L 6 VK 4011/17

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 13 VK 2177/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 VK 4011/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 5. September 2017 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte erstattet auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren.

Tatbestand:

Das beklagte Land B. (Beklagter) wendet sich mit seiner Berufung gegen seine Verurteilung zur rückwirkenden Gewährung einer Ausgleichsrente und eines Ehegattenzuschlags an ein in Polen lebendes Kriegsopfer ab dem Beitritt Polens zur Europäischen Union (EU).

Der Kläger ist 12. Oktober 1932 in der Stadt R. nordwestlich von G. (D.) geboren.

Diese Stadt hatte unter dem Namen "R." bis zum Jahre 1920 zur preußischen Provinz W. (Landkreis N.) gehört. Sie lag im Gebiet des "Polnischen Korridors", das das Deutsche Reicht auf Grund des Friedensvertrags von Versailles im Januar 1920 an die wieder gegründete Republik Polen abgetreten hatte. Nach der Besetzung Polens im Zweiten Weltkrieg annektierte das Deutsche Reich am 8. Oktober 1939 unter anderem auch das ehemalige W ... In den Annexionsgebieten wurde im März 1941 die so genannte "Deutsche Volksliste" eingeführt. Die dortigen Bewohner, die nach Ansicht der Besatzungsmacht deutsche Volkszugehörige ("Volksdeutsche") waren, konnten durch Eintragung die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben (vgl. BT-Drs. 12/2816 sowie Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Urteil vom 2. Mai 2001 – 1 C 18/99 –, juris, Rz. 15 ff., bezogen auf D.). Im Jahren 1955 erkannte die Bundesrepublik Deutschland mit dem Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit (StAngRegG) derartige Einbürgerungen u.U. an (vgl. im Einzelnen auch Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 22. Oktober 1998 – B 5 RJ 14/98 R –, juris, Rz. 19 ff.).

Die Eltern des Klägers betrieben in R. eine Schmiede. Nach der Besetzung durch das Deutsche Reich wurden sie - nach den späteren Angaben des Klägers im Verwaltungsverfahren 1978 - in die "Volksliste III" eingetragen. Sein Vater verstarb 1944. Am 1. Juni 1946 nahm der Kläger auf dem Hof seines Onkels in dem Dorf Z. (S., heute Stadtteil von R.) einen metallisch glänzenden Granatzünder, den er gefunden hatte, in die Hand. Dieser explodierte. Der Kläger wurde ab dem Unfalltag bis zum 27. August 1946 in der Chirurgischen Abteilung des Krankenhauses W. (N.) behandelt. Bei seiner Entlassung wurden als Diagnosen ein Zustand nach (Z.n.) Teilamputation der linken Hand in Folge von Quetschung bei Explosion eines Zünders und ein Z.n. Schussverletzung des Brustkorbs angegeben. Der Kläger schloss trotz später berichteter Schwierigkeiten beim Sprechen die Volksschule ab. Er arbeitete dann als Tischler. Bei einem Arbeitsunfall am 4. Juli 1952, bei dem ein aus der Säge geschleudertes Holzstück sein rechtes Auge verletzte, verlor er das Sehvermögen rechts. Aus einer 1964 geschlossenen Ehe gingen drei Kinder hervor.

Nachdem der Kläger in polnischen Medien von dem Polnisch-Deutschen Sozialversicherungsabkommen vom 9. Oktober 1975 gehört hatte, beantragte er am 6. Oktober 1977 (Eingang beim ehemaligen Versorgungsamt R.) Kriegsbeschädigtenversorgung. Nach Ermittlungen zu seiner deutschen Volkszugehörigkeit, der Schädigung durch den Granatzünder, den verbliebenen Gesundheitsschäden und zu den Einkommensverhältnissen des Klägers bewilligte ihm der Beklagte mit dem "Bescheid über eine Teilversorgung an Beschädigte" vom 23. Januar 1979 "nach § 64 Abs. 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG)" eine Versorgung in Höhe von DM 45,- ab dem 1. Oktober 1977. Aus den Verwaltungsakten ist erkennbar, dass der Kläger als Berechtigter nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 BVG in der damaligen Fassung ("Deutsche und deutsche Volkszugehörige, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in den zum Staatsgebiet des Deutschen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 gehörenden Gebieten östlich der O. oder im Ausland haben") eingestuft wurde, dass die Voraussetzungen einer mittelbaren Kriegsbeschädigung nach § 5 Abs. 1 Buchstabe e BVG ("nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben") und dass kein grobfahrlässiges Eigenverschulden angenommen wurden, das den Ursachenzusammenhang unterbrochen hätte. Der Kläger antwortete am 5. September 1979, bedankte sich umfassend für die Unterstützung und teilte mit, dass seine polnische Unfallrente - seiner Meinung nach wegen des Bezugs der deutschen Versorgungsrente - um die Hälfte gekürzt worden sei.

Die Teilversorgung des Klägers wurde mit Bescheiden vom 8. Oktober 1980 und vom 7. Juli 1988 erhöht, zuletzt auf DM 59,-. Ferner bewilligte der Beklagte ab 1985 in mehrjährigen Abständen Badekuren in der Klinik B ... In den Jahren dazwischen gewährte der damalige Landeswohlfahrtsverband W. dem Kläger Erholungskuren in anderen Kriegs-opfererholungseinrichtungen in B ... Für die Zeiten des Aufenthalts in der Bundesrepublik bewilligte der Beklagte dem Kläger jeweils die vollen Versorgungsleistungen. Während dieser Zeit gab er mehrfach Auskünfte über seine Einkommenssituation in Polen. Daraus ergab sich, dass er seit spätestens 1985 keine Erwerbseinkünfte mehr hatte, vielmehr von der Sozialversicherung der Republik Polen eine Rente von anfangs 23.160,- z&322; bezog (damals umgerechnet DM 159,-).

Am 14. Januar 1987 beantragte der Kläger die Höherbewertung der Schädigungsfolgen und die Umwandlung in eine Pflichtleistung. Der Beklagte veranlasste eine Begutachtung während einer Badekur des Klägers in einer Klinik in B ... Dabei wurde (Gutachten vom 30. November 1988) eine verbliebene Restbeweglichkeit (Faustschluss und Zangengriff zur Daumenkuppe möglich) festgestellt und vorgeschlagen, die MdE bei 40 v.H. zu belassen Jedoch meinte der Versorgungsärztliche Dienst des Beklagten, wegen der erheblichen Deformierung der linken Hand sei eine MdE von 50 v.H. anzunehmen, die wahrscheinlich schon bei Antragstellung angemessen gewesen sei. Der Beklagte nahm daraufhin mit Bescheid vom 31. Januar 1989 die bisherigen Bescheide teilweise zurück und bewilligte "gemäß § 64 Abs. 1 i.V.m. § 64e Abs. 1 Satz 1 BVG" ab dem 1. Januar 1983 eine Teilversorgung nach einer MdE (Minderung der Erwerbsfähigkeit, heute Grad der Schädigungsfolgen [GdS]) von 50 v.H. in Höhe von DM 71,- monatlich ab Januar 1983 und von DM 79,- ab Januar 1988. Diese Versorgung wurde in den folgenden Jahren regelmäßig erhöht. Auch in dieser Zeit absolvierte der Kläger Bade- bzw. Erholungskuren in Deutschland, so im Sommer 2006 in B., im Februar 2008 sowie im Juni 2009 in H ...

