S 49 AS 2049/15

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Potsdam (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
49
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 49 AS 2049/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1) Der Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 27. Januar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. September 2015 gegenüber dem Kläger zu 1) für den Zeitraum 1. November 2008 bis 30. Juni 2010 wird aufgehoben. Der Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 27. Januar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. September 2015 für den Zeitraum 1. November 2008 bis 30. Juni 2010 wird teilweise aufgehoben, soweit die Klägerin zu 3) betroffen ist; im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2) Der Beklagte hat 54 von Hundert der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger zu erstatten.

Tatbestand:

Die Kläger wenden sich gegen Rücknahme- und Erstattungsbescheide des Beklagten in Höhe von insgesamt 5.517,19 Euro für den Zeitraum November 2008 bis Juni 2010.

Die Bedarfsgemeinschaft der Kläger stand bis zum Auszug einer der beiden Töchter im Januar 2009 zu Viert, in der Folgezeit zu Dritt im Leistungsbezug auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bei dem Beklagten. Die Klägerin zu 3) ist 1998 geboren. Der Kläger zu 1) stand in einem Beschäftigungsverhältnis (vgl. Arbeitsvertrag Blatt 386 der Gerichtsakte). Die Klägerin zu 2) nahm zum 1. November 2008 eine Arbeit als Altenpflegerin bei der Firma G Gesellschaft mbH in Berlin auf (Arbeitsvertrag Blatt 477 ff). Mit vorläufigem Bewilligungsbescheid vom 1. Oktober 2008 (Bl. 436 der Verwaltungsakte) bewilligte der Beklagte den Klägern insgesamt Leistungen in Höhe von monatlich 507,83 Euro für November 2008 und Dezember 2008 einschließlich eines befristeten Zuschlags nach § 24 SGB II von 55,00 Euro für die Klägerin zu 2), die sich auf die Kläger zu 1) bis 3) wie folgt verteilten: Kläger zu 1) 134,82 Euro, Klägerin zu 2) 134,82 Euro und Klägerin zu 3) 58,66 Euro. Dabei rechnete der Beklagte Einkommen neben Kindergeld der Klägerin zu 3) Erwerbseinkommen des Klägers zu 1) in Höhe von vorläufig 660,41 Euro netto und 657 Euro Krankengeld sowie ein vorläufiges Nettoerwerbseinkommen der Klägerin zu 2) in Höhe von 750 Euro an (Berechnung Blatt 446). Aufgrund der Erzielung von Einkommen der Tochter S J änderte der Beklagte die Entscheidung mit weiteren Änderungsbescheiden vom 10., 13. November 2008, 16. März 2009 ab (Blatt 483, 491, 539). Mit Änderungsbescheid vom 7. April 2009 (Blatt 590) bewilligte der Beklagte nunmehr insgesamt für November und Dezember 2008 Leistungen in Höhe von 65,12 EUR einschließlich 55,00 Euro befristeten Zuschlag nach § 24 SGB II für die Klägerin zu 2), die sich wie folgt verteilten: Kläger zu 1) 4,16 Euro, Klägerin zu 2) 4,15 Euro und Klägerin zu 3) 1,81 Euro. Dabei rechnete er als Einkommen an: des Klägers zu 1) Netto 1192,87 Euro, bereinigt 686,52 Euro und übersteigendes Kindergeld der Tochter S J in Höhe von 4,42 Euro, der Klägerin zu 2) Netto 708,45 Euro, bereinigt 419,73 Euro und der Klägerin zu 3) Kindergeld in Höhe von 154 Euro.

Im Rahmen des Weiterbewilligungsantrags der Kläger ab Januar 2009 legten diese eine Einkommensbescheinigung des Klägers zu 1) des Arbeitgeber T Trocken- und Innenausbau GmbH N vor, welches für November 2008 ein Bruttoeinkommen von 1.500 Euro und Nettoeinkommen von 1.192,87 Euro bescheinigte (Bl. 500). Die Einkommensbescheinigung der Klägerin zu 2) bescheinigte im November 2008 ein Bruttoeinkommen von 960 Euro und Nettoeinkommen von 588,41 Euro des Arbeitgebers G (Bl. 501). Mit Bescheid vom 7. Januar 2009 in der Fassung der letzten Änderung vom 7. April 2009 (Blatt 588) bewilligte der Beklagte den Klägern Leistungen für die Monate Januar bis März 2009 in Höhe von monatlich insgesamt 206,42 Euro einschließlich 55,00 Euro befristeten Zuschlag nach § 24 SGB II für die Klägerin zu 2), die sich wie folgt verteilten: Kläger zu 1) und Klägerin zu 2) jeweils 61,27 Euro und Klägerin zu 3) 28,88 Euro und für die Monate April bis Juni 2009 170,18 Euro einschließlich eines befristeten Zuschlags nach § 24 SGB II von 55,00 Euro für die Klägerin zu 2), die sich wie folgt verteilten: Kläger zu 1) und Klägerin zu 2) jeweils 46,85 Euro und Klägerin zu 3) 21,48 Euro. Dabei rechnete der Beklagte als Einkommen an: des Klägers zu 1) Netto 1192,87 Euro, bereinigt 686,52 Euro und übersteigendes Kindergeld der Tochter S J in Höhe von 4,42 Euro, der Klägerin zu 2) Netto 708,45 Euro, bereinigt 419,73 Euro und der Klägerin zu 3) Kindergeld in Höhe von 164 Euro. Als Bedarf für Kosten der Unterkunft erkannte der Beklagte im Januar bis März 2009 578,65 Euro und ab April 2009 542,41 Euro an.

