Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 12 R 752/15
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 R 224/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zu den Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung.
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 16.02.2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der 1956 geborene Kläger erlernte den Beruf eines Schreiners und legte die Meisterprüfung ab. Nach Angaben der Firma H. A. war der Kläger zuletzt als Meister mit der Gehaltsgruppe M1 versicherungspflichtig in Vollzeit beschäftigt.
Im Mai 2011 wurde dem Kläger vom C. , Versorgungsamt ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 zuerkannt, der ab Juni 2012 auf 50 erhöht wurde. Zugrunde lagen folgende Gesundheitsstörungen:
1. Chronisch venöse Insuffizienz, Funktionsbehinderung des Kniegelenkes links, Knorpelschäden am Kniegelenk rechts, Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseits (Einzel-GdB 40).
2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen (Einzel-GdB 30).
3. Schwerhörigkeit beidseits, Ohrgeräusche beidseits (Tinnitus) (Einzel-GdB 10).
Am 05.08.2013 beantragte der Kläger bei der Beklagten eine Leistung zur stationären medizinischen Rehabilitation. Diese wurde bewilligt und der Kläger befand sich vom 24.09.2013 bis 15.10.2013 in der A.-Klinik in Bad S ... Im dortigen Entlassungsbericht vom 05.11.2013 wurden als Diagnosen aufgeführt:
1. Chronisches LWS-Syndrom.
2. Cervicobrachial-Syndrom.
3. Impingement-Syndrom der Schulter.
4. Muskelkrankheit, nicht näher bezeichnet.
Der Kläger könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte bis mittelschwere Tätigkeiten im Umfang von täglich sechs Stunden und mehr ausüben. Es müsse sich um Tätigkeiten ohne häufiges Heben, Tragen und Bewegen von Lasten über 15 kg, ohne einseitige körperliche Belastungen wie vornübergebeugte Körperhaltung, ohne Oberkörperrotationen und ohne Zwangshaltungen handeln. Aufgrund dieser Einschränkungen sei er im Beruf des Schreiners nur noch unter drei Stunden einsatzfähig. Es liege Arbeitsunfähigkeit vor, die Wegefähigkeit sei gegeben.
Daraufhin beantragte die zuständige Krankenkasse, die AOK Bayern, bei der Beklagten die Umdeutung des Rehabilitationsantrages in einen Rentenantrag unter Einschränkung des Dispositionsrechts des Klägers.
Mit Bescheid vom 12.06.2014 bewilligte die Beklagte dem Kläger eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab 01.10.2013 gemäß § 240 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI), wobei anfänglich ein monatlicher Betrag von 476,02 Euro gezahlt wurde. Eine weitergehende Rentengewährung wegen voller Erwerbsminderung lehnte sie ab, da die medizinischen Voraussetzungen nicht erfüllt seien.
Der Kläger bezog in der Folgezeit allerdings weiter Krankengeld, auf das ein Erstattungsanspruch erhoben wurde. Nach Angaben des Klägers wurden derartige Sozialleistungen bis Februar 2015 bezogen. Der Kläger gab auch an, dass von der zuständigen Berufsgenossenschaft eine Berufskrankheit anerkannt sei. Die Bundesagentur für Arbeit teilte seinerzeit mit, dass sie vom 22.02.2015 bis 23.02.2017 Arbeitslosengeld bewillige und insofern Erstattungsansprüche der Beklagten berücksichtige.
Mit Schreiben vom 05.07.2014 legte der Kläger am 07.07.2014 Widerspruch gegen den Rentenbescheid ein, da er seit dem 30.10.2013 ununterbrochen krank sei. Er sei aufgrund seiner Erkrankung derzeit nicht leistungsfähig genug, um einer Beschäftigung nachzugehen. Weiter trug der Kläger vor, dass der Arbeitsmarkt verschlossen sei; er sei Schreinermeister und berufe sich auf Berufsschutz.
Die Beklagte ließ ein Gutachten durch den Orthopäden Dr. Sch. erstellen, der den Kläger am 04.11.2014 untersuchte. Er beschrieb
1. ein rezidivierendes rechtsseitiges cervicobrachiales Syndrom bei kernspintomografisch festgestellten mäßigen degenerativen Veränderungen im Segment C3/C4,
2. ein Impingement-Syndrom des rechten Schultergelenkes bei kernspintomografisch festgestellter Teilläsion der Supraspinatussehne,
3. rezidivierende tiefsitzende Kreuzschmerzen bei Fehlhaltung der LWS, mäßigen degenerativen Veränderungen und einer muskulären Dysbalance mit pseudoradikulärer Ausstrahlung links sowie
4. eine mäßiggradige Chondropathia patellae links.
Der Kläger könne die Tätigkeit als Schreinermeister höchstens drei bis unter sechs Stunden täglich ausüben. Andere leichte bis mittelschwere Tätigkeiten in temperierten, geschlossenen Räumen überwiegend im Sitzen, unterbrochen durch zeitweises Stehen und Gehen, ohne Überkopfarbeiten rechts, ohne wiederholte Rumpf- und Kniebeugen sowie ohne wiederholtes Heben von Lasten aus dem Kreuz oder aus den Knien heraus seien dem Kläger sechs Stunden und mehr täglich zumutbar.
Die Beklagte ließ ergänzend ein weiteres Gutachten durch den Neurologen und Nervenarzt Dr. L. erstellen, der den Kläger am 25.02.2015 untersuchte. Aus Sicht seines Fachgebietes seien eine cervikale Nervenwurzelläsion sowie eine periphere Nervenerkrankung oberer Extremitäten ausgeschlossen und Hinweise auf eine affektive Störung würden ebenso nicht gesehen. Auf nervenärztlichem Fachgebiet liege kein krankhafter Befund vor. Die beratende Ärztin der Beklagten, Dr. D., kam in Auswertung der Unterlagen am 09.04.2015 zum Ergebnis, dass beim Kläger qualitative Einschränkungen zu beachten seien, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aber ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr bei Beachtung dieser Einschränkungen vorliege.
Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 07.07.2015 den Widerspruch zurück. Auch die nochmaligen ärztlichen Beurteilungen hätten keine Änderung der im Rentenverfahren bereits getroffenen sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung herbeigeführt. Der Kläger könne eine Tätigkeit von mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes verrichten.
Mit einem auf den 04.08.2015 datierten Schreiben hat der Kläger am 05.08.2015 Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben. Der Kläger hat geltend gemacht, dass der Sachverständige Dr. Sch. nicht alle Gesundheitsstörungen zutreffend erfasst habe.
Das SG hat Befundberichte bei den behandelnden Ärzten Dr. D. am 05.10.2015 und Dr. B. am 08.10.2015 eingeholt.
