L 7 AY 2834/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 16 AY 1212/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 AY 2834/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Wenn ursprünglich allein die Frage eines Anspruchs auf Rücknahme eines bestandskräftigen Bescheides gemäß § 44 SGB X streitgegenständlich war, kommt die Verurteilung eines anderen, für die Rücknahme des Bescheides unzuständigen Leistungsträgers zur Leistungsgewährung nach § 75 Abs. 5 SGG nicht in Betracht; der andere Leistungsträger ist daher nicht zu beizuladen.
2. Leistungen nach § 1a AsylbLG sind auf die Vorbezugszeit im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG in der vom 28.08.2007 bis 28.02.2015 geltenden Fassung nicht anzurechnen.
Die Berufung der Klägerin zu 2 wird als unzulässig verworfen. Die Berufungen der Kläger zu 1 und 3 bis 6 gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. Mai 2015 werden zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von sogenannten Analogleistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für die Zeit vom 1. Januar 2009 bis 28. Februar 2011 (Kläger zu 1, 3 und 6) bzw. bis zum 31. Oktober 2011 (Kläger zu 4 und 5).

Der Kläger zu 1 ist 1956 geboren. Er ist mit der in 1957 geborenen Klägerin zu 6 verheiratet. Die Klägerin zu 2 ist 1987, die Klägerin zu 3 in 1999, der Kläger zu 4 in 1989 und der Kläger zu 5 in 1983 geboren. Die Kläger zu 2 bis 5 sind die Kinder der Kläger zu 1 und 6. Die Kläger zu 1 bis 5 besitzen die Staatsangehörigkeit der Republik Armenien, die Klägerin zu 6 die Staatsangehörigkeit der Republik Aserbaidschan.

Die Kläger reisten in den Jahren 2000 bis 2001 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragten hier die Gewährung von Asyl. Ihre Asylanträge wurden abgelehnt. Die Abschiebung wurde in der Folgezeit immer wieder ausgesetzt.

Der Beklagte gewährte den Klägern für die Zeit ab August 2003 zunächst gekürzte Leistungen nach § 1a AsylbLG a.F. mit der Begründung, dass sie bei der Passbeschaffung nicht mitgewirkt hätten. Dabei kürzte er den Barbetrag nach § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG a.F. (Bescheid vom 1. Juli 2004).

Mit Bescheid vom 9. August 2005 gewährte der Beklagte den Klägern zu 1 bis 4 und 6 auch Leistungen nach § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG a.F. für Juli bis September 2005 unter Vorbehalt des Widerrufs, dass im verwaltungsgerichtlichen Verfahren festgestellt werde, dass die Kläger nicht an der Passbeschaffung mitgewirkt hätten. In den Folgebescheiden gewährte der Beklagte den Klägern ebenfalls Leistungen nach § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG für die Zeit bis April 2006, wiederum unter Vorbehalt des Widerrufs.

Mit Bescheid vom 8. Februar 2006 gewährte der Beklagte dem Kläger zu 5 ebenfalls Leistungen nach § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG a.F. für Oktober 2005 bis März 2006 unter dem Vorbehalt des Widerrufs, dass im verwaltungsgerichtlichen Verfahren festgestellt werde, dass er nicht an der Passbeschaffung mitgewirkt habe. Durch Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 15. Februar 2006 sind Klagen der Kläger zu 1 und 5 auf Erteilung einer Duldung als Ausweisersatz abgewiesen worden. Ein Widerruf der von Juli 2005 bis April 2006 bzw. von Oktober 2005 bis März 2006 unter Vorbehalt des Widerrufs gewährten Leistungen erfolgte nicht.

Ab April 2006 (Kläger zu 5) bzw. ab Mai 2006 (Kläger zu 1 bis 4 und 6) bis zum 7. April 2009 gewährte der Beklagte den Klägern erneut Leistungen nach § 1a AsylbLG a.F.

