L 7 SO 1613/18

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 5 SO 2223/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 SO 1613/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 29. März 2018 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Rechtsstreit betrifft eine Untätigkeitsklage.

Der Kläger beantragte mit Schreiben vom 5. Mai 2017 bei der Beklagten zu 1 die Übernahme von Fahrt- und Verpflegungskosten aus Anlass eines Messebesuches am 21./22. Juni 2017 in N. und zwar Kosten für die Bahnfahrt in Höhe von 122 Euro sowie unbezifferte Taxikosten "wegen Unkenntnis der örtlichen Gegebenheiten" sowie einen "Tagessatz für Verpflegung". Die Beklagte zu 1 lehnte den Antrag mit Bescheid vom 1. Juni 2017 ab. Hiergegen erhob der Kläger am 13. Juni 2017 Widerspruch.

Am 12. September 2017 hat der Kläger beim Sozialgericht Reutlingen (SG) Untätigkeitsklage erhoben mit dem Ziel, die Beklagten zu verpflichten, über seinen Widerspruch zu entscheiden.

Der Beklagte zu 2 hat als Widerspruchsbehörde den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11. Oktober 2017 zurückgewiesen. Hiergegen hat der Kläger am 2. November 2017 beim SG Klage erhoben (S 5 SO 2632/17), die das SG mit Urteil vom 5. Juni 2018 abgewiesen hat; hiergegen hat der Kläger am 22. Juni 2018 beim SG Berufung eingelegt, die beim Senat anhängig ist (L 7 SO 2354/18).

Das SG hat in dem Verfahren bzgl. der Untätigkeitsklage die Klage mit Gerichtsbescheid vom 29. März 2018 "als unzulässig" abgewiesen. Die Klage sei unzulässig. Mit Erlass des begehrten Widerspruchsbescheides sei kein Rechtsschutzbedürfnis mehr gegeben. § 88 Sozialgerichtsgesetz (SGG) biete keine Grundlage für die vom Kläger begehrte Rüge für ein etwaiges Fehlverhalten der Beklagten. Eine Klageänderung scheide deswegen aus, weil der Kläger gegen den Widerspruchsbescheid vom 11. Oktober 2017 am 28. Oktober 2017 (richtig: 2. November 2017) Klage erhoben habe und mithin eine anderweitige Rechtshängigkeit der Klageänderung entgegenstehe.

Gegen den ihm am 4. April 2018 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 26. April 2018 beim SG Berufung eingelegt. Es stelle sich die Frage, welches Ereignis dazu geführt habe, dass eine gemäß "Urteil" ursprünglich zulässige Klage "wundersamer Weise" als unzulässig abgewiesen werden könne. Der am 11. Oktober 2017 nach Erhebung der Klage verspätet erlassene Widerspruchsbescheid könne nicht der Grund sein, da er gegen die Drei-Monats-Frist des § 88 Abs. 2 SGG verstoße. Da die Beklagte notorisch die Fristen des § 88 Abs. 2 SGG ignoriere, sei das Rechtsschutzbedürfnis gegeben, um Wiederholungsfälle ein für alle Mal auszuschließen. Unerfindlich sei, wie § 131 Abs. 3 SGG dazu herangezogen werden könne, Bestimmungen des § 88 SGG rechtswidrig rückwirkend außer Kraft zu setzen, da er die Rechtswidrigkeit der Unterlassung eines Verwaltungsaktes voraussetze. Da die Rechtswidrigkeit der Unterlassung des Verwaltungsaktes gegeben sei, könne gemäß Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG), wonach die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sei, diese Rechtswidrigkeit nicht, wie im "Urteil" geschehen, für zulässig erklärt werden.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 29. März 2018 aufzuheben und festzustellen, dass die Klage zulässig sei und ein Gesetzesverstoß gegen § 88 Abs. 2 SGG vorliege.