Am 1. Mai 2004 trat unter anderem Polen der EU bei.

Nachdem der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) mit Urteil vom 4. Dezember 2008 (Rs. Zablocka-Weyhermüller, Az. C-221/07) die einschränkenden Regelungen des deutschen Versorgungsrechts, insbesondere § 64e BVG und die Auslandsversorgungsverordnung (AuslVersV), soweit sie zu Lasten der Bürger anderer Mitgliedsstaaten (im konkreten Falle ebenfalls Polen) angewandt wurden, für unvereinbar mit Art. 18 Abs. 1 des (früheren) Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV, heute Art. 21 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union [AEUV]) erklärt hatte, teilte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) mit Rundschreiben vom 17. Juni 2009 den Landesversorgungsbehörden mit, das Urteil des EuGH sei zeitnah umzusetzen, und zwar rückwirkend auf den EU-Beitritt der fraglichen Länder, im Falle Polens also ab dem 1. Mai 2004. Diese (zügige) Neubescheidung mit Rückwirkung solle sich zumindest auf die einkommensunabhängigen Geldleistungen (z.B. die Grundrente) erstrecken. Für die einkommensabhängigen Leistungen (z.B. die Ausgleichsrente) müssten zum Teil umfangreiche Ermittlungen durchgeführt werden. Es sei davon auszugehen, dass "mögliche Berechtigte zur Stellung von Anträgen aufgefordert wurden (gemeint evtl.: "werden") und ( ) Leistungen bei Vorliegen der Voraussetzungen nach § 60 BVG beschieden werden". Mit dem Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften vom 20. Juni 2011 (BGBl. I S. 1114) hob der Bund mit Wirkung ab dem 1. Juli 2011 u.a. die einschränkenden Regelungen in § 64e BVG und die AuslVersV auf (vgl. BT-Drs. 17/5311, S. 22).

Im Herbst 2009 leitete der Beklagte von Amts wegen Verfahren zur Überprüfung der Versorgungsleistungen an Kriegsopfer mit Wohnsitz in Polen ein. Dem Senat ist aus mehreren Parallelverfahren bekannt, dass insoweit im November 2009 Bescheide über die Anpassung der Grundrente ergingen. Nach Aktenlage ist im Verfahren des Klägers ein solcher Bescheid aber nicht erlassen worden.

Mit Schreiben vom 30. Juli 2010 teilte der Beklagte dem Kläger mit, auf Grund "einer geänderten Rechtsauffassung" erhielten Versorgungsberechtigte in Polen nach § 64 BVG Versorgungsbezüge ( ) wie Berechtigte im Geltungsbereich des BVG. Danach fand sich der Hinweis: "Entsprechende einkommensabhängige Leistungen sind jedoch zu beantragen". Die Versorgungsangelegenheit müsse überprüft werden. Er werde "daher" gebeten, die (beigefügten) Fragen vollständig und sorgfältig zu beantworten und (den) polnischen Rentenbescheid ab 1. März 2010 und (den) letzten polnischen Rentenpostzahlabschnitt beizufügen. Die Begriffe "Rentenbescheid" und "Rentenpostzahlabschnitt" waren ins Polnische übersetzt. Wegen des genauen Wortlauts im Übrigen wird auf den Abdruck des genannten Schreibens verwiesen. Dem Beklagte war zu diesem Zeitpunkt bekannt, dass der Kläger vom 16. August bis zum 5. September 2010 eine weitere Erholungskur in H. absolvieren würde (vgl. Bewilligungsbescheid vom 8. Juni 2010).

Der Kläger übersandte den ausgefüllten Fragebogen zusammen mit Schreiben vom 9. August 2010, beim Beklagten am 20. August 2010 eingegangen, zurück. Er fügte die angeforderten Kopien der polnischen Rentenunterlagen bei. Weitere konkrete Erklärungen machte er hierbei nicht.

Daraufhin erließ der Beklagte den Bescheid vom 4. Oktober 2010. Darin führte er aus, die "monatlichen Versorgungsbezüge" des Klägers würden ab dem 1. Mai 2004 rückwirkend erhöht, die erhöhten laufenden Leistungen würden ab Dezember 2010 ausgezahlt. Er verwies auf einen beigefügten Berechnungsbogen in Tabellenform. Darin war ebenfalls nur von "Versorgungsbezügen" die Rede. Es ergab sich für die Zeit von Mai 2004 bis November 2011 eine Nachzahlung von EUR 673,00. Ab dem 1. Dezember 2012 würden laufend EUR 251,00 gezahlt. In der Begründung führte der Beklagte aus, die (bisherigen) Regelungen der Auslandsversorgung Ost seien mit Art. 18 EGV nicht vereinbar, weswegen die Regeln der Inlandsversorgung anzuwenden seien.

Auch in der Folgezeit absolvierte der Kläger Kuren in Deutschland. Weiterer Schriftwechsel zwischen ihm und dem Beklagten findet sich in den Akten nicht.

Am 15. September 2016 beantragte der Kläger über seinen jetzigen Prozessbevollmächtigten, der in Deutschland ansässig ist, die Gewährung einkommensabhängiger Versorgungsleistungen, nämlich einer Ausgleichsrente und des Ehegattenzuschlags. Nach seiner Ansicht ständen ihm diese Ansprüche nicht erst ab dem Tage der Antragstellung, sondern bereits ab dem EU-Beitritt Polens am 1. Mai 2004 zu. Der Kläger legte Unterlagen über seine in voller Höhe bezogene Altersrente und die um die Hälfte gekürzte Unfallrente wegen des Arbeitsunfalls des Jahres 1952 vor. Auf Anforderung des Beklagten reichte er am 28. Oktober 2016 den ausgefüllten Fragebogen zu seinen Einkommensverhältnissen (den er schon 20. August 2010 übersandt hatte) zur Akte.

Mit dem hier angefochtenen Bescheid vom 8. November 2016 bewilligte der Beklagte dem Kläger "Ihrem Antrag vom 15. September 2016 entsprechend" ab dem 1. September 2016 zu der weiterhin gewährten Grundrente von EUR 281,00 eine Ausgleichsrente von EUR 152,00 und einen Ehegattenzuschlag von EUR 80,00 im Monat. Es ergab sich eine Gesamtversorgung von EUR 513,00. In den Gründen erläuterte der Beklagte die Berechnung der beiden neu gewährten Leistungen. Zu ihrem Beginn führte er aus, nach den Vorgaben des BMAS seien einkommensabhängige Leistungen auf (bzw. ab) Antrag zu gewähren. Der Antrag des Klägers sei "am" 1. September 2016 eingegangen.