Gegen den Bescheid vom 1. Juli 2004 legten die Kläger zu 1 bis 3 und 6 erfolglos Widerspruch ein (Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 2006). Die hiergegen beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhobene Klage (S 4 AY 2708/06) wurde abgewiesen. Im Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) Stuttgart (L 7 AY 1580/07) schlossen die Beteiligten am 5. August 2009 einen Vergleich mit dem Inhalt, dass die Kläger an einer Expertenanhörung der Botschaft der Republik Armenien teilnehmen. Erkenne die Botschaft die armenische Staatsangehörigkeit der Kläger an, bezahle der Beklagte für die Zeit ab dem 1. November 2006 die bislang nicht gewährten Leistungen nach § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG a.F. Für die Zeit ab 8. April 2009 bewilligte der Beklagte den Klägern Leistungen nach § 3 AsylbLG a.F. Der Kläger zu 4 bezog keine Leistungen zwischen Januar und August 2008, der Kläger zu 5 keine Leistungen zwischen Juni und September 2010.

Mit Schreiben vom 10. Mai 2010 beantragten die Kläger zu 1 bis 4 und 6 die Erfüllung des Vergleichs vom 5. August 2009. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 16. September 2010 zunächst ab. Nach Widerspruchserhebung hob der Beklagte den angegriffenen Bescheid mit Bescheid vom 4. Januar 2012 auf und verwies die Kläger auf die Vorschriften der Vollstreckung (Schreiben vom 5. Januar 2012).

Am 27. Mai 2010 stellten die Kläger einen Asylfolgeantrag. Mit Bescheid vom 12. Oktober 2012 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Anträge der Kläger auf Anerkennung als Asylberechtigte ab, erkannte die Flüchtlingseigenschaft an und hob die Abschiebungsandrohung auf. Zur Begründung verwies es auf das Schreiben der armenischen Botschaft in Berlin, es könnten keine Ersatzpapiere ausgestellt werden, da nicht bestätigt werden könne, dass die Kläger armenische Staatsangehörige seien. Die Ablehnung der Anerkennung der armenischen Staatsangehörigkeit gehe wahrscheinlich auf die aserbaidschanische Volkszugehörigkeit der Klägerin zu 6 zurück und stehe mit dem Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan in Verbindung. Eine Einreiseverweigerung sei als politische Verfolgung zu werten. Es liege eine Änderung der Sach- und Rechtslage vor.

Am 18. Dezember 2012 stellten die Kläger einen Antrag auf Überprüfung der Leistungsbescheide ab 1. Januar 2009 bis 31. Oktober 2012 unter Auszahlung des Differenzbetrages zu den zu gewährenden Leistungen nach § 2 AsylbLG.

Der Beklagte änderte mit Bescheid vom 17. Juni 2013 die bewilligten Leistungen für die Zeit ab 1. Januar 2008 bis September 2009 insoweit ab, als er den Klägern zu 1 bis 3 und 6 für diese Zeit Leistungen nach § 3 AsylbLG bewilligte und ihnen die Differenzbeträge nachzahlte. Des Weiteren nahm der Beklagte die Bescheide über die Leistungsbewilligung ab 1. Januar 2012 bis 30. November 2012 zurück und bewilligte den Klägern zu 1 bis 3 und 6 Leistungen nach § 2 AsylbLG. Im Übrigen lehnte es den Antrag ab.

Der Beklagte änderte mit Bescheid vom 18. Juni 2013 die bewilligten Leistungen betreffend den Kläger zu 4 für die Zeit vom 1. September 2008 bis zum 30. April 2012 insoweit ab als er ihm nun höhere Leistungen nach § 3 AsylbLG bewilligte und den Differenzbetrag auszahlte. Außerdem nahm der Beklagte die Bescheide über die Leistungsbewilligung für die Zeit vom 1. September 2012 bis zum 30. November 2012 zurück und bewilligte dem Kläger zu 4 Leistungen nach § 2 AsylbLG.