Vor dem Verhandlungstermin am 28.01.2016 hat auf Veranlassung des SG der Orthopäde Dr. S. ein Gutachten erstellt. Er hat folgende Gesundheitsstörungen beim Kläger beschrieben:
1. Fehlhaltungen im Bereich der Wirbelsäule, Funktionsbehinderung in der oberen und unteren Wirbelsäule, Verschleißerscheinungen und wahrscheinliche Bandscheibenschäden an der Halswirbelsäule mit Hinweisen auf Segmentinstabilität.
2. Funktionsbehinderung des rechten Schultergelenkes bei Engpasssyndrom und Läsionen an der Rotatorenmanschette.
3. Gefühlsstörungen im linken Kleinfinger sowie Teilverlust des rechten Zeigefingers.
4. Fußfehlform beidseits, Krampfadern an beiden Beinen ohne Stauungserscheinungen.
5. Asthmaleiden.
6. Zumindest Dysthymie mit Hinweisen auf eine chronische Schmerzstörung.
7. Schwerhörigkeit bei Versorgung mit Hörgeräten.
Der Kläger sei wegefähig. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könne er täglich mindestens sechs Stunden arbeiten. Vermieden werden müssten Tätigkeiten mit besonderer nervlicher Belastung, schwere und mittelschwere Hebe- und Tragetätigkeiten, Zwangshaltungen, Überkopfarbeiten mit dem rechten Arm, häufige bückende und kniende Arbeiten, häufiges Steigen, besondere Anforderungen an die manuelle Geschicklichkeit und die Dauerbelastbarkeit beider Hände, besondere Anforderungen an das Hörvermögen sowie die Einwirkung von Bronchialreizen. Ein Schutz vor Kälte, Nässe und Zugluft sollte gewährleistet sein.
Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist der Kläger am 15.07.2016 vom Orthopäden Prof. Dr. S. untersucht worden. Dieser hat in seinem Gutachten vom 18.07.2016 die wesentlichen Gesundheitsstörungen des Klägers folgendermaßen beschrieben:
1. Degeneratives Halswirbelsäulensyndrom mit Nervenreizerscheinungen und Muskelreizerscheinungen des rechten Armes.
2. Degeneratives Lendenwirbelsäulensyndrom mit Muskelreizerscheinungen.
3. Schulterteilsteife rechts bei Schädigung der Supraspinatussehne rechts und Arthrose des Schultereckgelenkes rechts und links.
4. Beginnende Arthrose beider Hüftgelenke, CAM-Impingement (an der Hüfte) beidseits.
5. Beginnende Arthrose beider Kniegelenke.
6. Zustand nach Verlust Endglied linker Zeigefinger.
7. Krampfaderleiden des linken Beines.
Es bestehe der dringende Verdacht einer somatisierenden depressiven Verstimmung mit Ausprägung eines chronischen Schmerzsyndroms, außerdem liege eine beidseitige Innenohrschwerhörigkeit vor.
Die gesundheitliche Verschlechterung im Hinblick auf das chronische Schmerzsyndrom und die depressive Verstimmung mit Somatisierung sei ab Mai 2016 anzunehmen. Der Kläger sei in seiner Leistungsfähigkeit qualitativ eingeschränkt und nicht mehr in der Lage, den Beruf eines Schreinermeisters oder Schreinergesellen auszuüben. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei er nur noch für leichte Arbeiten einsetzbar. Er sei nicht in der Lage, Arbeiten in Zwangshaltungen, bückende Tätigkeiten, Heben und Tragen von Lasten, Überkopfarbeiten sowie kniende Tätigkeiten zu verrichten. Häufiges Treppensteigen oder Leitern- und Gerüstbesteigen seien ebenfalls nicht möglich. Eine psychische Belastungsfähigkeit sei zu verneinen. Auch sei das Hörvermögen eingeschränkt. Aufgrund der Summation der Gesundheitsstörungen, die den Haltungs- und Bewegungsapparat, die Psyche und das Hörvermögen betreffen würden, sei der Kläger nur noch in der Lage eine Arbeitsleistung zu erbringen, die - ab Mai 2016 - auf drei bis vier Stunden arbeitstäglich herabgesunken sei. Bei einer zeitlichen Einschränkung der Leistungsfähigkeit auf unter drei Stunden seien zusätzliche Arbeitspausen nicht erforderlich. Die Wegefähigkeit sei gegeben. Eine neuropsychiatrische Zusatzbegutachtung sei zu empfehlen.
Die Beklagte hat entgegnet, dass die von Prof. Dr. S. vorgenommene Leistungsbeurteilung fachfremd erfolgt sei. Außerdem erfolge beim Kläger keine nervenfachärztliche Behandlung, die zuerst einmal zu fordern wäre, bevor eine überdauernde Leistungsminderung in Betracht kommen könne. Zudem sei ein eingeschränktes Hörvermögen im Bereich der Umgangssprache nicht zu beobachten gewesen.
Das SG hat eine ergänzende Stellungnahme beim Chirurgen Dr. S. eingeholt, die dieser am 31.10.2016 erstellt hat: Die gesundheitliche Situation auf nervenärztlichem Fachgebiet sei bisher unbehandelt und könne so nicht in die Beurteilung mit einbezogen werden. Eine zeitliche Leistungseinschränkung beim Kläger auf unter sechs Stunden täglich sei nicht nachvollziehbar, zumal die Messwerte auf orthopädischem Gebiet bei Prof. Dr. S. teilweise besser gewesen seien als bei seinen eigenen Untersuchungen. Er verbleibe bei seiner sozialmedizinischen Einschätzung.
Der Kläger hat hierzu Stellung genommen und seine tägliche Schmerzbelastung als nicht ausreichend erfasst angesehen. Er müsse täglich zweimal das Schmerzmittel Ibuflam 600 einnehmen. Er habe sich mittlerweile in nervenärztliche Behandlung bei Frau Dr. B. begeben, wo er bereits in den Jahren 2007 und 2008 schon einmal in Behandlung gestanden habe. Im zugehörigen Arztbrief der Neurologin Dr. B. vom 14.12.2016 werden aufgrund der Untersuchung vom 13.12.2016 als Diagnosen eine Parese des Nervus peronaeus communis rechts und eine chronische Schmerzstörung mit psychischen und physischen Faktoren angegeben. Es solle Krankengymnastik und Elektrostimulation erfolgen.