Der Kläger erhob am 18. November 2016 Widerspruch. Er machte geltend, die einkommensabhängigen Leistungen müssten bereits ab dem 1. Mai 2004, hilfsweise in analoger Anwendung des § 44 Abs. 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ab dem 1. Januar 2012 gewährt werden. Der Beklagte habe nach dem Urteil des EuGH die bis dahin gewährte Grundrente rückwirkend ab dem 1. Mai 2004 erhöht. Nichts anderes gelte für die nunmehr beantragten Leistungen. Diese seien den Berechtigten im Ausland nur deshalb nicht gewährt worden, weil man rechtsirrig davon ausgegangen sei, sie hätten keinen Anspruch darauf. Insoweit habe der Beklagte nach Erlass des Erstbescheids rechtsirrig keinen Hinweis auf die Möglichkeit zur Beantragung solcher Leistungen gegeben, jedenfalls keinen rechtskonformen. Dies wäre aber nach §§ 14 ff. Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) angezeigt gewesen. Eine rückwirkende Gewährung sei ein Gebot des Gleichbehandlungsgrundsatzes und des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 7. April 2017 zurück. Der für einkommensabhängige Leistungen notwendige Antrag sei erst am 15. September 2016 gestellt worden.

Mit Bescheid vom 20. April 2017, der eine Widerspruchsbelehrung enthält, setzte der Beklagte die Versorgungsbezüge des Klägers für die Zeit vom 1. September bis zum 31. Dezember 2016 nach § 64d Abs. 1 BVG endgültig fest.

Gegen den Bescheid vom 8. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. April 2017 hat der Kläger über seinen Prozessbevollmächtigten am 24. April 2017 Klage beim Sozialgericht S. (SG) erhoben. Er hat zusätzlich vorgetragen, auch aus dem Rundschreiben des BMAS sei nicht zu entnehmen, dass die Leistungen erst ab Antragstellung zu gewähren seien, vielmehr sei dort nur auf eine solche an sich hingewiesen. Ferner weise das Rundschreiben an anderer Stelle darauf hin, dass für zurückliegende Bewilligungszeiträume der jeweilige Jahresdurchschnitt des Wechselkurses zu Grunde zu legen sei. Daraus folge, dass eine rückwirkende Bewilligung ausdrücklich für möglich gehalten werde.

Mit im schriftlichen Verfahren getroffenen Urteil vom 5. September 2017 hat das SG der Klage in vollem Umfang stattgegeben und unter Abänderung der angegriffenen Bescheide den Beklagten verurteilt, dem Kläger auch für den Zeitraum vom 1. Mai 2004 bis 31. Januar 2017 eine Ausgleichsrente und einen Ehegattenzuschlag in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger habe bereits ab dem Beitritt Polens zur Europäischen Union Anspruch auf diese Leistungen, denn die entgegenstehenden Vorschriften seien nach dem Urteil des EuGH europarechtswidrig und deswegen nicht anzuwenden. Bei sachgerechter Auslegung habe der Kläger diese Leistungen bereits mit seinem Schreiben vom 9. August 2010 beantragt. Auch für die Zeit zuvor sei die Gewährung der Leistungen nicht aufgrund der Regelung des § 60 BVG beschränkt. Grundsätzlich seien zwar die Leistungen von einer Antragstellung abhängig, da der Kläger zuvor nur eine Grundrente bezogen habe und verschiedene Versorgungsleistungen besonders beantragt werden müssten. Insoweit liege aber ein unverschuldeter Rechtsirrtum des Klägers vor. Er habe auch innerhalb von 6 Monate nach Wegfall des Hinderungsgrundes seinen Antrag gestellt.

Gegen das am 11. Oktober 2017 zugestellte hat der Beklagte am 18. Oktober 2017 Berufung beim Landessozialgericht B. (LSG) eingelegt. Er hält daran fest, dass das am 9. August 2010 eingegangene Schreiben des Klägers bei korrekter Auslegung keinen Antrag auf einkommensabhängige Leistungen enthalten habe. Der Kläger sei jedoch am 30. Juli 2010 eindeutig und unmissverständlich auf die Möglichkeit einer Antragstellung hingewiesen worden. Vor dem Antrag (vom 15. September 2016) sei der Kläger auch nicht unverschuldet an einer Antragstellung gehindert gewesen. Ihm sei weiterhin der Publizitätsgrundsatz entgegenzuhalten. Hilfsweise werde die Einrede der Verjährung hinsichtlich einer Leistungsgewährung über vier Jahre zurück hinaus erhoben. Er stütze sich dabei auf eine analoge Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X. Selbst wenn das Schreiben vom 9. August 2010 ein Antrag gewesen sei, müsse eine rückwirkende Gewährung stärker zeitlich eingeschränkt werden. Auch in den Fällen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sei eine rückwirkende Leistung auf die vier Jahre vor dem Antrag beschränkt.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts S. vom 5. September 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Er verteidigt das angegriffene Urteil und führt ergänzend aus, in anderen Verfahren, in denen das SG nur für die vier Jahre vor ihrer Antragstellung zu Gunsten der Betroffenen entschieden habe, also für die auch aus Sicht des Beklagten unverjährte Zeit, habe der Beklagte keine Berufung eingelegt. Es sei unerfindlich, warum er seine Berufung hier nicht entsprechend beschränkt habe.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten ist nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Insbesondere war sie nicht nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulassungsbedürftig, weil der Beklagte zur Gewährung laufender Sozialleistungen für mehr als ein Jahr verurteilt worden ist (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Auch die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen liegen vor. Der Beklagte hat die Berufung in der einmonatigen Berufungsfrist des § 151 Abs. 1 SGG (das Urteil ist im Inland zugestellt worden) eingelegt.

Die Berufung ist aber nicht begründet. Zu Recht hat das SG auf die Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1, Abs. 4 SGG) hin die angegriffenen Bescheide teilweise aufgehoben und den Beklagten in Form eines Grundurteils nach § 130 Abs. 1 SGG verurteilt, Ausgleichsrente und Ehegattenzuschlag bereits ab dem 1. Mai 2004 zu gewähren.

Der Bescheid vom 20. April 2017 ist nicht nach § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Mit diesem Bescheid hat der Beklagte nur die Versorgungsbezüge des Klägers ab September 2016 endgültig festgesetzt. Der Kläger wendet sich mit seiner Klage aber nur gegen die Versagung von Ausgleichsrente und Ehegattenzuschlag für die Zeit bis Ende August 2016.

Die Klage ist zulässig. Insbesondere hat der Beklagte durch Verwaltungsakt über diese Leistungsarten bereits ab 1. Mai 2004 entschieden. Dabei ist Maßstab der Auslegung der "Empfängerhorizont" verständiger Beteiligter, die die Zusammenhänge berücksichtigen, welche die Behörde nach ihrem wirklichen Willen (§ 133 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB) erkennbar in ihre Entscheidung einbezogen hat (vgl. BSG, Urteil vom 29. Januar 2008 - B 5a/5 R 20/06 R -, juris, Rz. 11 m.w.N.). Der Kläger hatte am 15. September 2016 ausdrücklich eine Leistungsgewährung rückwirkend ab dem 1. Mai 2004 begehrt. Verständige Beteiligte durften dann die Bewilligung ab 1. März 2017 unter Hinweis auf das Antragsprinzip dahingehend verstehen, dass ein Anspruch für die Zeit davor abgelehnt wurde. Der Kläger konnte damit zudem berechtigterweise behaupten, hierdurch beschwert zu sein, weshalb die Klagebefugnis (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG) gegeben ist. Der Zeitraum ab 1. Mai 2004 war zudem Gegenstand des nach § 78 Abs. 1 SGG notwendigen Vorverfahrens.