Mit weiterem Bescheid vom 18. Juni 2013 betreffend den Kläger zu 5 änderte der Beklagte die bewilligten Leistungen für die Zeit vom 1. Januar 2008 bis 31. Mai 2010 sowie vom 1. Oktober 2010 bis zum 30. April 2012 insoweit ab, als er ihnen nunmehr höhere Leistungen nach § 3 AsylbLG bewilligte und ihnen den Differenzbetrag auszahlte. Außerdem nahm der Beklagte die Bescheide über die Leistungsbewilligung vom 1. Mai 2012 bis 30. November 2012 zurück und bewilligte dem Kläger zu 5 für diesen Zeitraum Leistungen nach § 2 AsylbLG.

Die Kläger erhoben gegen diese Bescheide Widerspruch, die der Beklagte mit Widerspruchsbescheiden vom 6. März 2014 und vom 12. Mai 2014 zurückwies. Nachdem die Kläger als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) anerkannt worden seien, sei von einer rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes nicht auszugehen. In den Ausgangsbescheiden sei der Beklagte irrtümlich und zu Gunsten der Kläger von einer vierjährigen Nachzahlungsfrist ausgegangen.

Hiergegen haben die Kläger zu 1 bis 3 und 6 am 7. April 2014 beim SG Klage (S 16 AY 1212/14) erhoben, die Kläger zu 4 und 5 jeweils am 13. Juni 2014 (S 16 AY 2030/14 und S 16 AY 2056/14). Das SG hat die drei Verfahren durch Beschluss vom 26. Februar 2015 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Die Kläger sind der Ansicht, die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft sei ein deklaratorischer Akt. Im Oktober 2012 habe das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lediglich anerkannt, was Jahre zuvor schon bestanden habe. Ab dem Zeitpunkt der Stellung des Folgeantrages seien sie Flüchtlinge. Somit hätten sie einen Anspruch auf die Gewährung von Analogleistungen nach dem AsylbLG. Im Übrigen ergebe sich ein Anspruch auf Leistungen nach § 3 AsylbLG für die Zeit ab dem 1. November 2006 aus der Erfüllung des vor dem Landessozialgericht geschlossenen Vergleichs.

Der Beklagte ist den Klagen unter Hinweis auf die Ausführungen in den Widerspruchsbescheiden entgegengetreten.