Im Rahmen des Weiterbewilligungsantrags der Kläger ab Juli 2009 legten diese eine Einkommensbescheinigung des Klägers zu 1) des Arbeitgeber T Trocken- und Innenausbau GmbH N vor, welches für April 2009 ein Bruttoeinkommen von 1.500 Euro und Nettoeinkommen von 1.192,87 Euro bescheinigte (Bl. 607). Die Einkommensbescheinigung der Klägerin zu 2) bescheinigte im April 2009 ein Bruttoeinkommen von 960 Euro und Nettoeinkommen von 598,61 Euro des Arbeitgebers G (Bl. 604). Mit Bescheid vom 2. Juni 2009 in der Fassung der letzten Änderung vom 03. September 2009 (Blatt 621, 642) bewilligte der Beklagte den Klägern Leistungen für die Monate Juli und August 2009 in Höhe von monatlich insgesamt 412,48 Euro einschließlich eines befristeten Zuschlags nach § 24 SGB II von 55,00 Euro für die Klägerin zu 2), die sich wie folgt verteilten: Kläger zu 1) und Klägerin zu 2) jeweils 140,63 Euro und Klägerin zu 3) 76,22 Euro und für die Monate September 2009 bis Dezember 327,48 Euro einschließlich eines befristeten Zuschlags nach § 24 SGB II von 55,00 Euro für die Klägerin zu 2), die sich wie folgt verteilten: Kläger zu 1) 146,28 Euro, Klägerin zu 2) 146,27 Euro und Klägerin zu 3) 79,93 Euro sowie im Monat September 2009 zusätzlich 100 Euro als Leistungen für die Schule der Klägerin zu 3). Dabei berücksichtigte der Beklagte das angegebene Einkommen der Kläger.

Für den Folgezeitraum bewilligte der Beklagte Leistungen mit Bescheiden vom 8. Dezember 2009 in der Fassung des (vorläufigen) Änderungsbescheides vom 3. März 2010 (Blatt 653, 701) in Höhe von monatlich 318,04 Euro für Januar bis März 2010, die sich wie folgt verteilten: Kläger zu 1) und Klägerin zu 2) jeweils 126,81 Euro und Klägerin zu 3) 64,42 Euro und für die Monate April 2010 bis Juni 2010 in Höhe von 311,05 Euro, die sich wie folgt verteilten: Kläger zu 1) und Klägerin zu 2) jeweils 124,02 Euro und Klägerin zu 3) 63,01 Euro. Dabei lagen den Anspruchsberechnungen Einkommensbescheinigungen der Kläger vom Monat Januar 2010 zugrunde, die einen Nettoverdienst der Klägerin zu 2) von 601,53 Euro und des Klägers zu 1) von 1196,62 Euro bescheinigten (Bl. 661f).

Anfang 2014 wurde aufgrund eines automatisierten Datenabgleichs bekannt, dass die Klägerin zu 2) seit dem 1. September 2013 eine beitragspflichtige Beschäftigung bei der W GmbH aufgenommen hatte und diese Änderung nicht angezeigt hatte (Blatt 971). Gleichzeitig hatte sie eine Einkommensbescheinigung für den Monat Januar 2014 der Firma G vorgelegt. Diese Firma stellte daraufhin Strafanzeige gegen die Klägerin zu 2), weil diese seit September 2013 nicht mehr bei ihr beschäftigt gewesen sei und die Bescheinigung nicht durch die Firma ausgestellt worden sei. Im Rahmen der Strafanzeige räumte die Klägerin zu 2) ein, über mehrere Jahre ihre Lohnbescheinigungen und die ihres Mannes gefälscht zu haben, um Leistungen nach dem SGB II zu beziehen.

Im November 2014 reichte der Arbeitgeber des Klägers zu 1), die T GmbH, Einkommensbescheinigungen und Entgeltabrechnungen des Klägers seit Beginn des Beschäftigungsverhältnisses ab 6. Oktober 2008 bis einschließlich April 2014 auf Anforderung des Beklagten ein (Bl. 1156 – 1289). Im Dezember 2014 reichte der ehemalige Arbeitgeber der Klägerin zu 2), die G mbH, Einkommensbescheinigungen und Entgeltabrechnungen für den Zeitraum der Beschäftigung der Klägerin vom 1. November 2008 bis zum 30. September 2013 im Dezember 2014 auf Anforderung des Beklagten ein (Bl. 1360 – 1486).

Daraufhin hob der Beklagte ohne vorherige Anhörung mit Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 27. Januar 2015 (Blatt 1754) gegenüber der Klägerin zu 2) und in ihrer Eigenschaft als gesetzliche Vertreterin der Klägerin zu 3) diesen gegenüber die Leistungen aus den Bewilligungsbescheiden ab 1. November 2008 bis 30. Juni 2010 ganz auf und stellte insgesamt für die Klägerin zu 2) einen Betrag von 2556,49 Euro und für dir Klägerin zu 3) in Höhe von 1009,15 Euro zur Erstattung. Zur Begründung führte er aus, das Einkommen der Klägerin und ihres Ehemannes sei tatsächlich höher gewesen, als von der Klägerin zu 2) angegeben und belegt. Hilfebedürftigkeit liege mit dem tatsächlich erzielten Einkommen nicht vor. Die Entscheidung sei wegen arglistiger Täuschung, Drohung bzw. Bestechung zurückzunehmen. Als Rechtsgrundlage gab er § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II iVm § 330 Abs. 2 SGB III iVm § 45 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 SGB X an. Die Erstattung stützte er auf § 50 SGB X. Zu weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid einschließlich der Berechnungsbögen ab Blatt 1783 bis 1812 der Verwaltungsakte verwiesen. Die Horizontalübersichten befinden sich auf Blatt 1572 bis 1591 der Verwaltungsakte. Mit weiterem Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 27. Januar 2015 (Blatt 1774) hob der Beklagte ohne vorherige Anhörung gegenüber dem Kläger zu 1) die Leistungen aus den Bewilligungsbescheiden ab 1. November 2008 bis 30. Juni 2010 ganz auf und stellte insgesamt einen Betrag von 1.951,55 Euro zur Erstattung. Die Begründung war identisch mit der im Bescheid gegenüber der Klägerin zu 2).