Das beklagte Land ist passivlegitimiert. Die Versorgung der Opfer des Krieges nach dem 1950 in Kraft getretenen BVG obliegt spätestens seit dem In-Kraft-Treten des SGG 1954 den Ländern und nicht dem Bund (BSG, Urteil vom 10. November 1955 - 8 RV 237/54 -, juris, Rz. 34). Die Kostenträgerschaft folgt dabei der Verwaltungszuständigkeit (Knickrehm, in: Knickrehm, a. a. O., § 1 BVG, Rz. 15). Dies folgt aus dem Grundsatz des Art. 104a Abs. 1 Grundgesetz (GG). Eine Ausnahme nach § 104a Abs. 3 Satz 1 GG, wonach Gesetze des Bundes über Geldleistungen bestimmen können, dass der Bund die sich daraus ergebenden Ausgaben trägt, ist im BVG nicht vorgesehen. Verwaltungszuständig für die Ausführung des BVG ist nach § 3 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) grundsätzlich jene Verwaltungsbehörde, in deren Bezirk der Berechtigte seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von § 30 Abs. 3 Satz 1 oder 2 SGB I innehat. Für Berechtigte mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland bestimmt nach § 3 Abs. 5 KOVVfG das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) durch Rechtsverordnung, welche Verwaltungsbehörde zuständig und damit auch, welches Land der Kostenträger ist. Dies hat es mit der Verordnung über die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden der Kriegsopferversorgung für Berechtigte im Ausland (AuslZustV) in der Fassung vom 28. Mai 1991 (BGBl. I S. 1204) getan. Nach § 1 Buchstabe l AuslZustV sind dabei für Berechtigte in dem Teil Polens, der nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 zum Staatsgebiet des Deutschen Reiches gehört hatte (vgl. dazu auch Art. 116 Abs. 1 GG), wenn es sich um Beschädigte handelt, das Versorgungsamt M., bei Witwen, Witwer oder Waisen das Versorgungsamt G. und hinsichtlich Eltern das Versorgungsamt H. zuständig. Diese Regelung ist für den Kläger nicht einschlägig, da sein Wohnort R. (R.) im ehemals so genannten Polnischen Korridor liegt, der bereits seit 1920 Teil der Republik Polen ist. Daher greift hier die Zuständigkeit des Versorgungsamts R. - und damit die Kostenträgerschaft B.s - nach § 1 Buchstabe o AuslZustV für das gesamte übrige europäische Ausland ein.

Die Klage ist in vollem Umfang begründet. Die behördliche Ablehnung der Gewährung einer Ausgleichsrente und eines Ehegattenzuschlags für die Zeit vom 1. Mai 2004 bis zum 31. August 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Ihm stehen dem Grunde nach Ansprüche auf Ausgleichsrente und Ehegattenzuschlag zu. Er ist als deutscher Volkszugehöriger und ggfs. auch deutscher Staatsangehöriger (vgl. heute § 7 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 BVG) anspruchsberechtigt und als versorgungsberechtigtes Kriegsopfer im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 BVG anerkannt, wobei in seinem Falle eine nachträgliche Kriegseinwirkung im Sinne von § 5 Abs. 1 Buchstabe e BVG angenommen wurde. Sein Anspruch auf Ausgleichsrente stützt sich auf § 32 Abs. 1 BVG. Diese Leistung erhalten Schwerbeschädigte, also Geschädigte mit einem GdS von wenigstens 50 (bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13. Dezember 2007 [BGBl I S. 2904] am 21. Dezember 2007 als MdE bezeichnet), wenn sie infolge ihres Gesundheitszustands oder hohen Alters oder aus einem anderen von ihnen nicht zu vertretenden Grund eine zumutbare Erwerbstätigkeit nicht oder nur in beschränktem Umfang oder nur mit überdurchschnittlichem Kräfteaufwand ausüben können. Der Kläger ist auf Grund des Bescheids vom 31. Januar 1989 seit dem 1. Januar 1983 schwerbeschädigt mit einem GdS von 50. Seit seinem 60. Geburtstag im Oktober 1992 ist er wegen hohen Alters nicht mehr erwerbsfähig im Sinne einer Ausgleichsrente (vgl. zu dieser Altersgrenze die Verwaltungsvorschrift zum BVG [BVGVwV], Nr. 3 zu § 32, zitiert nach Dau, in: Knickrehm, a.a.O., § 32 BVG vor Rz. 1). Da der Kläger als Schwerbeschädigter verheiratet ist und ihm dem Grunde nach Ausgleichsrente zusteht, erhält er auch nach § 33a Abs. 1 Satz 1 den Ehegattenzuschlag. Gegen die Berechnung beider Leistungen in dem angegriffenen Bescheid hat keine Seite etwas eingewandt, sie ist auch nach § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht Gegenstand dieses Verfahrens.

Diese Ansprüche des Klägers auf einkommensabhängige Leistungen, hier konkret die Ausgleichsrente und den Ehegattenzuschlag, waren seit dem 1. Mai 2004 nicht mehr gesetzlich ausgeschlossen. Zwar hatten seine Ansprüche auf solche Teile der Versorgung, die nicht in § 64e Abs. 2 und 3 BVG genannt waren, nach § 64e Abs. 1 Satz 2 BVG geruht, weil er in der Republik Polen lebte, also einem der Länder Osteuropas, die in der nach § 64e Abs. 5 BVG vorgesehenen AuslVersV genannt waren. Diese Vorschriften galten zwar formal bis zu ihrer Aufhebung am 1. Juli 2011. Sie waren indes bereits zuvor europarechtswidrig. Dies steht auf Grund des Urteils des EuGH vom 4. Dezember 2008 (C-221/07, juris) fest. Dies galt im Verhältnis der BRD zur Republik Polen seit dem 1. Mai 2004, dem Wirksamwerden des Beitritts Polens zur Europäischen Union. Ab diesem Zeitpunkt griff der Anwendungsvorrang des europäischen Primärrechts, wonach entgegenstehendes Recht eines Mitgliedstaates außer Anwendung zu lassen ist (EuGH, Urteil vom 5. Februar 1963 - C-26/62 -, juris, S. 24 ff. [van Gend & Loos]). Die Ausnahmen von diesem Anwendungsvorrang europäischen Primärrechts, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in dem zu den Verträgen niedergelegten Integrationsprogrammen (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG) und in den durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG für integrationsfest erklärten Grundsätzen der Art. 1 und 20 GG liegen (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 21. Juni 2016 - 2 BvE 13/13 u. a. -, juris, Rz. 115), sind hier ersichtlich nicht betroffen. Bereits ab dem 1. Mai 2004 hätten also deutsche Sozialgerichte § 64e Abs. 1 Satz 2 BVG und § 1 AuslVersV nicht mehr anwenden dürfen, soweit dies zu Lasten der Betroffenen ging.