Das SG hat am 16.02.2017 die Klage durch Urteil abgewiesen. Ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung sei nicht mit der im Wege des Vollbeweises erforderlichen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegeben. Der Kläger leide vorrangig an orthopädischen Gesundheitsstörungen und hier hätten sich in der Erhebung der Werte bei den Gutachtern Dr. Sch., Dr. S. und Prof. Dr. S. Unstimmigkeiten ergeben, wie aus einer entsprechenden Übersichtstabelle zu ersehen sei. Aus den Feststellungen der Orthopäden könne das Gericht keine erheblichen Funktionseinschränkungen beim Kläger feststellen, die es dem Kläger untersagen würden, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes täglich sechs Stunden und mehr zu verrichten. Insoweit seien die Schlussfolgerungen von Prof. Dr. S. für das Gericht keinesfalls nachvollziehbar. Hinzu komme, dass sich der Kläger nicht in psychiatrischer Behandlung befinde und die chronische Schmerzstörung sowie der Verdacht auf eine somatisierende depressive Verstimmung bisher völlig unbehandelt seien.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger am 06.04.2017 per Telefax Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Das SG Nürnberg sei zu Unrecht nicht der Einschätzung des Gutachters Prof. Dr. S. gefolgt. Dieser habe sich ausführlich mit den vom Kläger dargestellten Schmerzempfindungen und weiteren Beeinträchtigungen befasst. Die Schmerzbeeinträchtigungen seien von den übrigen Sachverständigen nicht ausreichend gewürdigt worden. Zusätzlich würde sich eine neue Bandscheibenprotrusion beim Kläger zeigen, die von der behandelnden Neurologin in die Behandlung einbezogen werde. Es finde Schmerztherapie mit Akupunktur und Physiotherapie statt.
Die Beteiligten haben im Folgenden angeregt, ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten einzuholen. Der Senat hat am 16.10.2017 einen aktuellen Befundbericht beim Allgemeinmediziner Dr. D. eingeholt und ärztliche Unterlagen beigezogen. Danach seien die Gesundheitsstörungen des Klägers unverändert und Arbeitsunfähigkeit liege seit Dezember 2016 vor. Beigefügt gewesen sind Unterlagen über eine Behandlung in der Dermatologischen Klinik des Klinikums C-Stadt wegen Ekzemen an Händen und Füßen. In einem Arztbrief der Dr. B. vom 05.04.2017 ist die mangelnde Mitarbeit des Klägers bedauert worden. Eine Lähmung im Nervus peronaeus habe sich nicht mehr gefunden; eine Verlaufsuntersuchung solle in sechs Monaten erfolgen.
Der Senat hat ein Gutachten beim Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. Dipl.-Psych. L. eingeholt. Dieser hat den Kläger am 12.03.2018 untersucht und in seinem Gutachten vom 26.03.2018 dargelegt, dass eine psychiatrische Behandlung im eigentlichen Sinn bisher nicht stattgefunden habe und eine wesentliche psychische Gesundheitsstörung beim Kläger nicht habe festgestellt werden können. Eine depressive Störung habe sich nicht nachweisen lassen. Die angegebene Nervenwurzelirritation L5 rechts habe sicher keine Auswirkungen auf das zeitliche Leistungsvermögen des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und ziehe keine Leistungseinschränkungen nach sich, die nicht bereits mit den degenerativen Veränderungen berücksichtigt seien. Folgende Gesundheitsstörungen seien zu benennen:
1. Fehlhaltungen im Bereich der Wirbelsäule, Funktionsbehinderung der oberen und unteren Wirbelsäule, Verschleißerscheinungen der Halswirbelsäule mit Hinweisen auf Segmentinstabilität.
2. Funktionsbehinderung des rechten Schultergelenkes bei Engpasssyndrom und Läsion an der Rotatorenmanschette.
3. Teilverlust des rechten Zeigefingers.
4. Fußfehlform, beidseits, Krampfadern an beiden Beinen ohne Stauungserscheinungen.
5. Asthmaleiden.
6. Schwerhörigkeit mit Hörgeräten versorgt.
Der Kläger könne unter Berücksichtigung der genannten Gesundheitsstörungen unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch täglich mindestens sechs Stunden erwerbstätig sein. Vermieden werden müssten schwere körperliche Tätigkeiten, Akkordbedingungen, Fließbandarbeiten, Nachtschicht, Dauerbelastung an Maschinen, besondere Belastung des Bewegungs- und Stützsystems wie häufiges Heben und Tragen von Lasten, häufiges Bücken und Knien und Arbeiten in Zwangshaltungen. Außerdem solle keine Tätigkeit an unfallgefährdeten Arbeitsplätzen erfolgen. Ein Schutz vor Kälte, Nässe und Zugluft sowie das Vermeiden von Bronchialreizen sollte gegeben sein. Auf nervenärztlichem Fachgebiet sei ambulante Therapie durchzuführen.
Der Kläger ist im Folgenden bei seiner Ansicht verblieben, dass aufgrund der festgestellten orthopädischen Beeinträchtigungen und der Innenohrschwerhörigkeit die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung vorliegen würden.
Die Voraussetzungen der Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung sind in einem Erörterungstermin vom 21.06.2018 ausführlich mit den Beteiligten besprochen worden. Die Beteiligten haben am 06.07.2018 bzw. am 13.07.2018 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 124 Abs. 2 SGG erklärt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 16.02.2017 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 12.06.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.07.2015 zu verurteilen, Rente wegen voller Erwerbsminderung ab Antragstellung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 16.02.2017 zurückzuweisen.
Zur Ergänzung wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen sowie der beigezogenen Akten der Beklagten und des Zentrums Bayern Familie und Soziales Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung an Stelle der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.
Gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie
1. voll erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen hat der Kläger für alle in Frage kommenden Leistungszeitpunkte unproblematisch erfüllt, da sie zum Zeitpunkt der Dauerrentengewährung durch die Beklagte vorhanden waren und durch diesen Rentenbezug gem. § 43 Abs. 4 Nr. 1 SGB VI seitdem fortlaufend erhalten bleiben.
Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Maßstab ist hier ausschließlich, ob der Kläger noch irgendeine Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes in entsprechendem zeitlichen Umfang ausführen kann. Die zuvor ausgeübte Tätigkeit ist hier nicht zu berücksichtigen; sie war bereits Grundlage für die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.