Das SG hat den Beklagten mit Urteil vom 19. Mai 2015 unter Abänderung des Bescheides vom 17. Juni 2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2014 und unter Abänderung der Bescheide vom 18. Juni 2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. Mai 2014 sowie unter Abänderung der Leistungsbescheide für die Zeit ab März 2011 (betreffend die Kläger zu 1 bis 3 und 6) sowie für die Zeit ab November 2011 (betreffend die Kläger zu 4 und 5) verurteilt, den Klägern zu 1 bis 3 und 6 Leistungen nach § 2 AsylbLG auch für die Zeit vom 1. März 2011 bis zum 31. Dezember 2011, dem Kläger zu 4 auch für die Zeit ab 1. November 2011 bis zum 31. August 2012 sowie dem Kläger zu 5 auch für die Zeit vom 1. November 2011 bis zum 30. April 2012 jeweils anstelle der bislang gewährten Grundleistungen nach § 3 AsylbLG zu gewähren. Im Übrigen hat das SG die Klagen abgewiesen. Gegenstand der Überprüfungsanträge der Kläger seien die Leistungen vom 1. Januar 2009 bis zum Oktober 2012. Den Klägern zu 1 bis 3 und 6 stünden unter Berücksichtigung der 48-monatigen Vorbezugszeit Leistungen nach § 2 AsylbLG für weitere zehn Monate, nämlich für die Zeit vom 1. März 2011 bis zum 31. Dezember 2011, dem Kläger zu 4 auch für die Zeit vom 1. November 2011 bis zum 31. August 2012 sowie dem Kläger zu 5 auch für die Zeit vom 1. November 2011 bis zum 30. April 2012 zu. Für die geltend gemachten Ansprüche ab Januar 2012 (Kläger zu 1 bis 3 und 6), ab September 2012 (Kläger zu 4) sowie ab Mai 2012 (Kläger zu 5) bestehe kein weiterer Anspruch als der den der Beklagte in den Ausgangsbescheiden bereits anerkannt habe. Für geltend gemachte Ansprüche vor dem 1. Januar 2011 sei zu beachten, dass der Nachzahlungsanspruch nach § 44 Abs. 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) auf zu Unrecht gewährte Leistungen einer vierjährigen Frist unterliege, die im Bereich des Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) auf ein Jahr begrenzt sei (§ 116a SGB XII). Die Ein-Jahres-Frist des § 116a SGB XII sei bei Leistungen nach dem AsylbLG entsprechend anwendbar, sofern – wie im vorliegenden Fall – der Antrag nach dem 31. März 2011 gestellt worden sei (Hinweis auf Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 26. Juni 2013 – B 7 AY 6/12 R). Dabei werde die nach § 116a SGB XII modifizierte Frist des § 44 Abs. 4 SGB XII nach den Sätzen 2 und 3 dieser Vorschrift von Anbeginn des Jahres angerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen werde bzw. der Antrag auf Überprüfung gestellt werde. Folglich könnten Nachzahlungen lediglich für die Zeit ab 1. Januar 2011 geltend gemacht werden. Aber auch für die Zeit ab 1. Januar 2011 bestünden keine weiteren Nachzahlungsansprüche über die oben genannten Zeiträume hinaus. Daran ändere auch nichts der von den Klägern gestellte Antrag auf Erfüllung des Vergleichs vom 8. August 2009 betreffend die Kläger zu 1 bis 4 und 6. Denn dieser Vergleich sei bislang gerade nicht erfüllt worden. Anhaltspunkte für eine Aussetzung nach § 114 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bestünden nicht. Insbesondere sei die armenische Staatsangehörigkeit gerade nicht von der Botschaft anerkannt worden, weshalb es überhaupt zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft gekommen sei. Sofern die Kläger sich darauf beriefen, dass die Anerkennung als Flüchtlinge durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge deklaratorische Wirkung habe, führe dies ebenfalls nicht zu einem anderen Ergebnis. Denn mit der Anerkennung als Flüchtlinge ende auch der Leistungsbezug nach dem AsylbLG. Vielmehr kämen Leistungen nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) oder des SGB XII in Betracht. Die Kläger begehrten mit ihrer Klage jedoch ausdrücklich Leistungen nach dem AsylbLG und hätten sich überdies auch nur an den für das AsylbLG sachlich zuständigen Leistungsträger gewandt.

Gegen das ihnen am 1. Juni 2015 zugestellte Urteil haben die Kläger am 29. Juni 2015 beim SG Berufung eingelegt. Das SG berücksichtige nicht, dass sie Flüchtlinge gemäß der GFK seien und die Flüchtlingsanerkennung auf den Zeitpunkt der Asylfolgeantragstellung zurückwirke. Sie seien armenische Staatsangehörige. Sie hätten am 27. Mai 2010 Asylfolgeanträge beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gestellt. Sie seien mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. Oktober 2012 rechtskräftig als Flüchtlinge gemäß GFK und § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz anerkannt worden. Die Anerkennung sei deklaratorisch. Im Oktober 2012 sei damit lediglich festgestellt worden, was Jahre zuvor schon bestanden habe. Sie seien ab dem 27. Mai 2010 Flüchtlinge gemäß der GFK. Ab diesem Zeitpunkt bestehe ein Rechtsanspruch auf die Gewährung von Leistungen gemäß AsylbLG in voller Höhe bzw. auf Gewährung von Leistungen gemäß SGB II. Ihnen könne nicht zugemutet werden, höchst vorsorglich bei der Asylfolgeantragstellung Anträge auf Gewährung von Leistungen gemäß AsylbLG in voller gesetzlicher Höhe bzw. Anträge auf Gewährung von Leistungen gemäß SGB II zu stellen. Hierzu sei der Ausgang des Asylfolgeverfahrens zu ungewiss. Ihnen sei für die Zeit vom 1. Januar 2009 bis zum 28. Februar 2011 (Kläger zu 1, 3 und 6) bzw. für die Zeit vom 1. Januar 2009 bis zum 31. Oktober 2011 (Kläger zu 4 bis 5) Leistungen nach AsylbLG in voller Höhe bzw. Leistungen gemäß SGB II nachzuzahlen.