Der Beklagte konnte die beantragten Leistungen nicht mit der Begründung verweigern, der Kläger habe sie erstmals am 15. September 2016 beantragt.

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG beginnt die Beschädigtenversorgung mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen vorliegen, frühestens aber mit dem Antragsmonat. Dies gilt nach § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 BVG entsprechend, wenn eine höhere Leistung begehrt wird. Eine solche ist auch dann Gegenstand eines Antrags, wenn die Gewährung einer zusätzlichen, bislang nicht bezogenen Einzelleistung aus dem Versorgungsrecht begehrt wird (BVGVwV Nr. 2 zu § 60). Dies entspricht der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung, wonach verschiedenartige Versorgungsleistungen gesondert beantragt werden müssen (vgl. BSG, Urteil vom 29. Mai 1980 9 RV 18/79 –, juris, Rz. 17).

Diese mögliche Ausschlussregelung hinsichtlich bestehender Ansprüche ist nicht europarechtswidrig. Das nationale Verfahrensrecht der Mitgliedstaaten darf nach dem europarechtlich anerkannten Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip lediglich für die Menschen anderer Staaten nicht ungünstiger sein als für diejenigen des gewährenden Staates selbst (EuGH, Urteil vom 13. Juli 2006 - C-295/04 bis 298/04 u. a. -, juris, Rz. 76 ff. [Manfredi u. a.]) und nicht geeignet sein, die mit der Ausübung der durch die Rechtsordnung der EU verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (EuGH, Urteil vom 11. Juli 2002 - C-62/00 -, juris, Rz. 34 [Marks & Spencer]). Diese Einwände bestehen gegen § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG nicht. Die Norm gilt gleichermaßen für Inländer wie für im Ausland lebende Berechtigte. Sie macht die Ausübung der Rechte nicht unmöglich, vielmehr ist ein Antragserfordernis gerade bei den einkommensabhängigen Leistungen nach dem BVG sogar gerechtfertigt, da im Verwaltungsverfahren Ermittlungen zur Situation der Betroffenen erforderlich sind. In seinem Urteil vom 4. Dezember 2008 hat der EuGH darauf hingewiesen, dass die Notwendigkeit, eine hinreichende Kontrolle der beruflichen und sozialen Situation der Berechtigten zu ermöglichen, eine objektive Erwägung des Allgemeininteresses darstellt, die es rechtfertigen kann, dass die Freizügigkeit der Unionsbürger durch die Voraussetzungen oder die Modalitäten für die Zahlung von Leistungen berührt wird. Nur einen vollständigen Ausschluss der Leistungen wie nach dem früheren § 64e Abs. 1 Satz 2 BVG hat der EuGH für unverhältnismäßig gehalten (C-221/07, juris, Rz. 39 und 47).

Das Antragsprinzip in § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG ist gleichwohl sinnvoll und nicht schematisch zu handhaben (BSG, Urteil vom 28. Oktober 1975 - 9 RV 458/74 -, juris, Rz. 17). Maßgebend ist nicht die Ausdrucksweise, sondern der unter Berücksichtigung aller Umstände erkennbare Wille der Antragstellenden. Das Begehren ist als auf alle nach Lage des Falles in Betracht kommenden Leistungen gerichtet anzusehen (vgl. BSG, Urteil vom 29. Mai 1980 – 9 RV 18/79 –, juris, Rz. 17). Dies ergibt sich auch aus § 6 KOVVfG und insbesondere aus Nr. 1 der Verwaltungsvorschrift zu § 6 KOVVfG (KOVVfGVwV). Danach ist es nicht in erster Linie nach § 157 BGB aus der Sicht eines objektiven Erklärungsempfängers auszulegen, im Vordergrund steht der "recht verstandene Wille" der Antragstellenden nach § 133 BGB (vgl. Knörr, in: Knickrehm, a. a. O., § 60 BVG, Rz. 5).

Vor diesem Hintergrund war das Schreiben des Klägers vom 9. August 2010, bei dem Beklagten am 20. August 2010 eingegangen, ein Antrag auf einkommensabhängige Leistungen nach dem BVG. Der Beklagte selbst hatte mit dem Anschreiben vom 30. Juli 2010 darauf aufmerksam gemacht, dass einkommensabhängige Leistungen, die nunmehr "auf Grund einer geänderten Rechtsauffassung" - gemeint war das Urteil des EuGH - verlangt werden könnten, zu beantragen seien. Wenn der Beklagte dann in diesem Anschreiben Auskünfte zum Einkommen des Klägers und zu seinem Familienstand verlangte und der Kläger in dem übersandten Fragebogen diese Auskünfte auch gab, durfte der Beklagte die Antwort des Klägers vom 9. August 2010 nicht anders verstehen denn als Antrag auf diese Leistungen. Genau genommen hat der Beklagte mit seinem Anschreiben die Anforderung des BMAS in dem Rundschreiben vom 17. Juni 2009 umgesetzt, etwaige Berechtigte zur Stellung von Anträgen aufzufordern. Aus der Sicht eines Erklärungsempfängers ist nicht ersichtlich, wozu das Anschreiben des Beklagten vom 30. Juli 2010 sonst gedient haben könnte. Die Grundrente nach § 31 Abs. 1 BVG, die bislang - nur als Teilleistung - gewährt worden war, ist nicht einkommensabhängig. Und der Familienstand des Klägers war für diese Grundrente auch irrelevant.

Diesen Antrag hat der Beklagte in den folgenden Jahren nie beschieden. Anträge werden aber nicht durch einfache Nichtbearbeitung wirkungslos. Daher war der Antrag des Klägers vom 15. September 2016 genau genommen nur eine Nachfrage nach dem noch schwebenden Antrag. In jedem Falle aber hatte der Beklagte danach bereits auf der Basis des § 60 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 BVG ab dem 1. August 2010 dem Grunde nach Ausgleichsrente und Ehegattenzuschlag zu gewähren.

Auch für die Zeit vor diesem Antrag ist der Anspruch des Klägers allerdings nicht ausgeschlossen.

