeben, die Versuche mit den zugelassenen Wirkstoffen über die in Berlin praktizierende Dr. M. unternommen zu haben. Diese hat er nach seinen Angaben aber nur dreimal persönlich aufgesucht. Es ist daher nicht ersichtlich, inwieweit die Angaben zu den Nebenwirkungen auf eigenen Befundungen durch Dr. M. oder Ärztin R. beruhen oder lediglich Darstellungen des Antragstellers wiedergegeben wurden. Soweit der Antragsteller vorträgt, Ärztin R. habe ein Therapiekonzept, bestehend aus dem begehrten Medikament und regelmäßigen Gesprächssitzungen aufgestellt, ist letzteres den vorliegenden Unterlagen bislang nicht zu entnehmen. Nach dem im Klageverfahren vorgelegten Bericht der Dipl.-Psych. D. fanden die dortigen sechs Stunden Einzelgespräche zwischen dem 9. Juni 2017 und 16. März 2018 im Rahmen der Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Einzelinterventionsmaßnahme statt, waren also nicht Teil eines Behandlungskonzepts des ADHS. Schließlich ist auch nicht ersichtlich, inwieweit der Verordnung durch Ärztin R. eine Abklärung und Abwägung einer möglichen Cannabisabhängigkeit, wie von Dr. T. angesprochen, zugrunde liegt. Die Klärung dieser noch offenen Punkte bleibt dem bereits anhängigen Hauptsacheverfahren vorbehalten.
c) Angesichts der Offenheit der Erfolgsaussichten in der Hauptsache entscheidet der Senat aufgrund einer umfassenden Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichtigung des grundrechtlichen Gewichts des geltend gemachten Begehrens. Abzuwägen sind die Folgen, die einträten, wenn die Eilentscheidung zugunsten des Antragstellers erginge, die Klage aber später keinen Erfolg hätte, mit denen, die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erginge, die Klage später aber erfolglos bliebe.
Bei Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung und späterer Klageabweisung müsste der Antragsteller die von der Antragsgegnerin nur vorläufig getragenen Arzneimittelkosten erstatten. Dies stellt nicht nur ein finanzielles Risiko für ihn selbst dar, sondern bei Uneinbringlichkeit der Erstattungsforderung im Hinblick auf die vorgetragene bereits bestehende Verschuldung auch für die von der Antragsgegnerin vertretene Versichertengemeinschaft. Bei Ablehnung der begehrten einstweiligen Anordnung und späterem Erfolg der Klage bliebe die bestehende Krankheit unzureichend behandelt oder gar unbehandelt. Der Antragsteller wäre in seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG verletzt. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass dieses Grundrecht nicht immer und zwingend für die vorläufige Verpflichtung einer Krankenkasse zur Erbringung einer begehrten Leistung streitet. Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung dient insbesondere im Hinblick auf das ihr eigene Qualitätsgebot auch dem Schutz des Versicherten vor unwirksamen oder mit erheblichen Nebenwirkungen verbundenen Behandlungsleistungen. Zu beachten ist daher vorliegend auch die Möglichkeit einer bestehenden Cannabisabhängigkeit des Antragstellers. So hat Dr. T. darauf hingewiesen, dass eine solche bei regelmäßigem Konsum seit ca. vier Jahren nicht ausgeschlossen werden kann. Einen Verdacht auf ein rezidivierendes Cannabisentzugssyndrom, wie von Dr. Me. diagnostiziert, äußert sie jedoch nicht. Insoweit ist zu beachten, dass die vom Antragsteller während der Zeiträume ohne Cannabiskonsum angegebenen Beschwerden gerade auch Folgen des unbehandelten ADHS darstellen können, wovon offenbar Dr. T. ausgeht. Stellte sich im Klageverfahren heraus, dass die Behandlung der ADHS mit zugelassenen Arzneimitteln nicht möglich oder wegen der Nebenwirkungen nicht zumutbar wäre, hätte der Kläger die – auch nach Auffassung von Dr. Me. – bestehenden schwerwiegenden psychosozialen Störungen mit erheblichen Einschränkungen in der Lebensqualität zu tragen. Neben dieser Beeinträchtigung der grundrechtlich geschützten Gesundheit bestünde des Weiteren die Gefahr, dass sich die Folgen des unbehandelten ADHS negativ auf die vom Antragsteller derzeit – auch unter Einnahme von medizinischem Cannabis – absolvierte Berufsausbildung auswirkt.
Unter Abwägung dieser Umstände und Berücksichtigung des besonderen Gewichts des Art. 2 Abs. 2 GG erachtet es der Senat als geboten, dem Begehren des Antragstellers dem Grunde nach stattzugeben. Den oben im Einzelnen dargelegten offenen Fragen, die im bereits anhängigen Hauptsacheverfahren geklärt werden können, trägt der Senat durch eine Befristung seiner Entscheidung Rechnung. Dadurch wird – bis zu einer näheren Abklärung – auch das Abhängigkeitsrisiko nicht weiter gesteigert. Eine Leistungsgewährung über die in der vertragsärztlichen Verordnung von Ärztin R. angegebene Dosis hinaus kommt allerdings nicht in Betracht. Desgleichen war die Antragsgegnerin aufgrund der Folgenabwägung nicht zu einer Kostenerstattung für zurückliegende Zeiträume bis zur Entscheidung des Senats zu verpflichten.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
5. Diese Entscheidung ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
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