Mit Widerspruchsbescheid vom 11. September 2015 wies der Beklagte die Widersprüche der Kläger als unbegründet zurück (Blatt 1950-2008). In der Widerspruchsbegründung führte der Beklagte das tatsächliche Erwerbseinkommen der Kläger zu 1) und 2) tabellarisch auf und legte die Einkommensbereinigung offen. Ferner führte er ohne weitere Begründung aus, die Kläger hätten durch arglistige Täuschung die Ansprüche auf Erstattung veranlasst.

Die Klägerin zu 2) wurde 2016 nach geständiger Einlassung rechtskräftig zu einer Bewährungsstrafe wegen gewerbsmäßigen Betruges und Urkundenfälschung verurteilt, wobei der Schaden (Überzahlung von Leistungen nach dem SGB II der gesamten Bedarfsgemeinschaft) im Zeitraum 2010 bis 2014 auf insgesamt 28.039,22 Euro beziffert war. Taten vor März 2010 unterlagen bereits der Verjährung. Zum 1. Mai 2014 meldete sich die Bedarfsgemeinschaft vom Leistungsbezug ab und erhielt seitdem keine Leistungen mehr.

Die Kläger haben am 12. Oktober 2015 Klage vor dem Sozialgericht Potsdam erhoben. Sie sind der Ansicht, die Klägerin zu 3) hafte nach dem Eintritt der Volljährigkeit nur mit ihrem Vermögen, welches nicht vorhanden sei (Erklärung Blatt 476 der Gerichtsakte). Sie habe erstmals im Oktober 2016 also nach Eintritt der Volljährigkeit (2016) ein Konto eröffnet, siehe Blatt 366ff der Gerichtsakte. Der Kläger zu 1) habe auf den Bestand der von Anfang an rechtswidrig begünstigten Bewilligungsbescheide vertrauen dürfen und die Leistung vollständig verbraucht. Sie tragen vor, der Kläger zu 1) habe von den unrichtigen Einkommensbescheinigungen keine Kenntnis gehabt. Darüber hinaus sind sie der Ansicht, die einkommensmindernden Werbungskosten seien nicht vollständig angesetzt worden, da die Kläger in diesem Zeitraum Werbungskosten in Höhe von 40.674 Euro gehabt hätten, so dass ein Leistungsanspruch der Kläger verbliebe. Sie verweisen auf eine Aufschlüsselung der Werbungskosten laut Einkommensteuerbescheide der Jahre 2009 bis 2013 des L-Union e.V. (Blatt 390f der Gerichtsakte). Zum Nachweis der Höhe der monatlichen Auslöse verweisen sie auf die beigefügten Lohnbescheinigungen des Klägers zu 1) (Blatt 392 bis 467 der Gerichtsakte). Der Arbeitgeber des Klägers zu 1) zahle für den als Trockenbaumonteur beschäftigten Kläger eine Auslöse von kalendertäglich 34,50 Euro zur Abgeltung von Übernachtungs- und Verpflegungskosten auf den Montagebaustellen (Blatt 388 der Gerichtsakte).

Die Kläger beantragen,

die Rücknahme- und Erstattungsbescheide vom 27. Januar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. September 2015 (AZ: W 3908-00421/15 und 422/15) für den Zeitraum November 2008 bis Juni 2010 gegenüber den Klägern aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist auf seine Ausführungen in den angegriffenen Bescheiden und den Verwaltungsvorgang unter Hinweis auf die geständige Einlassung der Klägerin zu 2) im strafrechtlichen Verfahren.

Mit Schreiben vom 4. März 2016 hat das Amtsgericht Luckenwalde dem Beklagten mitteteilt, dass die Klägerin zu 2) als Auflage, den Schaden wiedergutzumachen, verpflichtet wurde, beginnend ab 1. März 2016 monatlich 50 Euro auf die zu erwartende Rückforderung des Jobcenters an dieses zu zahlen (Blatt 339 der Gerichtsakte).

Die Kammervorsitzende hat die Kläger mit Schreiben vom 24. April 2018 unter Hinweis auf die Rechtsfolgen des § 106 a Abs. 2 Nr. 1 SGG aufgefordert, u.a. die vertragliche bzw. betriebliche Grundlage für die Auslösezahlung des Arbeitgebers, sofern es diese gibt bzw. Negativmitteilung, soweit es sich um eine freiwillige Zahlung handelt, bis zum 15. Mai 2018 einzureichen. Daraufhin hat der Klägerbevollmächtigte die Bescheinigung des Arbeitgebers von Blatt 388 erneut vorgelegt (Blatt 478). Im Termin der mündlichen Verhandlung hat der Klägerbevollmächtigte angegeben, dass es eine Betriebsvereinbarung hierzu gäbe, die eingereicht werden könne. Er hat ferner Entgeltbescheinigungen des Klägers für den streitgegenständlichen Zeitraum eingereicht (ab Blatt 392 der Gerichtsakte). Aus diesen ergeben sich Auslösezahlungen in folgenden Monaten: erstmals im Juni 2009: für 14 Tage, im Juli 2009: 23 Tage, im August 2009: 6 Tage, September 2009: 20 Tage, Oktober 2009: 12 Tage, November 2009: 18 Tage, Dezember 2009 bis Juli 2010: keine.