Die Beklagte zu 1 beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte zu 1 ist der Ansicht, dass die Berufung nicht begründet sei, da die Untätigkeitsklage unzulässig sei. Ergehe während einer anhängigen Untätigkeitsklage der begehrte Widerspruchsbescheid, so erledige sich die Klage in der Hauptsache. Gebe der Kläger eine entsprechende Erledigungserklärung nicht ab, so sei die Klage mangels Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig abzuweisen. Eine Änderung der Klage in eine Anfechtungsklage gegen den nunmehr erlassenen Widerspruchsbescheid sei nicht in Betracht gekommen, da auf Grund der am 28. Oktober 2017 erhobenen Klage eine anderweitige Rechtshängigkeit eingetreten sei. Zudem sei sie im Rahmen der Untätigkeitsklage im Hinblick auf den Erlass des Widerspruchsbescheides nicht die richtige Beklagte, da für den Erlass des eingeforderten Widerspruchsbescheids der Beklagte zu 2 als Widerspruchsbehörde zuständig gewesen sei.

Der Beklagte zu 2 hat sich nicht geäußert.

Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die beigezogene Akte der Beklagten zu 1 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die Berufung des Klägers ist mangels Zulassung unzulässig und daher gemäß § 158 Satz 1 SGG zu verwerfen.

a) Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG in der hier anwendbaren, ab 1. April 2008 geltenden Fassung, bedarf die Berufung der Zulassung, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands bei einer Klage, die eine Geld- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 Euro nicht übersteigt. Diese Regelung findet nur dann keine Anwendung, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Für die Frage, ob die Berufung der Zulassung bedarf, ist der Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels entscheidend (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 8. Oktober 1981 – 7 RAr 72/80 – juris Rdnr. 16 m.w.N.; BSG, Urteil vom 23. Februar 2011 – B 11 AL 15/10 R – juris Rdnr. 13; Landessozialgericht [LSG] Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Juli 2015 – L 4 R 3257/13 – juris Rdnr. 41; Breitkreuz/Schreiber, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. 2014, § 144 Rdnr. 6; Sommer, in: Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 144 Rdnr. 24). Der Beschwerdewert bemisst sich ausschließlich nach der Höhe des Geldbetrages, um den unmittelbar gestritten wird (BSG, Beschluss vom 22. Juli 2010 – B 4 AS 77/10 B – juris Rdnr. 6). Fallen mehrere Streitgegenstände in den Anwendungsbereich des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG, sind die Beschwerdewerte zu addieren (BSG, Urteil vom 5. Februar 1998 – B 11 AL 19/97 – juris Rdnr. 15; BSG, Beschluss vom 18. April 2016 – B 14 AS 150/15 – juris Rdnr. 6).

Auch Untätigkeitsklagen werden von der Berufungsbeschränkung des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG erfasst, weil sie entweder auf die Vornahme eines beantragten Verwaltungsaktes (§ 88 Abs. 1 SGG) oder den Erlass eines Widerspruchsbescheids (§ 88 Abs. 2 SGG) gerichtet sind. Betreffen die zu erlassenden Verwaltungsakte Geld-, Dienst- oder Sachleistungen, die einen Wert von 750 Euro nicht übersteigen, unterliegt auch die Untätigkeitsklage der Berufungsbeschränkung (BSG, Beschluss vom 6. Oktober 2011 – B 9 SB 45/11 B – juris Rdnr. 10; BSG, Urteil vom 10. Oktober 2017 – B 12 KR 3/16 R – juris Rdnr. 13; Urteil des Senats vom 19. April 2018 – L 7 SO 2772/16 – n.v.; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27. November 2015 – L 4 P 3460/15 – n.v.; a.A. noch Urteil des Senats vom 18. November 2010 – L 7 SO 2708/10 – juris Rdnr. 15). Bei einer Untätigkeitsklage ist auf den Wert des erstrebten Verwaltungsaktes abzustellen (BSG, Urteil vom 10. Oktober 2017 – B 12 KR 3/16 R – juris Rdnr. 14).

b) Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für eine zulassungsfreie Berufung nicht vor.

aa) Gegenstand der Berufung ist eine Klage, die in Form einer Untätigkeitsklage einen auf eine Geldleistung gerichteten Verwaltungsakt betrifft.

bb) Ein Beschwerdewert von mehr als 750,00 Euro wird nicht erreicht.

