S 52 SO 205/12

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
52
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 52 SO 205/12
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Beklagte wird unter Aufhebung ihrer Bescheide vom 5. Oktober 2011 und vom 17. November 2011, beide in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. April 2012, sowie des Bescheides vom 19. März 2012, dieser in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juli 2012, verpflichtet, der Klägerin die Kosten der Behandlung des Patienten K. in der Zeit vom 24. September bis zum 15. Oktober 2011, vom 30. bis zum 21. Oktober 2011 und vom 10. bis zum 12. März 2012 in Höhe von insgesamt 7.094,11 Euro zu erstatten. 2. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin sind von der Beklagten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin will die Verpflichtung der Beklagten zur Übernahme von Behandlungskosten erreichen.

Die Klägerin ist ein privatrechtlich organisiertes Unternehmen, das in H. zahlreiche Krankenhäuser betreibt.

1. Am 24. September 2011 nahm die Klägerin den 1985 geborenen p. Staatsangehörigen K. (Im Folgenden auch: Patient) als Notfall auf. Anlässlich der Aufnahme notierte die Beklagte:

"Patient spricht sehr schlecht Deutsch, ist obdachlos und Alkoholiker. ( ) Hier bei Aufnahme ist (der) Patient sehr schläfrig, verwahrlost und verlaust."

Am 25. September 2011 unterzeichnete der Patient einen "Aufnahmebogen unklarer Kostenträger". Darin gab er an, ohne festen Wohnsitz zu sein und seine Personaldokumente verloren zu haben. Er halte sich üblicherweise in A. bzw. auf der R. auf und lebe vom Betteln und Flaschensammeln. Die Frage nach einer Krankenversicherung verneinte er. Bargeld und Vermögen habe er nicht.

Er wurde bis zum 15. Oktober 2011 von der Klägerin behandelt. Durch die Behandlung entstanden der Klägerin Kosten in Höhe von 3.761,34 Euro, deren Erstattung die Klägerin begehrt.

Die Klägerin meldete die Aufnahme des Patienten bei der Beklagten mit Schreiben vom 25. September 2011 an und beantragte die Erstattung der Behandlungskosten. Die Mitteilung ging bei der Beklagten am gleichen Tag ein. In der Folgezeit reichte sie eine Dringlichkeitsbescheinigung, die Mittellosigkeitserklärung des Patienten, einen Aufnahmebogen und ein Foto des Patienten nach.

Die Beklagte lehnte die Erstattung der Behandlungskosten mit Bescheid vom 5. Oktober 2011 ab. Zur Begründung verwies die Beklagte darauf, dass der Patient bereits am 30. November 2008 unbekannt verzogen sei. Eine weitere Aufnahme des Patienten erfolgte am 30.Oktober 2011. Er wurde nach Einlieferung durch den Rettungsdienst als Notfall aufgenommen und wurde bis zum 31. Oktober 2011 von der Klägerin behandelt. Durch die Behandlung entstanden der Klägerin Kosten in Höhe von 836,52 Euro, deren Erstattung die Klägerin begehrt.

Die Klägerin meldete die Aufnahme des Patienten bei der Beklagten mit Schreiben vom 31. Oktober 2011 an. Die Mitteilung ging bei der Beklagten am gleichen Tag ein. Wiederum reichte sie eine Dringlichkeitsbescheinigung, die Mittellosigkeitserklärung des Patienten, einen Aufnahmebogen und ein Foto des Patienten nach.

Die Beklagte lehnte die Erstattung der Behandlungskosten mit Bescheid vom 17. November 2011 ab. Zur Begründung verwies die Beklagte erneut darauf, dass der Patient bereits am 30. November 2008 unbekannt verzogen sei, und führte ergänzend aus, dass ihr wegen des unbekannten Aufenthaltsorts des Patienten "die Prüfung eines Anspruchs auf Krankenhilfe nach den Bestimmungen des § 48 SGB XII nicht möglich" sei.

Die Klägerin widersprach dem Ablehnungsbescheid vom 5. Oktober 2011 mit Schreiben vom 13. Oktober 2011 und dem Ablehnungsbescheid vom 17. November 2011 mit Schreiben vom 28. November 2011. Zur Begründung führte sie jeweils aus, dass der Patient keinen festen Wohnsitz habe. Nach eigenen Angaben halte er sich seit vier Jahren in H. auf und lebe vom Betteln und vom Flaschensammeln. Damit sei die Mittellosigkeit des Patienten hinreichend belegt.

Mit einheitlichem Bescheid vom 10. April 2012 (Az. der Beklagten: H/RA4/996/11 und H/RA4/1097/11) wies die Beklagte beide Widersprüche als unbegründet zurück. Sie führte aus, dass die Klägerin die Bedürftigkeit des Patienten nicht nachgewiesen habe. Es lägen keine Dokumente vor, die eine Prüfung seiner Einkommens- und Vermögenssituation, seiner Ausgabenlage und seines ausländerrechtlichen Aufenthaltsstatus ermöglichen würden. Da der Patient keine Anschrift habe, sei es auch nicht möglich, ihn zur Vorlage entsprechender Unterlagen oder zu einer Vorsprache aufzufordern. Darüber hinaus habe jedenfalls ab dem Zeitpunkt der Anmeldung des Patienten beim Sozialhilfeträger – konkret: ab dem 26. September 2011 bzw. dem 31. Oktober 20111 - keine Notlage mehr bestanden, sodass jedenfalls für die Zeit danach kein Kostenerstattungsanspruch bestehe.