Der Beklagte hat auf Nachfrage des Gerichts die Nachholungen der Anhörung gegenüber dem Kläger zu 1) und der Klägerin zu 3) vom 3. August 2017, jeweils an diese persönlich zugestellt, übersandt (Blatt 481 ff der Gerichtsakte). Inhaltlich führte er zur Begründung in den Anhörungen an beide aus, dass das Verhalten der Klägerin zu 2) (als Ehefrau bzw. gesetzliche Vertreterin der Klägerin zu 3)), vorsätzlich falsche Angaben gemacht zu haben, zuzurechnen sei. Zudem hätten die Kläger zu 1) und 3) erkennen können, dass Leistungen in dieser Höhe nicht zugestanden hätten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, insbesondere das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 27. Juni 2018, sowie der beigezogenen Verwaltungsakten (sieben Bände - Band III bis IX) zu Aktenzeichen: BG ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Anfechtungsklage bezüglich des Klägers zu 1) und der Klägerin zu 3) hat Erfolg. Die angegriffenen Rücknahme- und Erstattungsbescheide vom 27. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. September 2015 sind rechtswidrig und die Kläger beschwert, § 54 Abs. 2 S. 1 SGG. Im Übrigen hat die Klage der Klägerin zu 2) keinen Erfolg und ist der Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 27. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. September 2015 rechtmäßig.

1) a) Der angefochtene Rücknahmebescheid gegenüber dem Kläger zu 1) ist rechtswidrig und war aufzuheben, § 54 Abs. 2 S. 1 SGG. Rechtsgrundlage für die Rücknahme der Entscheidung ist § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II iVm § 330 Abs. 2 SGB III iVm § 45 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 SGB X und nicht § 45 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 SGB X. Gem. § 45 Abs. 2 S. 2 Nr. 1-3 SGB X kann sich der Begünstigte auf Vertrauen nicht berufen, soweit 1. er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, 2. der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder 3. er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Für eine Arglist des Klägers zu 1) (Nr. 1) fehlen konkrete Anhaltspunkte. Ausweislich des durchgeführten Strafverfahrens (nur gegen die Klägerin zu 2)) handelte die Klägerin zu 2) allein und in Unkenntnis des Klägers zu 1).

Der Rücknahmebescheid ist formell rechtswidrig, weil die Anhörung unterblieben ist.

Nach § 24 Abs. 1 SGB X ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Nach Abs. 2 der Vorschrift kann davon unter bestimmten - hier jedoch nicht einschlägigen - Ausnahmen abgesehen werden. Der Beklagte hat den Kläger zu 1) vor der Erlass der Rücknahmeentscheidung nicht ordnungsgemäß angehört und die fehlende Anhörung auch nicht nachgeholt (§ 41 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 3 SGB X).

Entscheidungserheblich sind alle Tatsachen, die zum Ergebnis der Verwaltungsentscheidung beigetragen haben, d.h. die Tatsachen, auf die sich die Verwaltung im maßgeblichen Fall tatsächlich auch gestützt hat bzw. stützen will (vgl. bspw. Schmidt-de Caluwe in Eichenhofer/Wenner, SGB I, IV, X, 2012, § 24 SGB X Rdnr. 14 ff.; Siefert in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 24 Rdnr. 13). Dabei kommt es auf die Rechtsansicht der Behörde an, was sie als entscheidungserheblich ansieht, auch wenn ihre Ansicht ggf. materiell-rechtlich unzutreffend ist (z.B. BSG, Urteil vom 29. November 2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 - juris Rdnr. 21; Urteil vom 9. November 2010 - B 4 AS 37/09 R - juris Rdnr. 12; Urteil vom 10. August 2010 - B 13 R 140/10 B - juris Rdnr. 8; Urteil vom 26. September 1991 - 4 RK 4/91 - BSGE 69, 247 - juris Rdnr. 28 ff.). Das Gericht ist in jedem Stand des Verfahrens verpflichtet zu prüfen, ob die anhörungspflichtige Behörde dem Anhörungsgebot entsprochen hat (vgl. bspw. BSG, Urteil vom 31. Oktober 2002 - B 4 RA 15/01 R - juris Rdnr. 24). Der Aufhebungsanspruch wegen einer unterbliebenen Anhörung steht einem sachlich-rechtlichen Fehler gleich und begründet damit eine uneingeschränkte Pflicht zur Aufhebung (vgl. § 42 Satz 2 SGB X) (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 26. März 2015 – L 7 AS 4295/13 –, Rn. 24, juris). Die Darlegungs- und objektive Beweislast für die erfolgte Anhörung trägt der Beklagte (z.B. BSG, Urteil vom 31. Oktober 2002 - B 4 RA 15/01 R - juris Rdnr. 33).

Ein während des Gerichtsverfahrens zu diesem Zweck durchzuführendes förmliches Verwaltungsverfahren liegt vor, wenn die beklagte Behörde dem Kläger in angemessener Weise Gelegenheit zur Äußerung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen gegeben hat und sie danach zu erkennen gibt, ob sie nach erneuter Prüfung dieser Tatsachen am bisher erlassenen Verwaltungsakt festhält. Dies setzt regelmäßig voraus, dass – ggf. nach freigestellter Aussetzung des Verfahrens gemäß § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG - die Behörde den Kläger in einem gesonderten "Anhörungsschreiben" alle Haupttatsachen mitteilt, auf die sie die belastende Entscheidung stützen will und sie ihm eine angemessene Frist zur Äußerung setzt. Ferner ist erforderlich, dass die Behörde das Vorbringen des Betroffenen zur Kenntnis nimmt und sich abschließend zum Ergebnis der Überprüfung äußert (BSG, Urteil vom 09. November 2010 – B 4 AS 37/09 R –, SozR 4-1300 § 41 Nr 2, Rn. 15).

Eine Anhörung des Klägers zu 1) zu den subjektiven Voraussetzungen der Rücknahmeentscheidung, gestützt auf § 45 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 SGB X, im Widerspruchsverfahren gem. § 45 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 – 3 SGB X (ohne konkrete Benennung der einschlägigen Ziffer) ist weder im Verwaltungsverfahren erfolgt, noch ist sie bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung wirksam nachgeholt worden.