Die Kläger beantragen (sinngemäß),

das Urteil des Sozialgericht Karlsruhe vom 19. Mai 2015 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 17. Juni 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2014 und unter Abänderung der Bescheide vom 18. Juni 2013 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 12. Mai 2014 und unter Abänderung entgegenstehender Leistungsbescheide den Klägern zu 1, 3 und 6 Leistungen ab dem 1. Januar 2009 bis zum 28. Februar 2011 und den Klägern zu 4 und 5 für die Zeit vom 1. Januar 2009 bis zum 31. Oktober 2011 jeweils höhere Leistungen nach § 2 AsylbLG in Verbindung mit den Vorschriften des SGB XII zu gewähren.

Der Beklagte beantragt sinngemäß,

die Berufungen zurückzuweisen.

Der Beklagte ist der Auffassung, dass es auf die Frage, ob die Flüchtlingsanerkennung ein deklaratorischer Akt sei und daher ab dem 27. Mai 2010 ein Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG in voller Höhe bzw. auf Leistungen nach dem SGB II bestehe, nicht ankomme. Sofern die Flüchtlingsanerkennung tatsächlich deklaratorisch sei, hätten die Kläger einen Anspruch auf Grundsicherung nach dem SGB II beim zuständigen Jobcenter geltend machen müssen. Eine auf den Zeitpunkt ab Stellung der Asylfolgeanträge rückwirkender Flüchtlingsanerkennung hätte zur Folge, dass die Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG erlösche. Mit der Flüchtlingsanerkennung werde den Klägern eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz erteilt. Diese sei im Tatbestand des § 1 AsylbLG nicht aufgeführt. Somit seien die Kläger grundsätzlich nach § 7 Abs. 1 SGB II anspruchsberechtigt. Die gegenüber dem SGB II subsidiären Leistungen des SGB XII kämen nicht in Betracht, da die Kläger weder die Altersgrenze des § 41 SGB XII erreicht hätten noch voll erwerbsgemindert seien. Die Kläger erhielten auch gegenwärtig Leistungen nach dem SGB II. Soweit der Auffassung der Kläger zu folgen sei, sei jedenfalls er – der Beklagte – der sachlich unzuständige Leistungsträger.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die beigezogenen Akten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaften und gemäß § 151 Abs. 1 und 2 SGG form- und fristgerecht eingelegten Berufungen der Kläger zu 1 und 3 bis 6, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte (§ 124 Abs. 2 SGG), sind auch im Übrigen zulässig. Sie bedurften insbesondere nicht der Zulassung nach § 144 Abs. 1 SGG, da die Kläger Leistungen für mehr als ein Jahr begehren (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Die Berufung der Klägerin zu 2 ist unzulässig, da mit der Berufung ausschließlich Ansprüche der Kläger zu 1 und 3 bis 6 geltend gemacht werden, so dass die Klägerin zu 2 nicht berufungsbefugt ist und ihre Berufung zu verwerfen war (vgl. § 158 Satz 1 SGG).

