L 3 AS 590/17 NZB

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 17 AS 2833/16
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AS 590/17 NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zur Frage, ob vor Einführung von § 41a Abs. 5 SGB II zum 1. August 2016 hinsichtlich der dem Leistungsträger für eine abschließende Entscheidung gesetzten Frist eine "planwidrige Regelungslücke" vorgelegen hat, die durch die analoge Anwendung von § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X zu schließen gewesen wäre.
I. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 9. Mai 2017 wird zurückgewiesen.

II. Kosten sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

III. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe:

I.

Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 9. Mai 2017.

Der alleinstehende Kläger geht einer selbständigen Tätigkeit nach. Mit Bescheiden vom 15. Juni 2010 (Bewilligungszeitraum 1. Juli 2010 bis 31. Dezember 2010), 14. Dezember 2010 (Bewilligungszeitraum 1. Januar 2011 bis 30. Juni 2011) und 6. März 2012 (Bewilligungszeitraum 1. April 2012 bis 30. September 2012) bewilligte der Beklagte ihm Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II), im Hinblick auf noch nicht feststehende Einnahmen und Ausgaben aus der selbständigen Tätigkeit vorläufig. Zu den genannten Bewilligungszeiträumen legte der Kläger abschließende Angaben über seine Einkommensverhältnisse in den Jahren 2011 und 2012 vor.

Mit Bescheiden vom 10. Mai 2016 setzte der Beklagte die Leistungen für die Bewilligungszeiträume endgültig fest. Es ergaben sich Überzahlungen in Höhe von 264,90 EUR (= 6 x 44,15 EUR), 38,95 EUR und 11,22 EUR, deren Erstattung der Beklagte forderte. Den Widerspruch vom 17. Mai 2016 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 2016 zurück.

Die Klage vom 23. Juni 2016, mit der der Kläger eine entsprechende Anwendung der Ausschlussfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 des Sozialgesetzbuches Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) auf den Erstattungsanspruch nach § 328 Abs. 3 Satz 2 des Sozialgesetzbuches Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) begehrt hatte, hat das Sozialgericht mit Urteil vom 9. Mai 2017 abgewiesen. Der Erstattungsanspruch scheitere nicht daran, dass die angegriffenen Bescheide nicht innerhalb eines Jahres seit Kenntnis des Beklagten von den tatsächlich erzielten Einnahmen aus selbständiger Tätigkeit erlassen worden seien. Die Jahresfrist nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X sei nicht auf den Erstattungsanspruch nach § 328 Abs. 3 Satz 2 SGB III anwendbar. Das Sozialgericht hat den Wert des Beschwerdegegenstandes mit 315,07 EUR beziffert und die Berufung nicht zugelassen.

Gegen das ihm am 15. Mai 2017 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde vom 12. Juni 2017. In den Fällen der vorläufigen Leistungsfestsetzung habe, soweit eine Frist zur endgültigen Festsetzung nicht ausdrücklich normiert gewesen sei, bis zum Inkrafttreten der Regelung des § 41a Abs. 5 SGB II eine planwidrige Regelungslücke vorgelegen, die für alle zeitlich davorliegenden Fälle durch analoge Anwendung von § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X zu schließen sei. Im Ergebnis sei das Sozialgericht rechtsfehlerhaft zu dem Ergebnis gelangt, dass keine Frist anzuwenden sei. Darin liege zunächst ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel. Die Berufung sei auch zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe. Jobcenter in ganz Deutschland hätten in sehr großem Umfang von der Möglichkeit vorläufiger Festsetzungen Gebrauch gemacht.

Der Kläger beantragt,

die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 9. Mai 2017 zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Zulassungsgründe nach § 144 Abs. 2 SGG lägen nicht vor.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt des beigezogenen Verwaltungsvorgangs sowie der Gerichtsakten beider Instanzen verwiesen.

II.

1. Die Beschwerde gemäß § 145 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts vom 15. Oktober 2015 ist zulässig, insbesondere statthaft.

Gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung im Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 EUR nicht übersteigt. Ein auf eine Geldleistung gerichteter Verwaltungsakt ist nicht nur gegeben, wenn eine Leistung bewilligt wird, sondern auch, wenn eine Leistung abgelehnt, entzogen, auferlegt, erlassen oder gestundet wird (vgl. BSG, Urteil vom 19. Januar 1996 – 1 RK 18/95SozR 3-1500 § 158 Nr. 1 = NZS 1997, 388 ff. = juris Rdnr. 18; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz [12. Aufl., 2017], § 144 Rdnr. 10a). § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Vorliegend wehrt sich der Kläger gegen eine sich aus drei Einzelbeträgen zusammensetzende Erstattungsforderung des Beklagten in Höhe von insgesamt 315,07 EUR. Der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt damit 750,00 EUR bei weitem nicht. Es sind auch nicht wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr im Streit. Zwar liegen dem Rechtsstreit drei Bewilligungszeiträume zu je sechs Monaten zugrunde. Der Kläger hatte sich aber gegen endgültige Festsetzung und Erstattungsbegehren nur hinsichtlich der Zeiträume gewandt, für die Erstattungsforderungen geltend gemacht werden. Überzahlungen hat der Beklagte für den Zeitraum vom 1. Juli 2010 bis zum 31. Dezember 2010 (sechs Monate) sowie für den Zeitraum vom 1. Februar 2011 bis zum 28. Februar 2011 (ein Monat) und vom 1. September 2012 bis zum 30. September 2012 (ein Monat) festgestellt. Die Klage betraf damit Leistungen für weniger als ein Jahr. Dies gilt auch für die Berufung.

Das Sozialgericht hat die nach alldem zulassungsbedürftige Berufung nicht zugelassen. Damit ist die Nichtzulassungsbeschwerde das zutreffende Rechtsmittel.

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist jedoch nicht begründet.

Nach § 144 Abs. 2 SGG ist die Berufung zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nummer 1), das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nummer 2) oder ein an der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (Nummer 3).

Keiner dieser Zulassungsgründe ist gegeben.

a) Die Rechtssache besitzt keine grundsätzliche Bedeutung.

Eine Rechtssache hat dann im Sinne von § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG grundsätzliche Bedeutung, wenn die Streitsache eine bisher nicht geklärte Rechtsfrage aufwirft, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die weitere Entwicklung des Rechts zu fördern. Ein Individualinteresse genügt hingegen nicht (vgl. Leitherer, a. a. O., § 144 Rdnr. 28). Die entscheidungserhebliche Rechtsfrage muss klärungsbedürftig und klärungsfähig sein (vgl. BSG, Beschluss vom 16. November 1987 – 5b BJ 118/87SozR 1500 § 160a Nr. 60 = juris Rdnr. 3; BSG, Beschluss vom 16. Dezember 1993 – 7 BAr 126/93SozR 3-1500 § 160a Nr. 16 = juris Rdnr. 6; ferner Leitherer, a. a. O., § 144 Rdnr. 28 f. und § 160 Rdnr. 6 ff.). Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage dann nicht mehr, wenn sie schon entschieden ist oder durch Auslegung des Gesetzes eindeutig beantwortet werden kann (vgl. BSG, Beschluss vom 30. September 1992 – 11 BAr 47/92SozR 3-4100 § 111 Nr. 1 Satz 2 = juris Rdnr. 8). Zur Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage muss die abstrakte Klärungsfähigkeit, das heißt die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung, und die konkrete Klärungsfähigkeit, das heißt die Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage, hinzutreten (vgl. dazu BSG, Urteil vom 14. Juni 1984 – 1 BJ 82/84 – SozR 1500 § 160 Nr. 53 – juris). Die Frage, ob eine Rechtssache im Einzelfall richtig oder unrichtig entschieden ist, verleiht ihr noch keine grundsätzliche Bedeutung (vgl. BSG, Beschluss vom 26. Juni 1975 – 12 BJ 12/75SozR 1500 § 160a Nr. 7 = juris Rdnr. 2). Hinsichtlich Tatsachenfragen kann über § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG eine Klärung nicht verlangt werden.

Etwaige klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfragen wurden weder vorgetragen noch vermag der Senat im Ergebnis der Prüfung von Amts wegen dem Sach- und Streitstand eine solche Frage zu entnehmen. Zwar macht der Kläger sinngemäß geltend, vor Einführung von § 41a Abs. 5 SGB II zum 1. August 2016 (vgl. Artikel 1 Nr. 36 des Gesetzes vom 26. Juli 2016 [BGBl. I S. 1824]) habe hinsichtlich der dem Leistungsträger für eine abschließende Entscheidung gesetzten Frist eine "planwidrige Regelungslücke" vorgelegen und wirft insoweit die Frage auf, ob diese vermeintliche Lücke bis zum 31. Juli 2016 durch die analoge Anwendung von § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X zu schließen gewesen sei. Diese Frage ist aber nicht klärungsbedürftig.