Eine Heilung des Anhörungsmangels im Widerspruchsverfahren scheidet aus, da der Beklagte im Bescheid vom 27. Januar 2015 nicht alle Tatsachen benannt hat (insbesondere des subjektiven Vorwurfs), die zur Aufhebung der Leistungen des Klägers zu 1) geführt haben sollen. Ein Verfahrensfehler liegt dann vor, wenn die Behörde auf Grundlage der eigenen materiell-rechtlichen Rechtsauffassung das Verfahrensrecht nicht folgerichtig angewendet, also trotz selbst als entscheidungserheblich interpretierter Tatsache eine Anhörung unterlassen hat (v. Wulffen/Schütze/Siefert SGB X § 24 Rn. 3-17, beck-online). In dem Rücknahmebescheid des Beklagten führt dieser aus, dass die Einkommen des Klägers zu 1) und der Klägerin zu 2) tatsächlich höher waren als von ihnen angegeben wurden. Die fehlerhafte Bewilligung habe der Kläger durch arglistige Täuschung erwirkt.

Es fehlen jedoch gänzlich Aussagen dazu, welche entscheidungserheblichen Tatsachen, die einer arglistigen Täuschung für eine Aufhebung nach Ziffer 1 zugrunde liegen, bei dem Kläger zu 1) vorgelegen haben sollen. Es wird nicht deutlich, dass sich der subjektive Vorwurf, fehlerhafte Angaben gemacht zu haben, auch auf den Kläger zu 1) bezieht. Der Vorwurf, anderes Einkommen erzielt zu haben, als angegeben zu haben, könnte den Tatbestand des § 45 Abs. 2 S. 3 Ziffer 2 SGB X entsprechen, der jedoch nicht als Rechtsgrundlage benannt ist. Überdies fehlt es auch hier an dem subjektiven Vorwurf, nämlich bewusst unrichtige Angaben gemacht zu haben.

Es ist indes keine Frage einer ordnungsgemäßen Anhörung, ob die Entscheidung, die in Betracht gezogen wird oder ergeht, materiell rechtmäßig ist (vgl. KassKomm/Mutschler SGB X § 24 Rn. 11-15, beck-online). Vielmehr kommt es für die Bewertung der Anhörung darauf an, von welcher Rechtsgrundlage die Behörde ausgegangen ist (vgl. BSG, Urteil v. 29. 11. 2012, AZ: B 14 AS 6/12 R, Rd. 21 in NJOZ 2013, 1665, beck-online).

Soweit der Beklagte mit der Nennung auch des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 und 3 SGB X in der Widerspruchsentscheidung seine Entscheidung auf eine weitere Rechtsgrundlage stützen wollte, fehlt es ebenfalls an der vorherigen Anhörung und konnte eine Heilung im Widerspruchsverfahren nicht eintreten. Denn diese Vorschriften werden erstmals im Widerspruchsverfahren erwähnt. Will die Behörde nämlich im Widerspruchsverfahren die Entscheidung auf neue Tatsachen stützen, hat sie den Beteiligten erneut anzuhören (vergl. KassKomm/Mutschler SGB X § 24 Rn. 11-15, beck-online).

Die Heilung des Anhörungsmangels durch deren Nachholung in einem ordnungsgemäßen förmlichen Verfahren scheitert jedenfalls daran, dass der Beklagte sich nach Klageerhebung mit dem Schreiben vom 3. August 2017 nicht an den bereits im Widerspruchsverfahren beauftragten Prozessbevollmächtigten des Klägers, sondern direkt an den Kläger zu 1) gewandt hat. Denn nach § 13 Abs. 3 S. 1 SGB X, der hier für die Nachholung des formalisierten Anhörungsverfahrens Anwendung findet, muss sich eine Behörde an den für das Verfahren bestellten Bevollmächtigten wenden; dies steht nicht in ihrem Ermessen (Mutschler in Kasseler Kommentar, § 13 SGB X RdNr 14, Stand September 2013). Diese "Kommunikationsverpflichtung" bezweckt neben einer zweckmäßigen Verfahrensgestaltung den Schutz des Verfahrensbeteiligten, der durch die Bevollmächtigung zu erkennen gegeben hat, dass dieser das Verfahren für ihn betreiben soll (BSG, Urteil vom 26. Juli 2016 – B 4 AS 47/15 R –, BSGE 122, 25-34, SozR 4-1500 § 114 Nr 2, Rn. 21 mit Verweis auf Pitz in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand 5.1.2016, § 13 RdNr 13).

Auf Grund der erteilten Prozessvollmacht konnte der Kläger darauf vertrauen, dass alle prozessrelevanten Erklärungen und Verfügungen an seinen Bevollmächtigten gerichtet werden und von ihm keine Kenntnis bzw. Reaktion erwartet werden konnte.

§ 13 Abs. 3 S 2 SGB X findet keine Anwendung, wonach sich die Behörde im Falle einer Mitwirkungsverpflichtung eines Beteiligten an diesen selbst wenden kann. Ebenso scheidet § 37 SGB X mangels Verwaltungsaktqualität des Anhörungsschreibens vom 03. August 2017 aus (vgl. BSG, Urteil vom 26. Juli 2016, Rn. 22, ebd.). Im Übrigen hat sich der Beklagte auch nach (seiner Meinung nach durchgeführter) Anhörung im Gerichtsverfahren nicht zum Ergebnis der Überprüfung geäußert.

b) Der Erstattungsbescheid ist rechtswidrig, weil es nach Aufhebung des Rücknahmebescheides an einer Grundlage fehlt. Gem. § 50 Abs. 1 S. 1 sind, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, bereits erbrachte Leistungen zu erstatten.