(1) Der Beschwerdegegenstand richtet sich danach, was durch das angefochtene Urteil des Sozialgerichts versagt, also abgelehnt worden ist, und mit der Berufung weiterverfolgt wird (BSG, Beschluss vom 5. August 2015 – B 4 AS 17/15 B – juris Rdnr. 6 m.w.N.). Dies ist durch Vergleich des vor dem Sozialgericht beantragten Gegenstandes mit dem ausgeurteilten Gegenstand und dem in der Berufung weiterverfolgten Begehren zu bestimmen (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 144 Rdnr. 14 m.w.N.; Wehrhahn in jurisPK-SGG, 2017, § 144 Rdnr. 19). Maßgeblich ist insoweit, was der Berufungskläger in Wirklichkeit als sachlich verfolgtes Prozessziel anstrebt, was er unter den gegebenen Umständen allenfalls wollen kann (BSG, Urteil vom 5. März 1980 – 9 RV 44/78 – Rdnr. 14). Maßgebend ist der materielle "Kern" des gerichtlichen Verfahrens (BSG, Urteil vom 5. März 1980 – 9 RV 44/78 – Rdnr. 14).

(2) Das Begehren des Klägers zielte in der Sache auf Übernahme von Fahrt- und Verpflegungskosten aus Anlass eines Messebesuches am 21./22. Juni 2017 in N., und zwar Kosten für die Bahnfahrt in Höhe von 122 Euro sowie unbezifferte Taxikosten "wegen Unkenntnis der örtlichen Gegebenheiten" sowie einen "Tagessatz für Verpflegung". Ein Gesamtbetrag von mehr als 750,00 Euro wird damit bei weitem ersichtlich nicht erreicht.

Soweit der Kläger in seiner Berufungsschrift erstmals die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung "einer Geldbuße" in Höhe von 1.000,00 Euro an die Kinderkrebshilfe beantragt hatte, ist dies für die Beurteilung der Zulassungsbedürftigkeit der Berufung nach den oben dargelegten Maßstäben unerheblich, denn über dieses – im Übrigen offensichtlich unzulässige und unbegründete und vom Kläger in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich nicht weiterverfolgte Begehren – hat das SG nicht entschieden. Die Zulassungsbedürftigkeit einer Berufung kann aber nicht dadurch umgangen werden, dass im Berufungsverfahren erstmals Ansprüche geltend gemacht werden, die nicht Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens gewesen sind (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 30. Januar 2012 – L 19 AS 1836/11 – juris Rdnr. 25).

cc) Die Berufung betrifft auch nicht wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr im Sinne des § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG, sondern einmalige Leistungen aufgrund eines singulären Ereignisses, nämlich des Messebesuchs in Nürnberg.

c) Die Berufung ist auch nicht durch das SG zugelassen worden. Zwar hat das SG im angefochtenen Gerichtsbescheid über das Rechtsmittel der Berufung belehrt. Das SG hat die Berufung aber weder im Tenor noch in den Entscheidungsgründen zugelassen. Die unrichtige Rechtsmittelbelehrung allein ersetzt nicht die Berufungszulassung (BSG, Urteil vom 28. März 1957 – 7 RAr 103/55 – juris Rdnr. 21; BSG Urteil vom 18. März 2004 – B 11 AL 53/03 R – juris Rdnr. 12; BSG, Beschluss vom 22. Juli 2010 – B 4 AS 77/10 B – juris Rdnr. 8). Die Verwendung der für zulassungsfreie Berufungen üblichen Rechtsmittelbelehrung ist keine Entscheidung über die Zulassung, sondern eine falsche Rechtsmittelbelehrung, die das Berufungsgericht nicht bindet (BSG, Beschluss vom 22. Juli 2010 – B 4 AS 77/10 – juris Rdnr. 8).

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

3. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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