Nach § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 BVG beginnt eine beantragte höhere Leistung, wenn der Beschädigte ohne sein Verschulden an der Antragstellung gehindert war, mit dem Monat, von dem an die Verhinderung nachgewiesen ist, wenn der Antrag innerhalb von sechs Monaten nach Wegfall des Hinderungsgrundes gestellt worden ist. Diese Vorschrift entspricht in ihrem Anwendungsbereich den Regelungen über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung einer (allgemeinen) gesetzlichen Frist in § 27 Abs. 1 SGB X (Knörr, a.a.O., § 60 BVG Rz. 7). Bei der Frage, ob die Verzögerung der Antragstellung auf einem Verschulden des Antragstellers (oder seines gesetzlichen Vertreters) beruht, ist anders als im allgemeinen Zivilrecht kein objektiver Maßstab (vgl. § 276 Abs. 1 BGB) heranzuziehen. Es gilt vielmehr ein subjektiver, auf den individuellen Antragsteller bezogener Maßstab. Nach den ausdrücklichen Regelungen in der BVGVwV Nr. 3 zu § 60 i.V.m. Nr. 2 zu § 18 sind hierbei unter anderem der Geisteszustand, das Alter, der Bildungsgrad und die Geschäftsgewandtheit zu berücksichtigen. Rechtsunkenntnis an sich schließt ein Verschulden in diesem Rahmen nicht zwingend aus (BSG, Urteil vom 30. September 2009 – B 9 VG 3/08 R –, juris, Rz. 30). Die Verwaltung darf nach der ständigen Rechtsprechung auch der auch der Sozialgerichte davon ausgehen, dass jedem Bürger gesetzliche Bestimmungen nach ihrer Veröffentlichung bekannt sind. Insoweit gilt der Publizitätsgrundsatz. Im Übrigen bestehen im Sozialrecht für den Bürger vielfältige Möglichkeiten, sich über seine sozialen Rechte zu informieren (vgl. §§ 13 ff. SGB I). Die Medien weisen zudem regelmäßig auf den Inhalt neuer Gesetze hin (BSG, Urteil vom 15. August 2000 – B 9 VG 1/99 R –, juris, Rz. 13). Dabei reicht der Umstand, dass eine betreffende Person rechtsunkundig ist und aus einem fremden Sprach- und Kulturkreis stammt, für die Annahme höherer Gewalt als Entschuldigungsgrund für die Versäumung einer Frist nicht aus (BSG, Urteil vom 16. März 2016 – B 9 V 6/15 R –, Rz. 22). Die Forderung an einen Ausländer, der mit den einschlägigen deutschen Rechtsvorschriften nicht vertraut ist, sich zu erkundigen, verlangt dem Betroffenen auch aus verfassungsrechtlicher Sicht nichts Unzumutbares ab (BVerfG, Beschluss vom 22. Januar 1999 - 2 BvR 729/96 – juris, Rz. 36).

Hiernach kann dem Kläger nicht pauschal entgegengehalten werden, er habe auf Grund des Publizitätsgrundsatzes ab dem 1. Mai 2004 oder später vor dem 9. August 2010 wissen müssen, dass er nunmehr auch einkommensabhängige Leistungen beantragen konnte.

Der Senat lässt dabei an dieser Stelle offen, ob dieser Grundsatz überhaupt für Berechtigte im Ausland gilt. Die bisherige Rechtsprechung des BSG und des BVerfG hat den Publizitätsgrundsatz immer nur auf Bürger angewandt, die, soweit aus den veröffentlichten Entscheidungen ersichtlich, im Inland wohnhaft waren. Die ausländische Familie, mit der sich das Urteil des BSG vom 16. März 2016 im Verfahren B 9 V 6/15 R befasste, hatte bereits seit mehreren Jahren in der BRD gelebt und war in laufendem Kontakt mit deutschen Behörden, weswegen eine Obliegenheit zur Erkundigung angenommen wurde. Bereits zuvor wurde höchstrichterlich ausdrücklich auf die "Publizität im Inland" abgestellt, etwa nach der deutschen Wiedervereinigung auf die Kenntnis der Bevölkerung über sozialrechtliche Ansprüche im Beitrittsgebiet (vgl. BSG, Urteil vom 15. August 2000 - B 9 VG 1/99 R -, juris, Rz. 13). Der Kläger hat nie im Inland gelebt. Allenfalls wegen seines laufenden Leistungsbezugs konnte von ihm verlangt werden, sich über Rechtsänderungen in der BRD fortlaufend zu informieren, aber dann müssten die Fälle einer erstmaligen Beantragung (§ 60 Abs. 1 Satz 3 BVG) und eines Antrags auf höhere Leistungen (§ 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 BVG) unterschiedlich behandelt werden. Für eine solche Differenzierung bieten diese beiden Normenkomplexe indes keine ausreichenden Anhaltspunkte.

Jedenfalls im Falle des Klägers schließt der Publizitätsgrundsatz eine unverschuldete Rechtsunkenntnis nicht aus.

Dies gilt offenkundig für die Zeit bis zur Verkündung des Urteils des EuGH am 4. Dezember 2008. Hätte sich der Kläger, den beschriebenen Obliegenheiten folgend, beim Beklagten oder bei einer anderen rechtskundigen Stelle im In- oder Ausland erkundigt, hätte er die damals formal zutreffende Antwort erhalten, dass er keine Ansprüche habe. Aber auch ab der Bekanntgabe des EuGH-Urteils kann seine Rechtsunkenntnis nicht als schuldhaft angesehen werden. Es ist bereits zweifelhaft, dass in polnischen Medien gleichermaßen wie in Deutschland über dieses Urteil berichtet wurde, und selbst wenn, dürften die Auswirkungen auf die Versorgungsansprüche gegenüber dem deutschen Staat in Polen allenfalls in Fachzeitschriften erörtert worden sein. Unabhängig davon bezieht sich der Publizitätsgrundsatz auf erlassene Rechtsnormen, nicht ohne Weiteres auf verkündete Gerichtsentscheidungen. Es kam hinzu, dass § 64e Abs. 1 Satz 2 BVG, der den Ansprüchen des Klägers entgegenstand, nicht für nichtig erklärt worden ist, denn eine solche Entscheidungskompetenz kommt dem EuGH nicht zu. Es obliegt dem Mitgliedstaat, eine europarechtswidrige Norm aufzuheben. Es kann von einer Bürgerin oder einem Bürger generell nicht verlangt werden, sich in den Feinheiten des Rechts der Europäischen Union auszukennen und zu wissen, dass und ab wann die Gerichte eines Mitgliedstaates auf Grund des Anwendungsvorranges europäischen Primärrechts eine ihm ungünstige Norm nicht mehr anwenden werden. Hinzu kommt, dass das Urteil des EuGH eine Hinterbliebenenversorgung betraf und die dortige Berechtigte erst während des Leistungsbezugs von der BRD in die Republik Polen umgezogen war. Ausgehend davon, dass § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 BVG einen subjektiven Fahrlässigkeitsmaßstab begründet, konnte daher von dem Kläger nicht erwartet werden, bereits vor dem BMAS und dem Beklagten die Bedeutung dieses Urteils für sich zu erkennen und entsprechende Anträge zu stellen.

Die Aufhebung des § 64e BVG zum 1. Juli 2011 hat die unverschuldete Rechtsunkenntnis nicht beseitigt. Formal greift hier zwar der Publizitätsgrundsatz ein, da es um die Änderung einer gesetzlichen Vorschrift ging. Ob dies generell für Berechtigte im Ausland gilt, lässt der Senat dahinstehen. Im Falle des Klägers beendete diese Gesetzesänderung die unverschuldete Rechtskenntnis nicht. Es handelte sich um ein bloßes Aufhebungsgesetz. Welche Bedeutung die Aufhebung einer bislang anspruchshindernden Norm für den Anspruch selbst hat, welcher selbst nicht verändert wird, kann auch eine Bürgerin oder ein Bürger nicht ohne Weiteres erkennen. Insoweit treffen nach einer solchen Gesetzesänderung die zuständigen Sozialleistungsträger erhöhte Obliegenheiten zur Information und zu Hinweisen.