2) a) Der angefochtene Rücknahmebescheid vom 27. Januar 2015 bezüglich der Klägerin zu 3) ist ebenfalls wegen Verstoßes gegen die Anhörungspflicht nach § 24 SGB X rechtswidrig. Die Klägerin zu 3) war zum Zeitpunkt des Verwaltungsverfahrens minderjährig. Der Bescheid ging an die Klägerin zu 2) als gesetzliche Vertreterin für die Klägerin zu 3). In dem Bescheid wird auch auf Seite 1 ausgeführt, dass der Bescheid an die Klägerin zu 2) auch als gesetzliche Vertreterin der Klägerin zu 3) gerichtet ist.

Eine Heilung des Anhörungsmangels im Widerspruchsverfahren scheidet aus, da der Beklagte die entscheidungserheblichen Tatsachen bezüglich der Klägerin zu 3), die laut Begründung des Bescheides keinen eigenen Tatbestand verwirklicht hat, nicht mitgeteilt hat. Eine Nachholung im Klageverfahren der inzwischen volljährigen Klägerin zu 3) ist ebenfalls nicht wirksam erfolgt. Der Beklagte hat sich nach Klageerhebung mit dem Schreiben vom 3. August 2017 nicht an den bereits im Widerspruchsverfahren beauftragten Prozessbevollmächtigten der Klägerin zu 3), sondern direkt an die Klägerin zu 3) gewandt (vgl. Ausführungen unter a)).

Im Übrigen hat sich der Beklagte auch nach (seiner Meinung nach durchgeführter) Anhörung im Gerichtsverfahren nicht zum Ergebnis der Überprüfung geäußert.

b) Der Erstattungsbescheid ist rechtswidrig, weil es nach Aufhebung des Rücknahmebescheides an einer Grundlage fehlt. Gem. § 50 Abs. 1 S. 1 sind, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, bereits erbrachte Leistungen zu erstatten.

3) a) Hinsichtlich der Klage der Klägerin zu 2) hat die Kammer bereits Bedenken an dem Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin. Die Klägerin ist rechtskräftig zu einer Bewährungsstrafe wegen gewerbsmäßigen Betruges u.a. verurteilt worden und hat als Auflage des Gerichts zur Wiedergutmachung des Schadens auferlegt bekommen, monatlich in Raten von 50 Euro ab 1. März 2016 auf den Schaden des Beklagten zu leisten. Nach diesem Schreiben des Amtsgerichts wurde der Beklagte aufgefordert, dem Gericht umgehend mitzuteilen, wenn die Klägerin zu 2) im Falle einer Säumnis binnen vier Wochen nach Mahnung nicht weiterzahle. Fraglich erscheint hier insbesondere das Verhältnis einer Bewährungsauflage zur Wiedergutmachung eines Schadens mit einer fortwährenden Pflicht zur Zahlung an den Beklagten zur Frage der (formellen und materiellen) Rechtmäßigkeit der Rücknahme- und Erstattungsbescheide, die aufgrund des entstandenen und eingeräumten Schadens ergangen sind.

b) Jedenfalls ist die Klage auch unbegründet. Es liegen die Voraussetzungen für die Rücknahme der Leistungen der Klägerin zu 2) aus den Bewilligungsbescheiden vom 1. Oktober 2008 in der letzten Fassung des Änderungsbescheides vom 7. April 2009, vom 7. Januar 2009 in der letzten Fassung des Änderungsbescheides vom 7. April 2009, vom 2. Juni 2009 in der Fassung des letzten Änderungsbescheides vom 3. September 2009, vom 8. Dezember 2009 in der Fassung des letzten Änderungsbescheides vom 3. März 2010, vor.

Der Bescheid vom 27. Januar 2015 ist hinsichtlich der Rücknahme der Leistungen gegenüber der Klägerin zu 2) rechtmäßig. Er ist auch formell rechtmäßig. Die vor Erlass des Bescheides unterbliebene Anhörung gem. § 24 Abs. 1 SGB X ist im Widerspruchsverfahren geheilt worden, § 41 Abs. 1 Ziffer 3 SGB X.

Die Klägerin ist zu den entscheidungserheblichen Tatsachen im Sinne von § 24 Abs. 1 SGB X angehört worden. Sie hatte Gelegenheit, aufgrund des Bescheides vom 27. Januar 2015 im anschließenden Widerspruchsverfahren Stellung zu nehmen. Dem Bescheid war die zutreffende Rechtsgrundlage zu entnehmen und auch, aus welchen Gründen der Beklagte hier einen Ausschluss des Vertrauensschutzes annahm und damit die Möglichkeit der Rücknahme für die Vergangenheit. Die Klägerin hatte somit im Rahmen des Widerspruchsverfahrens Gelegenheit, sich zu den entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern (vgl. auch Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. April 2017 – L 8 R 1083/14 –, Rn. 46, juris). Von dem Recht der Stellungnahme hat die durch den Prozessbevollmächtigten vertretene Klägerin keinen Gebrauch gemacht, bevor der Widerspruchsbescheid ergangen ist.

In dem Rücknahmebescheid des Beklagten führt dieser aus, dass die Einkommen des Klägers zu 1) und der Klägerin zu 2) tatsächlich höher waren als von ihnen angegeben wurden. Die fehlerhafte Bewilligung hätten die Kläger durch arglistige Täuschung erwirkt. Zwar führt auch hier der Beklagte nicht aus, was genau sich hinter dem Vorwurf der arglistigen Täuschung als Tatsachen verbirgt. Jedoch handelt es sich im Falle der Klägerin zu 2) um die Person, die die Anträge bei dem Beklagten gestellt hatte und gegen die aufgrund eingestandener gefälschter Einkommensbescheinigungen ein Strafverfahren und Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeleitet war. Durch die ausdrückliche Verankerung des Rechts auf Anhörung vor Erlass eines in seine Rechte eingreifenden VA soll das Vertrauen der Versicherten bzw. Leistungsbezieher in eine unvoreingenommene, unparteiliche sowie ergebnisoffene und sorgfältige Verfahrensleitung der Sozialverwaltung gesichert und die Stellung der Betroffenen insbesondere durch den Schutz vor Überraschungsentscheidungen gestärkt werden (v. Wulffen/Schütze/Siefert SGB X § 24 Rn. 2-2a, beck-online). Dieser Schutzzweck wird im Falle der Klägerin trotz der kurzen Ausführungen zu den entscheidungsrelevanten Tatsachen gewahrt.