Eine volle Erwerbsminderung im Sinne von § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI liegt bei dem Kläger zur Überzeugung des Senats nach dem Ergebnis der Ermittlungen nicht vor. Beim Kläger bestehen aus gesundheitlichen Gründen allerdings eine Reihe von Einschränkungen der Arbeitsbedingungen: Tätigkeiten mit besonderer nervlicher Belastung, schwere und mittelschwere Hebe- und Tragetätigkeiten, Zwangshaltungen, Überkopfarbeiten mit dem rechten Arm, häufige bückende und kniende Arbeiten sowie häufiges Steigen sind dem Kläger nicht mehr möglich. Besondere Anforderungen an die manuelle Geschicklichkeit, die Dauerbelastbarkeit beider Hände, an das Hörvermögen sowie die Einwirkung von Bronchialreizen sind auszuschließen. Ein Schutz vor Kälte, Nässe und Zugluft sollte gewährleistet sein. Leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes kann der Kläger bei Berücksichtigung der genannten Arbeitsbedingungen jedoch weiterhin mehr als 6 Stunden täglich verrichten.
Der Senat entnimmt dies den Gutachten des Dr. Sch. und des Dr. S. auf orthopädischem Fachgebiet und des Dr. med. Dipl.-Psych. L. auf nervenärztlichem Fachgebiet. Der vom Orthopäden Prof. Dr. S. geäußerten sozialmedizinischen Einschätzung, wonach der Kläger auch in zeitlichem Umfang eingeschränkt sei, folgt der Senat nicht. Stärkere Auswirkungen der Einschränkungen des Hörvermögens sind schon in qualitativer Hinsicht nicht vorhanden, ein Einfluss auf das quantitative Einsatzvermögen - wie von Prof. Dr. S. im Sinne eines Zusammenwirkens angenommen - ist in keiner Weise nachvollziehbar. Die für ihn fachfremden psychischen Einschränkungen einschließlich der Schmerzwahrnehmung werden von Prof. Dr. S. ebenfalls deutlich überbewertet, wie das nachfolgende Fachgutachten des Dr. med. Dipl.-Psych. L. gezeigt hat. Hinzu kommt, dass nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts psychische Erkrankungen erst dann rentenrechtlich relevant werden, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant und stationär) davon auszugehen ist, dass ein Versicherter die psychischen Einschränkungen dauerhaft nicht überwinden kann - weder aus eigener Kraft, noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe (BSG Urteil vom 12.09.1990 - 5 RJ 88/89, BSG Urteil vom 29.02.2006 - B 13 RJ 31/05 R, BayLSG Urteil vom 24.05.2017 - L 19 R 1074/14, jeweils zitiert nach juris). Beim Kläger sind jedoch die Behandlungsmöglichkeiten auf psychiatrischem, psychotherapeutischen und schmerztherapeutischen Fachgebiet bei weitem nicht ausgeschöpft, nachdem diesbezüglich nur sporadische ambulante Arztkontakte bei einer Neurologin bestehen. Schließlich äußert sich Prof. Dr. S. selbst insoweit unklar, als er teilweise von einem bis zu 4-stündigen Leistungsvermögen spricht, dann aber eine Einschränkung auf unter 3 Stunden täglich annimmt.
Eine Rente wegen voller Erwerbsminderung käme nach der Rechtsprechung des BSG (Beschl. v. 11.12.1969 - Az. GS 4/69; Beschl. v. 10.12.1976 - Az. GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75, GS 3/76 - jeweils zitiert nach juris) zwar auch in Betracht, wenn lediglich eine teilweise Erwerbsminderung für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI vorliegen würde und zugleich eine Teilzeitbeschäftigung nicht ausgeübt würde und der Teilzeitarbeitsmarkt für den Kläger als verschlossen anzusehen wäre (s.a. Gürtner in: Kasseler Kommentar, Stand April 2010, § 43 SGB VI Rn 31 mwN). Unabhängig von der Diskussion darüber, ob diese Rechtsprechung auch aktuell noch zur Anwendung zu bringen ist, scheitert ein derartiger Rentenanspruch daran, dass beim Kläger zur Überzeugung des Senats keine teilweise Erwerbsminderung nach dieser Vorschrift vorliegt. Die in § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI geforderte zeitliche Einschränkung auf wenigstens 3 Stunden, aber weniger als 6 Stunden täglich ist - wie dargelegt - nicht nachgewiesen. Zudem war im Auskunftsbogen des Arbeitgebers auch eine Bereitschaft zur Weiterbeschäftigung des Klägers bei teilweiser Erwerbsminderung angegeben worden.
Zwar kann in bestimmten Ausnahmefällen zusätzlich eine Rentengewährung wegen voller Erwerbsminderung auch erfolgen, wenn - wie im Fall des Klägers - eine relevante quantitative Einschränkung seines Leistungsvermögens an geeigneten Arbeitsplätzen nicht besteht. Dazu müssten allerdings die Voraussetzungen für einen von der Rechtsprechung des BSG entwickelten sog. Katalogfall erfüllt sein, was hier nicht der Fall ist. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urt. v. 09.05.2012, B 5 R 68/11 R - nach juris) ist bei der Prüfung, ob ein derartiger Ausnahmefall vorliegt, mehrschrittig vorzugehen. Zunächst ist festzustellen, ob mit dem Restleistungsvermögen Verrichtungen erfolgen können, die bei ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden, wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Maschinenbedienung, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen. Wenn sich solche abstrakten Handlungsfelder nicht oder nur unzureichend beschreiben lassen und ernste Zweifel an der tatsächlichen Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen kommen, stellt sich im zweiten Schritt die Frage nach der besonderen spezifischen Leistungsbehinderung oder der Summierung ungewöhnlicher Einschränkungen und, falls eine solche Kategorie als vorliegend angesehen wird, wäre im dritten Schritt von der Beklagten eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen und die Einsatzfähigkeit dann hinsichtlich dieser Tätigkeit abzuklären (vgl. Gürtner a.a.O., Stand September 2016, Rn 37 mwN).
Für den Senat ergeben sich bereits keine ernsthaften Zweifel an der Einsatzfähigkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, da sämtliche Arbeitsfelder als grundsätzlich geeignet anzuführen wären. Außerdem stellen die beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen sich nicht als schwere spezifische Behinderung wie etwa eine - ggf. funktionale - Einarmigkeit und auch nicht als Summierung von ungewöhnlichen Einschränkungen dar. Es liegen Einschränkungen der Arbeitsbedingungen vor, wie sie vielfach bei körperlich und psychisch beeinträchtigten Erwerbstätigen anzutreffen sind, und auch die Sinneswahrnehmung ist nur in geringem Maß eingeschränkt.
Der Kläger ist auch nicht gehindert, einen eventuellen Arbeitsplatz zu erreichen. Die Gehfähigkeit des Klägers ist nach übereinstimmender ärztlicher Darlegung ausreichend und öffentliche Verkehrsmittel können benutzt werden.
Dementsprechend sind die Entscheidungen der Beklagten, die einen Rentenanspruch des Klägers lediglich wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit als belegt ansehen und einen weitergehenden Antrag zurückweisen, nicht zu beanstanden.
