L 13 AS 1951/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
13
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 10 AS 2641/15
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 AS 1951/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Nach vorläufiger Bewilligung von Arbeitslosengeld II ist bei der abschließenden Entscheidung über den Leistungsanspruch auch nach Inkrafttreten des § 41a Abs.5 SGB II zum 1. August 2016 eine analoge Anwendung der §§ 45 Abs.4 und 48 Abs.4 SGB X nicht geboten, so dass die dort vorgesehenen Jahresfrist nicht gilt.
Auf die Berufung der Klägerin Ziffer 2 wird das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 26. April 2016 insoweit abgeändert und der Bescheid vom 15. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Mai 2015 insoweit aufgehoben, als die auf die Klägerin zu 2. entfallende Erstattungsforderung 492,76 EUR übersteigt.

Im Übrigen werden die Berufungen zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Höhe der Ansprüche der Klägerinnen auf Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende in der Zeit vom 1. Mai bis 31. Oktober 2010, insbesondere die Frage, ob der Beklagte berechtigt ist, von den Klägerinnen die Erstattung von erbrachten Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von 1.855,80 EUR zu verlangen.

Die Klägerin zu 1., ihr Lebensgefährte S., der als Trockenbauer selbständig tätig war, und ihre 2003 geborene Tochter, die Klägerin zu 2., bezogen seit Jahren vom Beklagten Leistungen nach dem SGB II. Ab 1. Juli 2009 nahm Herr S. eine selbstständige Tätigkeit als Handwerker auf, für die er beim Beklagten unter Vorlage von drei für Handwerksleistungen in der Zeit vom 22. Juli 2009 bis 30. Oktober 2009 erstellte Rechnungen Existenzgründungsleistungen beantragte. Auf den Weiterbewilligungsantrag des Herrn S. bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 16. April 2010 vorläufig Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 1. Mai 2010 bis 31. Oktober 2010 in Höhe von 914,43 EUR monatlich und berücksichtigte dabei Kindergeld (184 EUR) bedarfsmindernd als Einkommen, jedoch keine Einnahmen des Herrn S. aus seiner selbständigen Tätigkeit. Von den bewilligten Leistungen entfielen auf die Klägerin zu 1. monatlich 390,15 EUR (323 EUR Regelleistung und 67,15 EUR anteilige Kosten für Unterkunft und Heizung) und auf die Klägerin zu 2. monatlich 134,15 EUR (251 EUR Sozialgeld - 184 EUR Kindergeld = 67 EUR + 67,15 EUR anteilige Kosten für Unterkunft und Heizung). Mit Bescheid vom 8. November 2010 änderte der Beklagte den Bescheid vom 16. April 2010 unter Berücksichtigung veränderter Mietkosten ab und bewilligte für die Zeit vom 1. Mai 2010 bis 31. Oktober 2010 weiterhin vorläufig Leistungen i.H.v. 914,43 EUR monatlich für Mai und Juni 2010, i.H.v. 457,22 EUR für die Zeit vom 1. bis 15. Juli 2010, i.H.v. 489,26 EUR für die Zeit vom 16. bis 31. Juli 2010, i.H.v. 1078,50 EUR für August 2010 und i.H.v. 978,50 EUR monatlich für September und Oktober 2010. Hiervon entfielen auf die Klägerin zu 1. für die Monate Mai und Juni 2010 jeweils 390,15 EUR, für Juli 2010 400,83 EUR und für die Monate August bis Oktober 2010 je 411,51 EUR. Die Klägerin zu 2. erhielt für Mai und Juni 2010 je 134,15 EUR, für Juli 2010 144,83 EUR, für die Monate August bis Oktober 2010 je 155,51 EUR sowie im Monat August 2010 einmalige zusätzliche Leistungen für Schulbedarf i.H.v. 100 EUR. Auch bei dieser vorläufigen Bewilligung berücksichtigte der Beklagte Kindergeld (184 EUR) bedarfsmindernd als Einkommen, jedoch keine Einnahmen des Herrn S. aus seiner selbständigen Tätigkeit.