Der Bescheid ist auch materiell rechtmäßig. Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB II und § 330 Abs. 2 SGB III ist ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, sofern das Vertrauen des Begünstigten auf den Bestand des Verwaltungsaktes nicht schutzwürdig ist, weil der Begünstigte den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat.

Die Klägerin hat bewusst ihre Einkommensbescheinigungen und die ihres Ehemannes, des Klägers zu 1), in dem streitgegenständlichen Zeitraum zu ihren Gunsten verändert und anschließend bei dem Beklagten eingereicht, mit dem Ziel, Leistungen für ihre Bedarfsgemeinschaft zu erhalten. Sie hat damit über die tatsächlichen Einkommensverhältnisse der Bedarfsgemeinschaft getäuscht. Eine Täuschung ist jede Einwirkung auf das intellektuelle Vorstellungsbild eines anderen, mit dem Ziel eine Fehlvorstellung über Tatsachen hervorzurufen. Die Klägerin hat durch ihre falschen Angaben bei dem Beklagten eine fehlerhafte Vorstellung vom Leistungsanspruch der Bedarfsgemeinschaft hervorgerufen. Dieser hat in dem streitgegenständlichen Zeitraum aufgrund dieser Fehlvorstellungen Leistungen nach dem SGB II gewährt. Das Verhalten der Klägerin zu 2) war auch arglistig, weil vorsätzlich. Die rechtskräftige Verurteilung der Klägerin unter anderem wegen Betruges und ihre geständige Einlassung bestätigen die fehlende Schutzwürdigkeit der Klägerin zu 2).

Die Höhe der aufgehobenen Beträge entspricht den zuvor bewilligten Leistungsbeträgen an die Klägerin zu 2) aus den Bewilligungsentscheidungen.

Es ergibt sich unter Anrechnung des Einkommens kein Leistungsanspruch der Klägerin zu 2). Die von den Klägern geltend gemachte Nichtanrechnung der gezahlten Auslöse des Arbeitgebers des Klägers zu 1) bzw. des Abzugs weiterer Werbungskosten für Verpflegungsmehraufwendungen und Übernachtungen greifen nicht. Gem. § 11 Abs. 3 Nr. 1 lit a) SGB II in der bis zum 31.3.2011 geltenden Fassung sah vor, dass auch zweckbestimmte Einnahmen auf privatrechtlicher Grundlage als Einnahmen unberücksichtigt bleiben. Voraussetzung war, dass eine Vereinbarung vorhanden ist, die objektiv erkennbar ergab, dass die Leistung für einen bestimmten Zweck verwendet werden soll, dem Leistungsempfänger also ein privatrechtlicher Verwendungszweck auferlegt wurde (vgl. BSG, Urteil vom 11. Dezember 2012, AZ: B 4 AS 27/12 R mit Verweis auf BSG vom 3.3.2009, B 4 AS 47/08 R). Dabei genügt es nicht allein, als Entgeltbestandteil bezeichnet zu sein. Es muss sich konkret aus dem Arbeitsvertrag oder einer Dienstvereinbarung ergeben, wofür und ggf. in welcher Höhe die Spesen verwendet werden sollen (vgl. BSG vom 11.12.2012, ebd., Rn 20). Der Arbeitsvertrag des Klägers enthält keine Angaben zu Spesenzahlungen und deren Verwendung. Aus den Entgeltbescheinigungen des Klägers zu 1) ergeben sich geleistete Zahlungen als "Auslösung" in verschiedenem Umfang und nicht in allen streitgegenständlichen Monaten. Die vom Kläger vorgelegte Bescheinigung des Arbeitgebers vom 29. Juni 2017 bestätigt, dass der Arbeitgeber für Arbeitsstellen ohne tägliche Heimfahrt eine Auslöse in Höhe von 34,50 Euro pro Kalendertag zahlt. Danach werden Kosten für die Übernachtung und Verpflegung auf den Montagebaustellen von den Arbeitnehmern selbst getragen und durch die pauschale Auslöse abgedeckt. Eine Betriebsvereinbarung, die den Anspruch auf Auslöse und die Verwendung regelt, hat der Kläger trotz Aufforderung unter Fristsetzung und unter Hinweis auf die Regelung des § 106 a SGG nicht eingereicht. Die Kammer ist der Auffassung, dass der Nachweis, dass die gezahlte Auslöse ausdrücklich nur für die Mehraufwendungen für Verpflegung und Übernachtung verwendet werden kann, nicht erbracht ist. Eine zwingende Verwendungsform ergibt sich nicht.

Aus der Klassifizierung als Einnahmen folgt, dass tatsächliche und notwendige Verpflegungsmehraufwendungen sowie von Übernachtungskosten bei der Einkommensbereinigung zu berücksichtigen wären. Als Nachweis von erhöhten Aufwendungen haben die Kläger eine Gesamtauflistung von Werbungkosten in den Jahren 2009 bis 2013 getrennt nach Klägern vorgenommen. Hiernach entstanden im gesamten Jahr 2009 bei dem Kläger zu 1) für Reisekosten/Auswärtstätigkeit 2.343 Euro, im Jahr 2010 2.983 Euro. Verpflegungsmehraufwendungen sind erst ab dem Jahr 2012 ausgewiesen. Eine genaue Aufschlüsselung dieser Kosten erfolgte nicht, auch nicht nach dem Hinweis in der nichtöffentlichen Verhandlung vom 28. Juni 2017. Dort wies die Kammervorsitzende auch darauf hin, dass – sofern eine spezielle Zweckbestimmung nicht nachgewiesen wird – die tatsächlichen Aufwendungen für die auswärtige Tätigkeit nachzuweisen wären, wobei aufgrund einer sogenannten Indizwirkung auch einzelne Monate bei relativ gleichbleibenden monatlichen Aufwendungen ausreichend sein dürften.