Nach alledem war die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 16.02.2017 als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der 1956 geborene Kläger erlernte den Beruf eines Schreiners und legte die Meisterprüfung ab. Nach Angaben der Firma H. A. war der Kläger zuletzt als Meister mit der Gehaltsgruppe M1 versicherungspflichtig in Vollzeit beschäftigt.
Im Mai 2011 wurde dem Kläger vom C. , Versorgungsamt ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 zuerkannt, der ab Juni 2012 auf 50 erhöht wurde. Zugrunde lagen folgende Gesundheitsstörungen:
1. Chronisch venöse Insuffizienz, Funktionsbehinderung des Kniegelenkes links, Knorpelschäden am Kniegelenk rechts, Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseits (Einzel-GdB 40).
2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen (Einzel-GdB 30).
3. Schwerhörigkeit beidseits, Ohrgeräusche beidseits (Tinnitus) (Einzel-GdB 10).
Am 05.08.2013 beantragte der Kläger bei der Beklagten eine Leistung zur stationären medizinischen Rehabilitation. Diese wurde bewilligt und der Kläger befand sich vom 24.09.2013 bis 15.10.2013 in der A.-Klinik in Bad S ... Im dortigen Entlassungsbericht vom 05.11.2013 wurden als Diagnosen aufgeführt:
1. Chronisches LWS-Syndrom.
2. Cervicobrachial-Syndrom.
3. Impingement-Syndrom der Schulter.
4. Muskelkrankheit, nicht näher bezeichnet.
Der Kläger könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte bis mittelschwere Tätigkeiten im Umfang von täglich sechs Stunden und mehr ausüben. Es müsse sich um Tätigkeiten ohne häufiges Heben, Tragen und Bewegen von Lasten über 15 kg, ohne einseitige körperliche Belastungen wie vornübergebeugte Körperhaltung, ohne Oberkörperrotationen und ohne Zwangshaltungen handeln. Aufgrund dieser Einschränkungen sei er im Beruf des Schreiners nur noch unter drei Stunden einsatzfähig. Es liege Arbeitsunfähigkeit vor, die Wegefähigkeit sei gegeben.
Daraufhin beantragte die zuständige Krankenkasse, die AOK Bayern, bei der Beklagten die Umdeutung des Rehabilitationsantrages in einen Rentenantrag unter Einschränkung des Dispositionsrechts des Klägers.
Mit Bescheid vom 12.06.2014 bewilligte die Beklagte dem Kläger eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab 01.10.2013 gemäß § 240 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI), wobei anfänglich ein monatlicher Betrag von 476,02 Euro gezahlt wurde. Eine weitergehende Rentengewährung wegen voller Erwerbsminderung lehnte sie ab, da die medizinischen Voraussetzungen nicht erfüllt seien.
Der Kläger bezog in der Folgezeit allerdings weiter Krankengeld, auf das ein Erstattungsanspruch erhoben wurde. Nach Angaben des Klägers wurden derartige Sozialleistungen bis Februar 2015 bezogen. Der Kläger gab auch an, dass von der zuständigen Berufsgenossenschaft eine Berufskrankheit anerkannt sei. Die Bundesagentur für Arbeit teilte seinerzeit mit, dass sie vom 22.02.2015 bis 23.02.2017 Arbeitslosengeld bewillige und insofern Erstattungsansprüche der Beklagten berücksichtige.
Mit Schreiben vom 05.07.2014 legte der Kläger am 07.07.2014 Widerspruch gegen den Rentenbescheid ein, da er seit dem 30.10.2013 ununterbrochen krank sei. Er sei aufgrund seiner Erkrankung derzeit nicht leistungsfähig genug, um einer Beschäftigung nachzugehen. Weiter trug der Kläger vor, dass der Arbeitsmarkt verschlossen sei; er sei Schreinermeister und berufe sich auf Berufsschutz.
Die Beklagte ließ ein Gutachten durch den Orthopäden Dr. Sch. erstellen, der den Kläger am 04.11.2014 untersuchte. Er beschrieb
1. ein rezidivierendes rechtsseitiges cervicobrachiales Syndrom bei kernspintomografisch festgestellten mäßigen degenerativen Veränderungen im Segment C3/C4,
2. ein Impingement-Syndrom des rechten Schultergelenkes bei kernspintomografisch festgestellter Teilläsion der Supraspinatussehne,
3. rezidivierende tiefsitzende Kreuzschmerzen bei Fehlhaltung der LWS, mäßigen degenerativen Veränderungen und einer muskulären Dysbalance mit pseudoradikulärer Ausstrahlung links sowie
4. eine mäßiggradige Chondropathia patellae links.
Der Kläger könne die Tätigkeit als Schreinermeister höchstens drei bis unter sechs Stunden täglich ausüben. Andere leichte bis mittelschwere Tätigkeiten in temperierten, geschlossenen Räumen überwiegend im Sitzen, unterbrochen durch zeitweises Stehen und Gehen, ohne Überkopfarbeiten rechts, ohne wiederholte Rumpf- und Kniebeugen sowie ohne wiederholtes Heben von Lasten aus dem Kreuz oder aus den Knien heraus seien dem Kläger sechs Stunden und mehr täglich zumutbar.
Die Beklagte ließ ergänzend ein weiteres Gutachten durch den Neurologen und Nervenarzt Dr. L. erstellen, der den Kläger am 25.02.2015 untersuchte. Aus Sicht seines Fachgebietes seien eine cervikale Nervenwurzelläsion sowie eine periphere Nervenerkrankung oberer Extremitäten ausgeschlossen und Hinweise auf eine affektive Störung würden ebenso nicht gesehen. Auf nervenärztlichem Fachgebiet liege kein krankhafter Befund vor. Die beratende Ärztin der Beklagten, Dr. D., kam in Auswertung der Unterlagen am 09.04.2015 zum Ergebnis, dass beim Kläger qualitative Einschränkungen zu beachten seien, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aber ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr bei Beachtung dieser Einschränkungen vorliege.
Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 07.07.2015 den Widerspruch zurück. Auch die nochmaligen ärztlichen Beurteilungen hätten keine Änderung der im Rentenverfahren bereits getroffenen sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung herbeigeführt. Der Kläger könne eine Tätigkeit von mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes verrichten.
Mit einem auf den 04.08.2015 datierten Schreiben hat der Kläger am 05.08.2015 Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben. Der Kläger hat geltend gemacht, dass der Sachverständige Dr. Sch. nicht alle Gesundheitsstörungen zutreffend erfasst habe.
Das SG hat Befundberichte bei den behandelnden Ärzten Dr. D. am 05.10.2015 und Dr. B. am 08.10.2015 eingeholt.