Mit Bescheid vom 15. Januar 2015 entschied der Beklagte unter Berücksichtigung der inzwischen nachgewiesenen tatsächlichen Betriebseinnahmen endgültig über die Leistungsansprüche der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft in der Zeit vom 1. Mai 2010 bis 31. Oktober 2010, legte einen durchschnittlichen monatlichen Gewinn i.H.v. 1045 EUR zu Grunde, brachte hiervon noch Betriebsausgaben i.H.v. 107,83 EUR, eine monatliche Unterhaltszahlung von 170 EUR sowie den Grundfreibetrag von 100 EUR in Abzug und rechnete unter weiterer Berücksichtigung eines Freibetrages i.H.v. 133,43 EUR monatlich 533,74 EUR als Gewinn an. Die der Bedarfsgemeinschaft zustehenden Leistungen wurden neu berechnet, wonach auf die Klägerin zu 1. für Mai und Juni 2010 je 162,42 EUR, für Juli 2010 174,80 EUR sowie für August bis Oktober 2010 monatlich 187,04 EUR entfielen. Auf die Klägerin zu 2. entfielen für Mai und Juni 2010 je 55,85 EUR, für Juli 2010 63,16 EUR sowie für August bis Oktober 2010 monatlich 70,68 EUR. Mit weiterem Bescheid vom 16. Januar 2015 machte der Beklagte - aufgeschlüsselt nach Personen, Kalendermonaten und Zahlungsgrund - gegenüber den Klägerinnen einen Erstattungsbetrag in Höhe von insgesamt 1.855,80 EUR geltend. Hiervon entfielen 1346,82 EUR auf die Klägerin zu 1. und 508,98 EUR auf die Klägerin zu 2.

Mit ihrem dagegen gerichteten Widerspruch brachten die Klägerinnen vor, der Bescheid vom 15. Januar 2015 sei außerhalb einer analog nach §§ 45 Abs. 4, 48 Abs. 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu bestimmenden Frist ergangen bzw. der Beklagte sei seines Erstattungsanspruchs nach den Grundsätzen des Rechtsinstituts der Verwirkung verlustig gegangen. Mit Widerspruchsbescheid vom 12. Mai 2015 wies der Beklagte den Widerspruch zurück und führte zur Begründung aus, das Einkommen des Herrn S. sei in zutreffender Weise bei der Berechnung der Leistungen nach dem SGB II berücksichtigt worden. Die Aufhebung der vorläufigen Entscheidung und Geltendmachung des Erstattungsbetrags sei gemäß §§ 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, Abs. 3 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) rechtmäßig erfolgt. Die in §§ 45 Abs. 4, 48 Abs. 4 SGB X geregelten Ausschlussfristen beträfen ausschließlich endgültige Entscheidungen und seien bei der vorläufigen Entscheidung nach § 328 SGB III nicht sinngemäß anzuwenden. Auch eine unzulässige Rechtsausübung oder Verwirkung lägen nicht vor.

Die Klägerinnen haben am 11. Juni 2015 Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben (S 10 AS 2641/15) und vorgebracht, die Höhe des anzurechnenden Einkommens und die Richtigkeit der Leistungsberechnung seien unstreitig. Allerdings sei der angefochtene Bescheid aufzuheben, weil er außerhalb einer analog nach den §§ 45 Abs. 4, 48 Abs. 4 SGB X zu bestimmenden Frist erlassen worden sei und der Beklagte seinen Erstattungsanspruch nach den Grundsätzen des Rechtsinstituts der Verwirkung verloren habe.

Mit Urteil vom 26. April 2016 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die gesetzliche Grundlage für die Aufhebung der (vorläufigen) Bescheide sei § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, Abs. 3 SGB III. Dafür seien vom Gesetzgeber im Gegensatz zu den Regelungen der §§ 45 Abs. 4 und 48 Abs. 4 SGB X keine Ausschlussfristen genannt worden. Eine analoge Anwendung scheide aus, da keine gesetzgeberische Lücke bestehe. Das SG folge der entgegenlautenden Rechtsprechung, wie sie etwa vom Sozialgericht Neubrandenburg (Urteil vom 12. November 2015 - S 14 AS 969/15) vertreten werde, nicht.