Dagegen hat die Klägerin am 30. April 2012 beim erkennenden Gericht Klage erhoben (Az. S 52 SO 205/11), mit der sie ihr Begehren weiter verfolgt.

2. Am 10. März 2012 wurde der Patient nach Einlieferung durch den Rettungsdienst wiederum als Notfall aufgenommen und wurde bis zum 12. März 2012 von der Klägerin behandelt. Durch die Behandlung entstanden der Klägerin Kosten in Höhe von 2.496,25 Euro, deren Erstattung die Klägerin begehrt.

Die Klägerin meldete die Aufnahme des Patienten bei der Beklagten mit Telefax-Schreiben vom 10. März 2012 an und beantragte die Erstattung der Behandlungskosten. In der Folgezeit reichte sie eine Dringlichkeitsbescheinigung, die Mittellosigkeitserklärung des Patienten, einen Aufnahmebogen und ein Foto des Patienten nach.

Die Beklagte lehnte die Erstattung der Behandlungskosten mit Bescheid vom 19. März 2012 ab.

Die Klägerin widersprach dem Ablehnungsbescheid mit Schreiben vom 4. April 2012.

Mit Bescheid vom 6. Juli 2012 (Az. der Beklagten: H/RA4/330/12) wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Argumentation entsprach im Wesentlichen der des Widerspruchsbescheides vom 10. April 2012 zu den Az. H/RA4/996/11 und H/RA4/1097/11.

Dagegen hat die Klägerin am 27. Juli 2012 beim erkennenden Gericht Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren weiter verfolgt. Das Klagverfahren wurde hier anfänglich unter dem Az. S 52 SO 333/12 geführt, bevor es durch Beschluss vom 11. September 2011 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung mit der Sache S 52 SO 205/12 verbunden worden ist.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide vom 5. Oktober 2011 und vom 17. November 2011, beide in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. April 2012, sowie des Bescheides vom 19. März 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juli 2012 zu verpflichten, der Klägerin die Kosten der Behandlung des Patienten K. in der Zeit vom 24. September bis zum 15. Oktober 2011, vom 30. bis zum 21. Oktober 2011 und vom 10. bis zum 12. März 2012 in Höhe von insgesamt 7.094,11 Euro zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie trägt ergänzend vor, dass nicht geklärt sei, ob der Patient Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung habe. Diese seien im Verhältnis zu den Ansprüchen aus § 25 SGB XII vorrangig. Auch eine mögliche private Krankenversicherung sei nicht ausgeschlossen. Die Überprüfung des Krankenversicherungsschutzes eines Patienten sei generell Aufgabe der Klägerin. Dies habe die Klägerin nicht umgesetzt. Tatsächlich habe sie den Patienten gar nicht zu einem möglichen Krankenversicherungsschutz befragt.

Entscheidungsgründe:

Die Klage hat Erfolg. Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Erstattung der geltend gemachten Kosten. Die Beklagte ist daher unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide zur Kostenerstattung verpflichtet (vgl. § 54 Sozialgesetz – im Folgenden: SGG –).

Die Klägerin hat in allen drei hier in Rede stehenden Fällen gegen die Beklagte einen Anspruch auf vollständigen Aufwendungsersatz in Höhe der angefallenen und abgerechneten Behandlungskosten. Dieser stützt sich auf § 25 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (im Folgenden: SGB XII).

Diese Vorschrift bestimmt in Satz 1, dass jemandem, der in einem Eilfall einem Anderen Leistungen erbracht hat, die bei rechtzeitigem Einsetzen von Sozialhilfe nicht zu erbringen gewesen wären, die Aufwendungen in gebotenem Umfang zu erstatten sind, wenn er sie nicht auf Grund rechtlicher oder sittlicher Pflicht selbst zu tragen hat. Dies gilt nach Satz 2 allerdings nur, wenn die Erstattung innerhalb angemessener Frist beim zuständigen Träger der Sozialhilfe beantragt wird.

In allen drei Fällen lag bei der Einlieferung des Patienten unstreitig ein medizinischer Notfall vor, und die Anmeldung erfolgte zweifelsfrei in der Frist des § 25 Satz 2 SGB XII. Näher zu erörtern ist auf Tatbestandsebene daher nur die Frage der Bedürftigkeit des Patienten, die im Ergebnis zu bejahen ist (dazu sogleich 1). Die Anspruchshöhe ergibt sich aus den angefallenen Behandlungskosten (dazu 2).