Nach § 11 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB II i.V.m. § 6 Abs. 3 ALG II-VO werden pauschal 6 Euro bei einer Abwesenheit von mindestens 12 Stunden im Rahmen der Werbungskosten als Verpflegungsmehraufwendungen berücksichtigt. Dies hat der Beklagte nicht in seiner Entscheidung berücksichtigt. Aus den Einkommensbescheinigungen des Arbeitgebers des Klägers ergab sich auch nicht die Anzahl der tageweisen Abwesenheit des Klägers zu 1). Ob die Regelung verfassungskonform auszulegen ist (Öffnungsklausel, vgl. BSG vom 11.12.2012, ebd.) bis zur Höhe der Sätze des Bundesreisekostengesetzes kann dahinstehen mangels tatsächlicher Nachweise, die über den Pauschbetrag von 6 Euro hinausgehen. Es ergibt sich aus der Jahresaufstellung der Werbungskosten der Kläger nicht, ob in der Kostenposition Reisekosten/Auswärtstätigkeit auch Verpflegungsmehraufwand enthalten ist. Dagegen spricht, dass diese Kostenposition ausdrücklich ab 2012 eigenständig aufgeführt wird.

Ausgehend von 6 Euro pro Tag ergeben sich nach dem Gerichtsverfahren eingereichten Entgeltbescheinigungen des Klägers zu 1) in folgenden Monaten weitere Absetzbeträge: im Juni 2009 84 Euro für 14 Tage, im Juli 2009 138 Euro für 23 Tage, im August 2009 36 Euro für 6 Tage, im September 2009 120 Euro für 20 Tage, im Oktober 2009 72 Euro für 12 Tage, im November 2009 108 Euro für 18 Tage. Unter Berücksichtigung dieser weiteren Freibeträge ergibt sich weiterhin kein Anspruch auf Leistungen aufgrund übersteigenden Einkommens. Bei einem Gesamtbedarf von 1.385,41 Euro der Bedarfsgemeinschaft im Juni 2009 steht dem nunmehr anzurechnendes Gesamteinkommen von 2.010,12 Euro gegenüber, im Juli 2009 bei einem Gesamtbedarf von 1.473,88 Euro der Bedarfsgemeinschaft ab Juli ein Gesamteinkommen von 2.486,76 Euro, im August 2009 von 3.039,73 Euro, im September 2009 bei einem Gesamtbedarf von 1.488,88 Euro ab September 2009 ein Gesamteinkommen von 2.086,17 Euro, im Oktober 2009 von 2.398,55 Euro und im November 2009 von 2.255,53 Euro.

Welche konkreten Reisekosten über die einbezogenen Freibeträge noch in der Aufschlüsselung der Werbekosten durch die Kläger enthalten sind, haben die Kläger nicht konkretisiert und konnten nicht berücksichtigt werden.

c) Der Erstattungsbescheid ist rechtmäßig und folgt aus § 50 SGB X. Eine Reduzierung der Erstattungssumme hinsichtlich der Kosten der Unterkunft im Rahmen von § 40 Abs. 4 S. 1 SGB II (a. F. bis 31.12.2015) war wegen der einschlägigen Norm des § 45 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 SGB X gem. Satz 2 ausgeschlossen.

4) Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Anteil des Obsiegens der Kläger.

Rechtsmittelbelehrung:

Diese Entscheidung kann mit der Berufung angefochten werden.

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheides beim

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Försterweg 2-6 14482 Potsdam,

schriftlich, in elektronischer Form oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem

Sozialgericht Potsdam Rubensstraße 8 14467 Potsdam,

schriftlich, in elektronischer Form oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

Die Berufungsschrift muss innerhalb der Frist bei einem der vorgenannten Gerichte eingehen. Sie soll den angefochtenen Gerichtsbescheid bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung der Berufung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Auf Antrag kann vom Landessozialgericht durch Beschluss die Revision zum Bundessozialgericht zugelassen werden, wenn der Gegner schriftlich zustimmt. Der Antrag auf Zulassung der Revision ist innerhalb eines Monats, nach Zustellung des Gerichtsbescheides bei dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg schriftlich oder in elektronischer Form zu stellen. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag beizufügen. Lehnt das Landessozialgericht den Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluss ab, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Berufungsfrist von neuem, sofern der Antrag auf Zulassung der Revision in der gesetzlichen Form und Frist gestellt und die Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt war.

Die elektronische Form wird durch Übermittlung eines elektronischen Dokuments gewahrt, das für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet ist und

- von der verantwortenden Person qualifiziert elektronisch signiert ist oder

- von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gem. § 65a Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingereicht wird.

Weitere Voraussetzungen, insbesondere zu den zugelassenen Dateiformaten und zur qualifizierten elektronischen Signatur, ergeben sich aus der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung - ERVV) in der jeweils gültigen Fassung. Über das Justizportal des Bundes und der Länder (www.justiz.de) können weitere Informationen über die Rechtsgrundlagen, Bearbeitungsvoraussetzungen und das Verfahren des elektronischen Rechtsverkehrs abgerufen werden.

Tichy Die Vorsitzende der 49. Kammer
Rechtskraft
Aus
Saved