2. Unmittelbar streitgegenständlich sind noch der Bescheid des Beklagten vom 17. Juni 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2014 sowie die Bescheide vom 18. Juni 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Mai 2014, soweit der Beklagte damit die Rücknahme seiner Leistungsbescheide für die Zeit vom 1. Januar 2009 bis 28. Februar 2011 (Kläger zu 1, 3 und 6) bzw. für die Zeit vom 1. Januar 2009 bis 31. Oktober 2011 (Kläger zu 4 und 5) und die Gewährung höherer Leistungen abgelehnt hat. Nur diese Zeiträume sind noch streitgegenständlich, nachdem nur die Kläger zu 1, 3, 4, 5 und 6 und nur insoweit Berufung eingelegt haben; im Übrigen ist das Urteil des SG hinsichtlich dieser Kläger rechtskräftig geworden; hinsichtlich der Klägerin zu 2 ist das Urteil des SG insgesamt rechtskräftig geworden.

3. Die Berufungen der Kläger sind aber unbegründet. Soweit das SG die Klagen abgewiesen hat, geschah dies zu Recht. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Rücknahme der Leistungsbescheide für die streitgegenständlichen Zeiträume und Gewährung höherer Leistungen für die Zeit vom 1. Januar 2009 bis 28. Februar 2011 (Kläger zu 1, 3 und 6) bzw. für die Zeit vom 1. Januar 2009 bis zum 31. Oktober 2011 (Kläger zu 4 und 5).

a) Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht (§ 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X). Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird (§ 44 Abs. 4 Satz 2 SGB X). Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag (§ 44 Abs. 4 Satz 3 SGB X). Im Anwendungsbereich des SGB XII tritt seit dem 1. April 2011 gemäß § 116a SGB XII an die Stelle des Zeitraumes von vier Jahren ein Zeitraum von einem Jahr. Diese Norm ist im Anwendungsbereich des AsylbLG entsprechend anzuwenden (dazu eingehend BSG, Urteil vom 26. Juni 2013 – B 7 AY 6/12 R – juris Rdnr. 11 ff.).

Die Verwaltung hat schon eine Rücknahmeentscheidung nach § 44 Abs. 1 SGB X nicht mehr zu treffen, wenn die rechtsverbindliche, grundsätzlich zurückzunehmende Entscheidung keine Wirkungen mehr entfalten kann, also ausschließlich Leistungen für Zeiten betrifft, die außerhalb der durch den Rücknahmeantrag bestimmten Verfallsfrist liegen (BSG, Urteil vom 23. Februar 2017 – B 4 AS 57/15 R – juris Rdnr. 23). Die Unanwendbarkeit der Vollzugsregelung des § 44 Abs. 4 SGB X, also die nicht mehr vorhandene Möglichkeit einer rückwirkenden Erbringung von Sozialleistungen, steht dann auch einer isolierten Rücknahme eines rechtswidrigen Bescheides nach § 44 Abs. 1 SGB X entgegen (BSG, Urteil vom 26. Juni 2013 – B 7 AY 6/12 R – juris Rdnr. 10; BSG, Urteil vom 23. Februar 2017 – B 4 AS 57/15 R – juris Rdnr. 23 m.w.N.; Urteil des Senats vom 29. Juni 2017 – L 7 SO 4603/16 – n.v.).

b) aa) Nach diesen Maßstäben hat der Beklagte es in den streitgegenständlichen Bescheiden zu Recht abgelehnt, die Leistungsbescheide für die Zeit vom 1. Januar 2009 bis 31. Dezember 2010 zurückzunehmen, da die Kläger ihren Antrag auf Überprüfung dieser Bescheide erst am 18. Dezember 2012 gestellt haben, eine rückwirkende Leistungsgewährung also in entsprechender Anwendung des § 116a SGB XII i.V.m. § 44 Abs. 4 SGB X erst ab dem 1. Januar 2011 möglich ist.

bb) Indes besteht auch für die Zeit vom 1. Januar bis 28. Februar 2011 (Kläger zu 1, 3 und 6) bzw. für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Oktober 2011 (Kläger zu 4 und 5) kein Anspruch auf Rücknahme der Leistungsbescheide und auf Gewährung sog. Analogleistungen nach § 2 AsylbLG.