Vor dem Verhandlungstermin am 28.01.2016 hat auf Veranlassung des SG der Orthopäde Dr. S. ein Gutachten erstellt. Er hat folgende Gesundheitsstörungen beim Kläger beschrieben:
1. Fehlhaltungen im Bereich der Wirbelsäule, Funktionsbehinderung in der oberen und unteren Wirbelsäule, Verschleißerscheinungen und wahrscheinliche Bandscheibenschäden an der Halswirbelsäule mit Hinweisen auf Segmentinstabilität.
2. Funktionsbehinderung des rechten Schultergelenkes bei Engpasssyndrom und Läsionen an der Rotatorenmanschette.
3. Gefühlsstörungen im linken Kleinfinger sowie Teilverlust des rechten Zeigefingers.
4. Fußfehlform beidseits, Krampfadern an beiden Beinen ohne Stauungserscheinungen.
5. Asthmaleiden.
6. Zumindest Dysthymie mit Hinweisen auf eine chronische Schmerzstörung.
7. Schwerhörigkeit bei Versorgung mit Hörgeräten.
Der Kläger sei wegefähig. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könne er täglich mindestens sechs Stunden arbeiten. Vermieden werden müssten Tätigkeiten mit besonderer nervlicher Belastung, schwere und mittelschwere Hebe- und Tragetätigkeiten, Zwangshaltungen, Überkopfarbeiten mit dem rechten Arm, häufige bückende und kniende Arbeiten, häufiges Steigen, besondere Anforderungen an die manuelle Geschicklichkeit und die Dauerbelastbarkeit beider Hände, besondere Anforderungen an das Hörvermögen sowie die Einwirkung von Bronchialreizen. Ein Schutz vor Kälte, Nässe und Zugluft sollte gewährleistet sein.
Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist der Kläger am 15.07.2016 vom Orthopäden Prof. Dr. S. untersucht worden. Dieser hat in seinem Gutachten vom 18.07.2016 die wesentlichen Gesundheitsstörungen des Klägers folgendermaßen beschrieben:
1. Degeneratives Halswirbelsäulensyndrom mit Nervenreizerscheinungen und Muskelreizerscheinungen des rechten Armes.
2. Degeneratives Lendenwirbelsäulensyndrom mit Muskelreizerscheinungen.
3. Schulterteilsteife rechts bei Schädigung der Supraspinatussehne rechts und Arthrose des Schultereckgelenkes rechts und links.
4. Beginnende Arthrose beider Hüftgelenke, CAM-Impingement (an der Hüfte) beidseits.
5. Beginnende Arthrose beider Kniegelenke.
6. Zustand nach Verlust Endglied linker Zeigefinger.
7. Krampfaderleiden des linken Beines.
Es bestehe der dringende Verdacht einer somatisierenden depressiven Verstimmung mit Ausprägung eines chronischen Schmerzsyndroms, außerdem liege eine beidseitige Innenohrschwerhörigkeit vor.
Die gesundheitliche Verschlechterung im Hinblick auf das chronische Schmerzsyndrom und die depressive Verstimmung mit Somatisierung sei ab Mai 2016 anzunehmen. Der Kläger sei in seiner Leistungsfähigkeit qualitativ eingeschränkt und nicht mehr in der Lage, den Beruf eines Schreinermeisters oder Schreinergesellen auszuüben. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei er nur noch für leichte Arbeiten einsetzbar. Er sei nicht in der Lage, Arbeiten in Zwangshaltungen, bückende Tätigkeiten, Heben und Tragen von Lasten, Überkopfarbeiten sowie kniende Tätigkeiten zu verrichten. Häufiges Treppensteigen oder Leitern- und Gerüstbesteigen seien ebenfalls nicht möglich. Eine psychische Belastungsfähigkeit sei zu verneinen. Auch sei das Hörvermögen eingeschränkt. Aufgrund der Summation der Gesundheitsstörungen, die den Haltungs- und Bewegungsapparat, die Psyche und das Hörvermögen betreffen würden, sei der Kläger nur noch in der Lage eine Arbeitsleistung zu erbringen, die - ab Mai 2016 - auf drei bis vier Stunden arbeitstäglich herabgesunken sei. Bei einer zeitlichen Einschränkung der Leistungsfähigkeit auf unter drei Stunden seien zusätzliche Arbeitspausen nicht erforderlich. Die Wegefähigkeit sei gegeben. Eine neuropsychiatrische Zusatzbegutachtung sei zu empfehlen.
Die Beklagte hat entgegnet, dass die von Prof. Dr. S. vorgenommene Leistungsbeurteilung fachfremd erfolgt sei. Außerdem erfolge beim Kläger keine nervenfachärztliche Behandlung, die zuerst einmal zu fordern wäre, bevor eine überdauernde Leistungsminderung in Betracht kommen könne. Zudem sei ein eingeschränktes Hörvermögen im Bereich der Umgangssprache nicht zu beobachten gewesen.
Das SG hat eine ergänzende Stellungnahme beim Chirurgen Dr. S. eingeholt, die dieser am 31.10.2016 erstellt hat: Die gesundheitliche Situation auf nervenärztlichem Fachgebiet sei bisher unbehandelt und könne so nicht in die Beurteilung mit einbezogen werden. Eine zeitliche Leistungseinschränkung beim Kläger auf unter sechs Stunden täglich sei nicht nachvollziehbar, zumal die Messwerte auf orthopädischem Gebiet bei Prof. Dr. S. teilweise besser gewesen seien als bei seinen eigenen Untersuchungen. Er verbleibe bei seiner sozialmedizinischen Einschätzung.
Der Kläger hat hierzu Stellung genommen und seine tägliche Schmerzbelastung als nicht ausreichend erfasst angesehen. Er müsse täglich zweimal das Schmerzmittel Ibuflam 600 einnehmen. Er habe sich mittlerweile in nervenärztliche Behandlung bei Frau Dr. B. begeben, wo er bereits in den Jahren 2007 und 2008 schon einmal in Behandlung gestanden habe. Im zugehörigen Arztbrief der Neurologin Dr. B. vom 14.12.2016 werden aufgrund der Untersuchung vom 13.12.2016 als Diagnosen eine Parese des Nervus peronaeus communis rechts und eine chronische Schmerzstörung mit psychischen und physischen Faktoren angegeben. Es solle Krankengymnastik und Elektrostimulation erfolgen.