1. Der Erstat¬tungs¬an¬spruch nach § 25 SGB XII setzt vor¬aus, dass der Not¬hel¬fer Leis-tun¬gen erbracht hat, die bei recht¬zei¬ti¬gem Ein¬set¬zen von Sozi¬al¬hilfe nicht zu erbrin¬gen gewe¬sen wären. Erstat¬tet wer¬den also nur die Leis¬tun¬gen, die der Trä¬ger der Sozi¬al¬hilfe bei recht¬zei¬ti¬ger Kennt¬nis gewährt haben würde. Der § 25 S. 1 ver¬langt also insoweit eine hypo¬the¬ti¬sche Betrach¬tung. Bei der Anwen¬dung der Norm ist zu unter¬stel¬len, der Bedarf wäre nicht dem Not¬hel¬fer, son¬dern dem ört¬lich und sach¬lich zustän¬di¬gen Trä¬ger der Sozi¬al-hilfe recht¬zei¬tig bekannt gewor¬den. Dann ist zu prü¬fen, ob der Trä¬ger der Sozi¬al¬hilfe die Leis¬tung gewährt haben würde (BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2002, Az. 5 B 89/01; ebenso LSG Pots¬dam, Urteil vom 29. November 2007, Az. L 23 SO 119/06). Das ist nur dann der Fall, wenn der Emp¬fän¬ger der Not¬hilfe im sozialhilferechtlichen Sinne bedürftig war (BVerwG, Urteil vom 30. Dezember 1996, Az. 5 B 202/95; LSG Pots¬dam a.a.O.). Zu den (hypo¬the¬ti¬schen) Leis¬tungs¬vor¬aus¬set¬zun¬gen gehört auch der Nachrang der Sozialhilfe, der auch in dieser Konstellation zu beachten ist.

a) Erster Anknüpfungspunkt für die Bedürftigkeit des Patienten ist die Mittellosigkeitserklärung, die er selbst abgegeben hat. Begründete Zweifel an deren Richtigkeit bestehen nicht.

b) Anhaltspunkte für vorrangig einzusetzendes Einkommen oder Vermögen sind im Falle des hier in Rede stehenden Patienten nicht vorhanden. Nach Maßgabe einer Notiz bei der Einlieferung war der alkoholkranke Patient "obdachlos ( ), sehr schläfrig, verwahrlost und verlaust." Dies spricht bei lebensnaher Betrachtung gegen das Vorhandensein von Vermögen oder Einkommen. Daraus folgt auch, dass seitens der Klägerin keine weiteren Nachforschungen zur Einkommens- und Vermögenssituation des Patienten angezeigt waren: Da das Kran¬ken-haus nicht über die Befug¬nisse und die Möglichkeiten eines Sozi¬al¬amts ver¬fügt, dür¬fen die Anfor¬de¬run¬gen an die Bedürftigkeitsprü¬fung nicht über¬zo¬gen wer¬den. Das Kran¬ken¬haus ist zur Überzeugung der Kammer jedenfalls dann nicht zu eige¬nen Nach¬for¬schun¬gen nach ver¬füg¬ba¬rem Ein¬kom¬men oder Ver¬mö¬gen des Pati¬en¬ten ver¬pflich¬tet, wenn es keine begründeten Zweifel an der Mittellosigkeit gibt (vgl. dazu OVG Lüne¬burg vom 11. Juni 2003, Az. 4 LB 583/02). So verhält es sich hier.

c) Neben dem Einkommen und dem Vermögen des Hilfeempfängers ist der Sozialhilfe auch eine gesetz¬li¬che Kran¬ken¬ver¬si¬che¬rung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V), die sog. "Bür¬ger¬ver¬si¬che-rung", vorrangig (SG Aachen, Urteil vom 13. Januar 2010, Az. S 19 SO 59/08). Ent¬schei-dend für die Bedürf¬tig¬keit kann demnach die Rea¬li¬sier¬bar¬keit von Ansprü¬chen aus einer gesetz¬li¬chen Kran¬ken¬ver¬si¬che¬rung im Zeit¬punkt des Ein¬tritts des Not¬falls sein.

Belastbare Anhaltspunkte dafür, dass der Patient Leistungen der Krankenversicherung in seinem Heimatland oder Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland in Anspruch nehmen könnte, sind nicht erkennbar. Ein Indiz dafür ist der Umstand, dass der Patient nach Einlassung der Beklagten bis 2013 keine Freizügigkeitsbescheinigung nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU hatte.

2. Wenn demnach die Voraussetzungen für eine Erstattung vorliegen, dann sind die Aufwendungen der Klägerin als Nothelferin im geltend gemachten Umfang zu erstatten. Der Anspruchsinhalt ist nach dem Wortlaut des § 25 SGB XII auf einen Aufwendungsersatz "in gebotenem Umfang" gerichtet. Der austenorierte Erstattungsbetrag ergibt sich aus der Summe der Behandlungskosten in den drei hier in Rede stehenden Fällen, die nach Auffassung des Gerichts inhaltlich nicht zu beanstanden und damit "geboten" sind.

Das Gericht weist darauf hin, dass ihm bei seiner Entscheidung das Urteil des BSG vom 18. November 2014 (Az. B 8 SO 9/13 R) nicht vorgelegen hat.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie folgt dem Ausgang des Verfahrens in der Sache.
Rechtskraft
Aus
Saved