(1) Gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG in der hier anzuwendenden, vom 28. August 2007 bis 28. Februar 2015 geltenden Fassung, ist abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 48 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten haben und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Leistungen nach § 1a AsylbLG sind auf die Vorbezugszeit nicht anzurechnen (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 19. Juni 2007 – L 11 AY 59/06 – juris Rdnr. 24, 26 ff. m.w.N. aus der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung; Oppermann in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 2 AsylbLG Rdnr. 43 [Stand: 31. Oktober 2014]). Das BSG hat zwar unter ausdrücklicher Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R – juris Rdnr. 19 ff.) entschieden, dass auch Zeiten des Bezuges anderer Leistungen zur Erfüllung der Vorbezugszeit beitragen können (BSG, Urteil vom 28. Mai 2015 – B 7 AY 4/12 R – juris Rdnr. 24). Dies betraf indes Leistungen nach dem SGB II. Nach der ausdrücklichen Argumentation des BSG war entscheidend, dass Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip eine Auslegung ausschließe, die einen Bezug von höheren Leistungen als den Grundleistungen generell als Vorbezugszeit nicht ausreichen lasse; denn von einem nur vorübergehenden Aufenthalt und einer fehlenden Integration könne dann jedenfalls nicht mehr die Rede sein, wenn Leistungen bezogen würden, die der Gesetzgeber überhaupt erst im Falle eines verfestigten Aufenthalts gewähre (BSG, Urteil vom 28. Mai 2015 – B 7 AY 4/12 R – juris Rdnr. 24). Bei Leistungen nach dem § 1a AsylbLG sind diese Voraussetzungen hingegen gerade nicht erfüllt, weil es sich um niedrigere Leistungen als die Grundleistungen nach § 3 AsylbLG handelt, die zudem nicht erst im Falle eines verfestigten Aufenthaltes gewährt werden. In diesem Sinne hat das BSG auch formuliert, dass das Leistungsniveau gemäß § 1a AsylbLG nach Entstehungsgeschichte, Sinn und Zweck der Vorschrift und ihrem eindeutigen Wortlaut nicht mit dem in § 3 AsylbLG normierten Leistungsniveau gleichzusetzen sei (BSG, Urteil vom 12. Mai 2017 – B 7 AY 1/16 R – juris Rdnr. 22). Zudem gilt für Zeiten des Bezuges von Leistungen nach § 1a AsylbLG die Zielrichtung des § 2 Abs. 1 AsylbLG a.F., dass nur solche Ausländer in den Genuss von Leistungen auf Sozialhilfeniveau kommen sollen, die unverschuldet nicht ausreisen können (Begründung des Gesetzentwurfes der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen vom 8. November 2001, Bundestags-Drucksache 14/7387, S. 112; Oppermann in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 2 AsylbLG Rdnr. 43 m.w.N. [Stand: 31. Oktober 2014]), unverändert (zur Verfassungsmäßigkeit des § 1a AsylbLG siehe im Übrigen BSG, Urteil vom 12. Mai 2017 – B 7 AY 1/16 R – juris Rdnr. 27 ff.).

(2) Diese Voraussetzungen liegen bei den Klägern für die jeweils streitigen Zeiträume nicht vor. Die Kläger zu 1, 3 und 6 bezogen vom 1. Juli 2005 bis 30. April 2006 (zehn Monate) sowie ab dem 1. Januar 2008 Grundleistungen nach § 3 AsylbLG. Sie haben die Vorbezugszeit von 48 Monaten damit erst am 1. März 2011 erreicht, so dass für die Zeit davor kein Anspruch auf Analogleistungen bestand.

Der Kläger zu 4 bezog vom 1. Juli 2005 bis 30. April 2006 (zehn Monate) sowie ab dem 1. September 2008 Grundleistungen nach § 3 AsylbLG. Er hat die Vorbezugszeit von 48 Monaten damit erst am 1. November 2011 erreicht, so dass für die Zeit davor kein Anspruch auf Analogleistungen bestand.