Das SG hat am 16.02.2017 die Klage durch Urteil abgewiesen. Ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung sei nicht mit der im Wege des Vollbeweises erforderlichen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegeben. Der Kläger leide vorrangig an orthopädischen Gesundheitsstörungen und hier hätten sich in der Erhebung der Werte bei den Gutachtern Dr. Sch., Dr. S. und Prof. Dr. S. Unstimmigkeiten ergeben, wie aus einer entsprechenden Übersichtstabelle zu ersehen sei. Aus den Feststellungen der Orthopäden könne das Gericht keine erheblichen Funktionseinschränkungen beim Kläger feststellen, die es dem Kläger untersagen würden, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes täglich sechs Stunden und mehr zu verrichten. Insoweit seien die Schlussfolgerungen von Prof. Dr. S. für das Gericht keinesfalls nachvollziehbar. Hinzu komme, dass sich der Kläger nicht in psychiatrischer Behandlung befinde und die chronische Schmerzstörung sowie der Verdacht auf eine somatisierende depressive Verstimmung bisher völlig unbehandelt seien.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger am 06.04.2017 per Telefax Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Das SG Nürnberg sei zu Unrecht nicht der Einschätzung des Gutachters Prof. Dr. S. gefolgt. Dieser habe sich ausführlich mit den vom Kläger dargestellten Schmerzempfindungen und weiteren Beeinträchtigungen befasst. Die Schmerzbeeinträchtigungen seien von den übrigen Sachverständigen nicht ausreichend gewürdigt worden. Zusätzlich würde sich eine neue Bandscheibenprotrusion beim Kläger zeigen, die von der behandelnden Neurologin in die Behandlung einbezogen werde. Es finde Schmerztherapie mit Akupunktur und Physiotherapie statt.
Die Beteiligten haben im Folgenden angeregt, ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten einzuholen. Der Senat hat am 16.10.2017 einen aktuellen Befundbericht beim Allgemeinmediziner Dr. D. eingeholt und ärztliche Unterlagen beigezogen. Danach seien die Gesundheitsstörungen des Klägers unverändert und Arbeitsunfähigkeit liege seit Dezember 2016 vor. Beigefügt gewesen sind Unterlagen über eine Behandlung in der Dermatologischen Klinik des Klinikums C-Stadt wegen Ekzemen an Händen und Füßen. In einem Arztbrief der Dr. B. vom 05.04.2017 ist die mangelnde Mitarbeit des Klägers bedauert worden. Eine Lähmung im Nervus peronaeus habe sich nicht mehr gefunden; eine Verlaufsuntersuchung solle in sechs Monaten erfolgen.
Der Senat hat ein Gutachten beim Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. Dipl.-Psych. L. eingeholt. Dieser hat den Kläger am 12.03.2018 untersucht und in seinem Gutachten vom 26.03.2018 dargelegt, dass eine psychiatrische Behandlung im eigentlichen Sinn bisher nicht stattgefunden habe und eine wesentliche psychische Gesundheitsstörung beim Kläger nicht habe festgestellt werden können. Eine depressive Störung habe sich nicht nachweisen lassen. Die angegebene Nervenwurzelirritation L5 rechts habe sicher keine Auswirkungen auf das zeitliche Leistungsvermögen des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und ziehe keine Leistungseinschränkungen nach sich, die nicht bereits mit den degenerativen Veränderungen berücksichtigt seien. Folgende Gesundheitsstörungen seien zu benennen:
1. Fehlhaltungen im Bereich der Wirbelsäule, Funktionsbehinderung der oberen und unteren Wirbelsäule, Verschleißerscheinungen der Halswirbelsäule mit Hinweisen auf Segmentinstabilität.
2. Funktionsbehinderung des rechten Schultergelenkes bei Engpasssyndrom und Läsion an der Rotatorenmanschette.
3. Teilverlust des rechten Zeigefingers.
4. Fußfehlform, beidseits, Krampfadern an beiden Beinen ohne Stauungserscheinungen.
5. Asthmaleiden.
6. Schwerhörigkeit mit Hörgeräten versorgt.
Der Kläger könne unter Berücksichtigung der genannten Gesundheitsstörungen unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch täglich mindestens sechs Stunden erwerbstätig sein. Vermieden werden müssten schwere körperliche Tätigkeiten, Akkordbedingungen, Fließbandarbeiten, Nachtschicht, Dauerbelastung an Maschinen, besondere Belastung des Bewegungs- und Stützsystems wie häufiges Heben und Tragen von Lasten, häufiges Bücken und Knien und Arbeiten in Zwangshaltungen. Außerdem solle keine Tätigkeit an unfallgefährdeten Arbeitsplätzen erfolgen. Ein Schutz vor Kälte, Nässe und Zugluft sowie das Vermeiden von Bronchialreizen sollte gegeben sein. Auf nervenärztlichem Fachgebiet sei ambulante Therapie durchzuführen.
Der Kläger ist im Folgenden bei seiner Ansicht verblieben, dass aufgrund der festgestellten orthopädischen Beeinträchtigungen und der Innenohrschwerhörigkeit die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung vorliegen würden.
Die Voraussetzungen der Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung sind in einem Erörterungstermin vom 21.06.2018 ausführlich mit den Beteiligten besprochen worden. Die Beteiligten haben am 06.07.2018 bzw. am 13.07.2018 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 124 Abs. 2 SGG erklärt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 16.02.2017 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 12.06.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.07.2015 zu verurteilen, Rente wegen voller Erwerbsminderung ab Antragstellung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 16.02.2017 zurückzuweisen.
Zur Ergänzung wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen sowie der beigezogenen Akten der Beklagten und des Zentrums Bayern Familie und Soziales Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung an Stelle der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.
Gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie
1. voll erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen hat der Kläger für alle in Frage kommenden Leistungszeitpunkte unproblematisch erfüllt, da sie zum Zeitpunkt der Dauerrentengewährung durch die Beklagte vorhanden waren und durch diesen Rentenbezug gem. § 43 Abs. 4 Nr. 1 SGB VI seitdem fortlaufend erhalten bleiben.
Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Maßstab ist hier ausschließlich, ob der Kläger noch irgendeine Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes in entsprechendem zeitlichen Umfang ausführen kann. Die zuvor ausgeübte Tätigkeit ist hier nicht zu berücksichtigen; sie war bereits Grundlage für die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.
Eine volle Erwerbsminderung im Sinne von § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI liegt bei dem Kläger zur Überzeugung des Senats nach dem Ergebnis der Ermittlungen nicht vor. Beim Kläger bestehen aus gesundheitlichen Gründen allerdings eine Reihe von Einschränkungen der Arbeitsbedingungen: Tätigkeiten mit besonderer nervlicher Belastung, schwere und mittelschwere Hebe- und Tragetätigkeiten, Zwangshaltungen, Überkopfarbeiten mit dem rechten Arm, häufige bückende und kniende Arbeiten sowie häufiges Steigen sind dem Kläger nicht mehr möglich. Besondere Anforderungen an die manuelle Geschicklichkeit, die Dauerbelastbarkeit beider Hände, an das Hörvermögen sowie die Einwirkung von Bronchialreizen sind auszuschließen. Ein Schutz vor Kälte, Nässe und Zugluft sollte gewährleistet sein. Leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes kann der Kläger bei Berücksichtigung der genannten Arbeitsbedingungen jedoch weiterhin mehr als 6 Stunden täglich verrichten.