Eine Klärungsbedürftigkeit ist in der Regel zu verneinen, wenn die Rechtsfrage außer Kraft getretenes oder auslaufendes Recht betrifft. Das ist hier der Fall. Mit der Einführung von § 41a Abs. 5 SGB II zum 1. August 2016 stellt sich die aufgeworfene Frage nicht mehr. Die Vorschrift regelt, dass vorläufig bewilligte Leistungen als abschließend festgesetzt gelten, wenn innerhalb eines Jahres nach Ablauf des Bewilligungszeitraums keine abschließende Entscheidung ergeht. Hätte zuvor die vom Kläger gesehene Regelungslücke bestanden, wäre sie jedenfalls nunmehr geschlossen.

Zwar kann Klärungsbedürftigkeit hinsichtlich einer nicht mehr aktuellen Gesetzeslage auch dann bestehen, wenn eine erhebliche Anzahl von Fällen noch zu entscheiden ist. Ob eine in diesem Sinne zureichende Zahl von Fällen vorläufiger Leistungsbewilligungen aus der Zeit vor dem 1. August 2016 noch zur Entscheidung ansteht, kann indes dahinstehen, denn der Gesetzgeber hat auch für diese Fälle eine Regelung getroffen. Zugleich mit der Aufnahme der Vorschrift des § 41a SGB II in das Sozialgesetzbuch Zweites Buch wurde § 80 SGB II zum 1. August 2016 in Kraft gesetzt (vgl. Artikel 1 Nr. 53 des Gesetzes vom 26. Juli 2016 [BGBl. I S. 1824]). § 80 Abs. 2 SGB II regelt hinsichtlich der abschließenden Entscheidung über zunächst vorläufig beschiedene Leistungsansprüche für Bewilligungszeiträume, die vor dem 1. August 2016 beendet waren, dass § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II mit der Maßgabe gilt, dass die Jahresfrist mit dem 1. August 2016 beginnt. Für die vorliegend sämtlich vor dem 1. August 2016 beendeten Leistungszeiträume hat dies zur Folge, dass die vorläufig bewilligten Leistungen, wenn nicht die endgültige Festsetzung zuvor erfolgt wäre, zum 1. August 2017 als abschließend festgesetzt gegolten hätten. Die vom Gesetzgeber gewählte Verfahrensweise verdeutlicht, dass er bei erneuter Befassung mit dem Thema "vorläufige Bewilligung" gerade nicht zu der Einschätzung gelangt ist, mit der zuvor bestehenden Gesetzeslage eine Regelungslücke hinterlassen zu haben.

b) Auch der von Amts wegen zu prüfende Zulassungsgrund der Divergenz im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG liegt nicht vor. Dieser Zulassungsgrund liegt nur dann vor, wenn das Urteil des Sozialgerichts entscheidungstragend auf einem abstrakten Rechtssatz beruht, der von dem zur gleichen Rechtsfrage aufgestellten Rechtssatz in einer Entscheidung eines der im § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht (vgl. BSG, Beschluss vom 29. November 1989 – 7 BAr 130/88SozR 1500 § 160a Nr. 67 = juris Rdnr. 7; BSG, Beschluss vom 19. Juli 2012 – B 1 KR 65/11 B – SozR 4-1500 § 160a Nr. 32 = juris Rdnr. 21, m. w. N.; Leitherer, a. a. O., § 160 Rdnr. 13). Eine solche Abweichung hat die Klagepartei weder behauptet, noch ist sie ersichtlich.

c) Schließlich ist auch der Zulassungsgrund des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG nicht gegeben. Ein Verfahrensmangel ist ein Verstoß gegen eine Vorschrift, die das sozialgerichtliche Verfahren regelt. Er bezieht sich begrifflich auf das prozessuale Vorgehen des Gerichts auf dem Weg zum Urteil, nicht aber auf dessen sachlichen Inhalt, das heißt seine Richtigkeit (vgl. Leitherer, a. a. O., § 144 Rdnr. 32 ff.). Die Zulassung der Berufung aufgrund eines Verfahrensmangels erfordert, dass dieser Mangel nicht nur vorliegt, sondern – anders als die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung und der Divergenz – auch geltend gemacht wird (vgl. § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG). Daran fehlt es hier.

Zwar hat der Kläger den Umstand, dass das Sozialgericht "rechtsfehlerhaft" keine Frist zur Anwendung gebracht habe, als Verfahrensmangel beanstandet. Der Einwand knüpft aber nicht an prozessualem Vorgehen des Gerichts an. Vielmehr wird – lediglich – geltend gemacht, das Sozialgericht habe materielles Recht unrichtig angewandt.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.

4. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren bleibt mangels hinreichender Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung ohne Erfolg (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 114 Zivilprozessordnung - ZPO -).

5. Die Entscheidung ist unanfechtbar (vgl. § 177 SGG).

Dr. Scheer Höhl Krewer
Rechtskraft
Aus
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