Der Kläger zu 5 bezog vom 1. Oktober 2005 bis 31. März 2006 (sechs Monate), vom 1. Januar 2008 bis 31. Mai 2010 (29 Monate) sowie ab dem 1. Oktober 2010 Grundleistungen nach § 3 AsylbLG, so dass er die Vorbezugszeit von 48 Monaten erst am 1. November 2011 erreicht und für die Zeit davor keinen Anspruch auf Analogleistungen hatte.

c) Das Vorbringen der Kläger im Berufungsverfahren führt nicht zum Erfolg. Sie haben vorgebracht, dass ihre Anerkennung als Flüchtlinge gemäß GFK durch den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Oktober 2012 deklaratorischer Natur sei und sie daher schon seit dem 27. Mai 2010 – dem Tag, an dem sie Asylfolgeanträge gestellt haben – Flüchtlinge gemäß GFK seien und Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem AsylbLG in voller Höhe bzw. Anspruch auf Gewährung von Leistungen gemäß SGB II hätten.

Die Rückwirkung der Anerkennung als Flüchtlinge gemäß GFK auf den Tag der Asylantragstellung hätte zur Folge, dass die Kläger bereits ab dem 27. Mai 2010 keinen Anspruch gegen den Beklagten nach dem AsylbLG gehabt hätten. Flüchtlinge im Sinne des Art. 1 GFK erhalten eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz. Sie sind nicht nach dem AsylbLG leistungsberechtigt, sondern nach dem SGB II oder SGB XII (Frerichs in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 1 AsylbLG Rdnr. 65; vgl. auch BSG, Urteil vom 7. Mai 2009 – B 14 AS 41/07 R – juris Rdnr. 14). Im Falle der Kläger käme für den streitgegenständlichen Zeitraum allein eine Leistungsberechtigung nach dem SGB II in Betracht, weil die Kläger weder die nach § 41 Abs. 2 SGB XII maßgebliche Altersgrenze erreicht haben noch voll erwerbsgemindert waren. Über Leistungen nach dem SGB II hat der Beklagte aber in den Leistungsbescheiden für die hier streitgegenständlichen Zeiträume nicht entschieden; entsprechend waren solche Ansprüche auch nicht Gegenstand des von den Klägern angestrengten Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X.

c) Eine Beiladung des für Leistungen nach dem SGB II zuständigen Leistungsträgers war nicht vorzunehmen, denn dessen Verurteilung nach § 75 Abs. 5 SGG ist ausgeschlossen. Für die vorliegend allein zu entscheidende Frage, ob die Leistungsbescheide für die Zeit vom 1. Januar 2009 bis zum 28. Februar 2011 bzw. bis zum 31. Oktober 2011 zurückzunehmen sind, ist allein der Beklagte, nicht aber der SGB II-Leistungsträger zuständig. Die Frage der rückwirkenden Leistungsgewährung ist untrennbar mit der Frage des Anspruchs auf Rücknahme der bestandskräftigen Bescheide verknüpft (vgl. BSG, Urteil vom 26. Juni 2013 – B 7 AY 6/12 R – juris Rdnr. 10; BSG, Urteil vom 23. Februar 2017 – B 4 AS 57/15 R – juris Rdnr. 23 m.w.N.; Urteil des Senats vom 29. Juni 2017 – L 7 SO 4603/16 – n.v.); die Frage, ob Leistungsansprüche gegen andere Leistungsträger bestehen, kann schon deswegen nicht im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X über die Regelung des § 75 Abs. 5 SGG zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

4. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen. Insbesondere hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung, nachdem § 2 Abs. 1 AsylbLG in der hier anzuwendenden Fassung am 28. Februar 2015 außer Kraft getreten ist und § 2 Abs. 1 AsylbLG n.F. auf das Erfordernis einer Vorbezugszeit verzichtet.
Rechtskraft
Aus
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