Ob das Schreiben des Beklagten vom 30. Juli 2010 die bis dahin unverschuldete Rechtsunkenntnis des Klägers beenden konnte, lässt der Senat in diesem Verfahren offen. Selbst wenn dies so war, so lag sein Antrag vom 20. August 2010 noch innerhalb der sechsmonatigen Frist, die § 60 Abs. 2 Satz 1 BVG ab dem Wegfall des Hinderungsgrundes einräumt.

Daher ist nur darauf hinzuweisen, dass der Hinweis auch aus Sicht des Senats nicht ausreichend war. Die Versorgungsverwaltung traf nach der Verkündung des Urteils und erneut nach der Aufhebung des § 64e BVG die Obliegenheit, ohne konkrete Nachfrage Berechtigter, also im Sinne einer Spontanberatung, Versorgungsberechtigte im Ausland zu informieren. Behördliche Informationen sind nach § 14 Satz 1 SGB I "spezifisch" und auch für Laien verständlich zu erteilen (BSG, Urteil vom 1. April 2004 - B 7 AL 52/03 R -, juris, Rz. 11). Dies gilt insbesondere im grenzüberschreitenden europäischen Verwaltungsverkehr. Der Senat weist an dieser Stelle auf die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, geändert durch deren Verordnung (EG) Nr. 988/2009 vom 16. September 2009, hin. Art. 76 Abs. 4 Unterabsatz 2 dieser VO bestimmt, dass "gemäß dem Grundsatz der guten Verwaltungspraxis" die Behörden des einen Mitgliedstaats Betroffenen, die in einem anderen Mitgliedsstaat wohnen, unter anderem alle erforderlichen Angaben zu übermitteln haben, damit jene ihre durch die Verordnung eingeräumten Rechte ausüben können. Zwar muss eine Behörde auch auf Grund dieser europarechtlichen Vorgabe im grenzüberschreitenden Verkehr ihre Hinweise grundsätzlich nicht in die Landessprache des Zielstaates übersetzen. Aber sie sollten zumindest nicht noch technischer und unverständlicher sein als im Verkehr mit Betroffenen im Inland, welche der deutschen Sprache ausreichend mächtig sind. Diese Obliegenheit des Beklagten zur verständlichen Information ergab sich auch aus dem Rundschreiben des BMAS vom 17. Juni 2009. Darin war sogar gefordert worden, dass mögliche Berechtigte zur Stellung von Anträgen aufgefordert werden sollen. Diesen Anforderungen genügte das Schreiben vom 30. Juli 2010, worin ausgeführt ist, dass einkommensabhängige Leistungen zu beantragen sind, nicht. Er war ohne Zusammenhang zum restlichen Text auf der ersten Seite unten untergebracht, in dem Bereich, in dem ansonsten die Zahlungsmodalitäten geregelt waren, also an unerwarteter Stelle. Eine Zeile davor hatte der Beklagte noch darauf hingewiesen, er werde über die weiteren einkommensunabhängigen Leistungen noch von Amts wegen entscheiden. Dieser kleine Unterschied in den Begriffen war leicht zu überlesen. Vor allem aber war nicht erkennbar, was mit der Aussage, es sei ein Antrag zu stellen, gemeint war. Es fehlte jeder Hinweis auf die nach § 60 Abs. 2 BVG drohenden Rechtsverluste, also darauf, dass einkommensabhängige Leistungen erst ab einer Antragstellung bewilligt werden können. Nach Ansicht des Senats hätte der Beklagte die nunmehr möglicherweise zustehenden Leistungen, insbesondere die Ausgleichsrente, sogar deutlich benennen müssen. Selbst das BMAS hielt in seinem Rundschreiben vom 17. November 2009 dazu an, Berechtigte wie den Kläger direkt zur Antragstellung aufzufordern. Die weiteren Ausführungen in dem Schreiben klärten die Lage ebenfalls nicht. Das Urteil des EuGH, das Auslöser der Neuberechnung war, hatte der Beklagte darin nicht genannt, stattdessen eine "geänderte Rechtsauffassung". Dem Kläger war es daher nicht möglich herauszufinden, was hiervon betroffen war und welche Folgen daraus zu ziehen waren. Unerheblich ist indes, dass das Schreiben auf Deutsch verfasst war. Aus der Korrespondenz zwischen den Beteiligten ist erkennbar, dass der Kläger hinreichend der deutschen Sprache mächtig war. Unabhängig hiervon ist die Amtssprache nach § 19 Abs. 1 SGB X Deutsch. Als Ausnahme hiervon bestimmt Art. 76 Abs. 7 der VO Nr. 883/2004 lediglich, dass die Behörden eines Mitgliedstaates im grenzüberschreitenden Verkehr Schriftstücke in einer der anderen Amtssprachen der EU nicht zurückweisen dürfen.

Der Anspruch des Klägers bestand auch nicht wegen § 44 Abs. 4 SGB X lediglich ab dem 1. Januar 2006, also bis zu Jahre vor Beginn des Jahres, in dem der Antrag gestellt wurde. In direkter Anwendung erfasst diese Ausschlussregelung nur Leistungsansprüche, über die schon einmal entschieden worden ist, wenn der entsprechende Bescheid zugunsten der Berechtigten nach § 44 Abs. 1 oder § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen wurde. Dementsprechend kann § 44 Abs. 4 SGB X angewandt werden, wenn ein schon ergangener Bescheid nach dem BVG in einem Zugunstenverfahren zurückgenommen wird (Bayerisches LSG, Urteil vom 28. Juni 2017 - L 15 VG 16/11 -, juris, Rz. 41). Über die Ansprüche des Klägers auf eine Ausgleichsrente und einen Ehegattenzuschlag hatte der Beklagte aber vor Eingang des Antrags vom 10. August 2010 noch nicht entschieden. § 44 Abs. 4 SGB X kann auch nicht in analoger Anwendung oder als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes in den Fällen des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 BVG angewendet werden. Diese Frage war in der früheren Rechtsprechung der Sozialgerichte durchaus umstritten (vgl. die Nachweise bei LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 27. Januar 2005 - L 13 VG 5/03 -, juris, Rz. 33). Inzwischen ist höchstrichterlich klargestellt, dass § 44 Abs. 4 SGB X nach § 37 Abs. 1 SGB I durch § 60 Abs. 2 BVG verdrängt wird, wozu sich das BSG auf überzeugende Erwägungen der Gesetzesentwicklung und der Privilegierung der Berechtigten nach dem BVG gegenüber dem allgemeinen Sozialverwaltungsverfahrensrecht bezogen hat (BSG, Urteil vom 2. Oktober 2008 - B 9 VH 1/07 R -, SozR 4-3100 § 60 Nr. 4, Rz. 61 f.). Eine entsprechende Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X wird dabei nicht generell abgelehnt, vielmehr kann ein solcher Grundsatz etwa im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches herangezogen werden (BSG, Urteil vom 27. März 2007 - B 13 R 58/06 R -, SozR 4-1300 § 44 Nr. 9, Rz. 19). Ist hingegen eine eindeutige gesetzliche Regelung vorhanden, kann diese nicht durch die entsprechende Anwendung einer ausdrücklich für unanwendbar erklärten Norm umgangen werden (BSG, Urteil vom 2. Oktober 2008 - B 9 VH 1/07 R -, SozR 4-3100 § 60 Nr. 4, Rz. 63). Hinzu kommt eine grundsätzliche Erwägung, die gegen die analoge Anwendung dieser Norm spricht. Es fehlt bereits an der vom Gesetzgeber unbewusst zurückgelassenen Regelungslücke. Auch wenn § 44 Abs. 4 SGB X nicht analog angewandt wird, so kann der Träger der Versorgungsverwaltung die Verjährungseinrede nach § 45 SGB I erheben. Danach beschränkt sich seine Leistungspflicht auch in den Fällen, in denen er für Zeiten vor dem Antragsmonat leisten muss, auf die vier Kalenderjahre vor Eingang des Antrags. Dass Versorgungsansprüche auch in den Fällen des § 60 BVG verjähren, ist unbestritten (vgl. BSG, Urteil vom 5. Mai 1993 – 9/9a RV 12/92 –, juris, Rz. 10; ebenso LSG Berlin-Bran¬denburg, Urteil vom 21. Januar 2015 – L 13 VH 5/13 –, juris, Rz. 39 ff.). Eine Verjährung kann insbesondere dann Platz greifen, wenn - wie hier - die materiell weiterreichende Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 SGB X weder direkt noch analog anzuwenden ist. Auch das BSG hat in dem Urteil vom 2. Oktober 2008 - nach der Ablehnung einer Analogie zu § 44 Abs. 4 SGB X - ausdrücklich auf die Möglichkeit einer Verjährung hingewiesen (a.a.O., Rz. 65). Voraussetzung dafür ist nur, dass die Verjährungseinrede rechtzeitig erhoben wird und die für sie angebrachten Ermessenserwägungen des Sozialleistungsträgers ausreichen (vgl. BSG, Urteil vom 5. Mai 1993 – 9/9a RV 12/92 –, juris, Rz. 14).