Der Senat entnimmt dies den Gutachten des Dr. Sch. und des Dr. S. auf orthopädischem Fachgebiet und des Dr. med. Dipl.-Psych. L. auf nervenärztlichem Fachgebiet. Der vom Orthopäden Prof. Dr. S. geäußerten sozialmedizinischen Einschätzung, wonach der Kläger auch in zeitlichem Umfang eingeschränkt sei, folgt der Senat nicht. Stärkere Auswirkungen der Einschränkungen des Hörvermögens sind schon in qualitativer Hinsicht nicht vorhanden, ein Einfluss auf das quantitative Einsatzvermögen - wie von Prof. Dr. S. im Sinne eines Zusammenwirkens angenommen - ist in keiner Weise nachvollziehbar. Die für ihn fachfremden psychischen Einschränkungen einschließlich der Schmerzwahrnehmung werden von Prof. Dr. S. ebenfalls deutlich überbewertet, wie das nachfolgende Fachgutachten des Dr. med. Dipl.-Psych. L. gezeigt hat. Hinzu kommt, dass nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts psychische Erkrankungen erst dann rentenrechtlich relevant werden, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant und stationär) davon auszugehen ist, dass ein Versicherter die psychischen Einschränkungen dauerhaft nicht überwinden kann - weder aus eigener Kraft, noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe (BSG Urteil vom 12.09.1990 - 5 RJ 88/89, BSG Urteil vom 29.02.2006 - B 13 RJ 31/05 R, BayLSG Urteil vom 24.05.2017 - L 19 R 1074/14, jeweils zitiert nach juris). Beim Kläger sind jedoch die Behandlungsmöglichkeiten auf psychiatrischem, psychotherapeutischen und schmerztherapeutischen Fachgebiet bei weitem nicht ausgeschöpft, nachdem diesbezüglich nur sporadische ambulante Arztkontakte bei einer Neurologin bestehen. Schließlich äußert sich Prof. Dr. S. selbst insoweit unklar, als er teilweise von einem bis zu 4-stündigen Leistungsvermögen spricht, dann aber eine Einschränkung auf unter 3 Stunden täglich annimmt.
Eine Rente wegen voller Erwerbsminderung käme nach der Rechtsprechung des BSG (Beschl. v. 11.12.1969 - Az. GS 4/69; Beschl. v. 10.12.1976 - Az. GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75, GS 3/76 - jeweils zitiert nach juris) zwar auch in Betracht, wenn lediglich eine teilweise Erwerbsminderung für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI vorliegen würde und zugleich eine Teilzeitbeschäftigung nicht ausgeübt würde und der Teilzeitarbeitsmarkt für den Kläger als verschlossen anzusehen wäre (s.a. Gürtner in: Kasseler Kommentar, Stand April 2010, § 43 SGB VI Rn 31 mwN). Unabhängig von der Diskussion darüber, ob diese Rechtsprechung auch aktuell noch zur Anwendung zu bringen ist, scheitert ein derartiger Rentenanspruch daran, dass beim Kläger zur Überzeugung des Senats keine teilweise Erwerbsminderung nach dieser Vorschrift vorliegt. Die in § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI geforderte zeitliche Einschränkung auf wenigstens 3 Stunden, aber weniger als 6 Stunden täglich ist - wie dargelegt - nicht nachgewiesen. Zudem war im Auskunftsbogen des Arbeitgebers auch eine Bereitschaft zur Weiterbeschäftigung des Klägers bei teilweiser Erwerbsminderung angegeben worden.
Zwar kann in bestimmten Ausnahmefällen zusätzlich eine Rentengewährung wegen voller Erwerbsminderung auch erfolgen, wenn - wie im Fall des Klägers - eine relevante quantitative Einschränkung seines Leistungsvermögens an geeigneten Arbeitsplätzen nicht besteht. Dazu müssten allerdings die Voraussetzungen für einen von der Rechtsprechung des BSG entwickelten sog. Katalogfall erfüllt sein, was hier nicht der Fall ist. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urt. v. 09.05.2012, B 5 R 68/11 R - nach juris) ist bei der Prüfung, ob ein derartiger Ausnahmefall vorliegt, mehrschrittig vorzugehen. Zunächst ist festzustellen, ob mit dem Restleistungsvermögen Verrichtungen erfolgen können, die bei ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden, wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Maschinenbedienung, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen. Wenn sich solche abstrakten Handlungsfelder nicht oder nur unzureichend beschreiben lassen und ernste Zweifel an der tatsächlichen Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen kommen, stellt sich im zweiten Schritt die Frage nach der besonderen spezifischen Leistungsbehinderung oder der Summierung ungewöhnlicher Einschränkungen und, falls eine solche Kategorie als vorliegend angesehen wird, wäre im dritten Schritt von der Beklagten eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen und die Einsatzfähigkeit dann hinsichtlich dieser Tätigkeit abzuklären (vgl. Gürtner a.a.O., Stand September 2016, Rn 37 mwN).
Für den Senat ergeben sich bereits keine ernsthaften Zweifel an der Einsatzfähigkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, da sämtliche Arbeitsfelder als grundsätzlich geeignet anzuführen wären. Außerdem stellen die beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen sich nicht als schwere spezifische Behinderung wie etwa eine - ggf. funktionale - Einarmigkeit und auch nicht als Summierung von ungewöhnlichen Einschränkungen dar. Es liegen Einschränkungen der Arbeitsbedingungen vor, wie sie vielfach bei körperlich und psychisch beeinträchtigten Erwerbstätigen anzutreffen sind, und auch die Sinneswahrnehmung ist nur in geringem Maß eingeschränkt.
Der Kläger ist auch nicht gehindert, einen eventuellen Arbeitsplatz zu erreichen. Die Gehfähigkeit des Klägers ist nach übereinstimmender ärztlicher Darlegung ausreichend und öffentliche Verkehrsmittel können benutzt werden.
Dementsprechend sind die Entscheidungen der Beklagten, die einen Rentenanspruch des Klägers lediglich wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit als belegt ansehen und einen weitergehenden Antrag zurückweisen, nicht zu beanstanden.
Nach alledem war die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 16.02.2017 als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Login
FSB
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