Schließlich kann der Beklagte den Ansprüchen des Klägers auch nicht die Einrede der Verjährung entgegenhalten.

Nach § 45 Abs. 1 SGB I verjähren Ansprüche auf Sozialleistungen in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind. Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten nach § 45 Abs. 2 SGB I die Vorschriften der §§ 199 ff. BGB entsprechend. Darüber hinaus wird die Verjährung auch durch einen schriftlichen Antrag auf die Sozialleistung oder einen entsprechenden Widerspruch gehemmt, diese Hemmung endet sechs Monate nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Antrag oder den Widerspruch (§ 45 Abs. 3 Sätze 1 und 2 SGB I).

Hiernach kann sich der Kläger nicht darauf berufen, die Verjährungsfrist habe erst begonnen, nachdem er Kenntnis von der neuen Rechtslage und ihren möglichen Ansprüchen auf einkommensabhängige Leistungen erworben habe. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB, wonach die Verjährung erst beginnt, wenn der Gläubiger Kenntnis von der Person des Schuldners und den anspruchsbegründenden Umständen hat, greift hier nicht ein. Zum einen erfasst diese Norm schon zivilrechtlich nicht die rechtliche Beurteilung der tatsächlichen Umstände, die der Geschädigten bekannt waren. Und zum anderen regelt § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB den Beginn der Verjährung, gehört also nicht zu denjenigen Normen, die nach § 45 Abs. 2 SGB I im Sozialrecht anwendbar sind (Bayerisches LSG, Urteil vom 19. März 2014 – L 16 AS 613/13 –, juris, Rz. 24; Rolfs in: Hauck/Noftz, SGB, 07/17, § 45 SGB I, Rz. 18).

Ferner ist die Verjährungseinrede hier nicht von vornherein wegen unzulässiger Rechtsausübung (§ 242 BGB) ausgeschlossen. Ein solcher Ausschluss könnte sich auf einen Verstoß gegen Treu und Glauben nur dann stützen, wenn diese sich aus dem Verhalten des Beklagten selbst ergibt und nicht aus dem Dritter. Es müsste sich außerdem um eine besonders krasse Pflichtverletzung handeln (BSG, Urteil vom 22. Oktober 1996 – 13 RJ 17/96 –, juris, Rz. 31). Dafür ist nichts ersichtlich.

Die Erhebung der Verjährungseinrede durch den Beklagten im Berufungsverfahren ist jedoch rechtswidrig und daher unbeachtlich. Die Erhebung der Verjährungseinrede durch einen Sozialleistungsträger setzt regelmäßig die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens voraus (ständige Rechtsprechung, BSG, Urteil vom 26. Mai 1987 – 4a RJ 49/86 –, juris, Rz. 23; zuletzt 31. März 2015 – B 12 AL 4/13 R – SozR 4-2400 § 27 Nr. 6 Rz. 33). Der Sozialleistungsträger muss zunächst entscheiden, ob und ggfs. für welche Zeiträume er diese Einrede überhaupt erheben will (BSG, Urteil vom 5. Mai 1993 – 9/9a RV 12/92 –, juris, Rz. 10 f.). Sodann hat er auch die Gründe für seine Entscheidung nach § 35 Abs. 2 SGB X in dem Bescheid, mit dem die Leistungen für zurückliegende Zeit versagt werden, zu nennen (BSG, Urteil vom 22. Oktober 1996 – 13 RJ 17/96 –, Rz. 33). Eine Nachholung von Ermessenserwägungen in einem bereits laufenden Gerichtsverfahren (vgl. § 41 Abs. 1 und Abs. 2 SGB X) ist dabei zumindest dann unzulässig, wenn in dem angefochtenen Bescheid selbst überhaupt keine Ermessenserwägungen enthalten waren und wenn - gerade in Fällen wie hier - die Verjährungseinrede in dem Bescheid überhaupt noch nicht erhoben war (LSG H., Urteil vom 14. Juli 2004 – L 1 RJ 40/03 –, juris, Rz. 25). Anderenfalls kann sich der Betroffene nicht ausreichend mit den Gründen der Leistungsverweigerung auseinandersetzen.

Solche Ermessenserwägungen finden sich in dem angegriffenen Bescheid des Beklagten vom 8. November 2016, mit dem die rückwirkende Gewährung der Ausgleichsrente und des Ehegattenzuschlags abgelehnt worden sind, nicht. Auch der Widerspruchsbescheid vom 7. April 2017 enthält keine Ermessenserwägungen. In beiden Bescheiden ist nicht einmal auf die Einrede der Verjährung hingewiesen worden. Tatsächlich hat der Beklagte die Verjährungseinrede erst im Berufungsverfahren erhoben. Auch in seinem Schriftsatz vom 15. November 2017 finden sich keine begründeten Ermessenserwägungen. Insofern muss die Verjährungseinrede des Beklagten im konkreten Falle unbeachtlich bleiben.

Aus diesen Gründen war die Berufung des Beklagten gegen das in vollen Umfang zusprechende Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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