Gegen das am 26. April 2016 zugestellte Urteil richtet sich die am 27. Mai 2016 eingelegte Berufung der Klägerinnen. In der Berufungsbegründung haben sie ihren bisherigen Vortrag wiederholt und vertieft. Das Sozialgericht Neubrandenburg sehe im Urteil vom 12. November 2015 (S 14 AS 969/15) die für eine Analogie notwendige planwidrige Regelungslücke nicht im Hinblick auf Vertrauensschutzregelungen, sondern vielmehr im Hinblick auf Regelungen, die der Rechtssicherheit dienten. Eine planwidrige Regelungslücke ergebe sich daraus, dass die einzige anderweitig denkbare "Regelung", welche ab einem bestimmten Zeitpunkt Rechtssicherheit garantiere, das Rechtsinstitut der Verwirkung sei. Die vom Bundessozialgericht (BSG) für die Annahme von Verwirkung aufgestellten Voraussetzungen seien jedoch sehr restriktiv, so dass zur Gewährleistung von Rechtssicherheit ein Rückgriff darauf nicht in Betracht komme. Diese Restriktivität der Rechtsprechung des BSG zur Verwirkung sei nur dann sachgerecht, wenn die §§ 48 Abs. 4, 45 Abs. 4 SGB X im Hinblick auf die Gewährleistung von Rechtssicherheit Allgemeingültigkeit auch für die Fälle der vorläufigen Leistungsbewilligung hätten. Es sei darüber hinaus auch nicht ratio legis der §§ 45, 48 SGB X, den Leistungsträgern die Anpassung ihrer Bearbeitungsgeschwindigkeit an Arbeitsaufkommen und Personalstärke zu ermöglichen. Bei der Möglichkeit, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß §§ 40 SGB II, 328 SGB III vorläufig zu bewilligen, handele es sich um Normen zugunsten des Hilfeempfängers; die endgültige und sodann nur unter engen Voraussetzungen revidierbare Leistungsbewilligung sei die Regel, die vorläufige Leistungsbewilligung die Ausnahme. Selbst wenn eine Analogie zu §§ 48, 45 SGB X nicht in Betracht komme, hätte der Beklagte seinen Erstattungsanspruch wegen der Untätigkeit von knapp eineinhalb Jahren verwirkt, da die Klägerinnen davon hätten ausgehen können, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden. Durch die zum 1. August 2016 in Kraft getretene Vorschrift des § 41a Abs. 5 SGB II werde nun auch im Bereich zunächst lediglich vorläufiger Bewilligungen eine der Rechtssicherheit dienende Jahresfrist eingezogen. Vor diesem Hintergrund lasse sich die Auffassung, zuvor habe eine planwidrige Regelungslücke nicht vorgelegen, nicht mehr vertreten.

Die Klägerinnen beantragen,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 26. April 2016 und den Erstattungsbescheid vom 15. Januar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Mai 2015 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen

und verweist auf die Gründe des für zutreffend erachteten Urteils des SG sowie die Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg vom 24. August 2016 (L 13 AS 2104/15).

Mit Schriftsatz vom 5. Juni 2018 hat der Beklagte die Berechnung der streitigen Rückforderungsbeträge korrigiert und erläutert. Danach entfällt bei korrekter Berechnung auf die Klägerin zu 1. ein geringfügig höherer Rückforderungsbetrag, nämlich 1354,90 EUR statt der im Erstattungsbescheid vom 15. Januar 2015 genannten 1346,82 EUR. Auf die Klägerin zu 2. entfällt bei korrekter Berechnung ein geringerer Rückforderungsbetrag von 492,76 EUR statt der mit dem streitigen Bescheid geforderten 508,98 EUR. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 91-115 der Senatsakte verwiesen.

Mit Beschluss vom 24. Oktober 2016 hat der Senat den Antrag der Klägerinnen auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren abgelehnt, da das Berufungsbegehren keine hinreichende Erfolgsaussicht habe. Wegen der Einzelheiten wird auf den Beschluss vom 24. Oktober 2016 verwiesen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten sowie die Prozessakten erster und zweiter Instanz verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143, 144 und 151 SGG zulässige Berufung der Klägerinnen, über die der Senat mit Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs.2 SGG), ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet und im Übrigen nicht begründet.

Die Klägerinnen haben nur insoweit Anspruch auf Aufhebung des Bescheids vom 15. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Mai 2015 als gegenüber der Klägerin zu 2. ein um 16,22 EUR über 492,76 EUR hinausgehender Betrag in Höhe von 508,98 EUR zurückgefordert wurde. Der Beklagte hat gegenüber der Klägerin zu 1. mit 1346,82 EUR die Erstattung eines um 8,08 EUR zu geringen Betrages anstatt des zutreffenden Betrages von 1354,90 EUR gefordert und im Übrigen zu Recht mit Bescheid vom 15. Januar 2015 endgültig über den Leistungsanspruch der Klägerinnen in der Zeit vom 1. Mai 2010 bis 31. Oktober 2010 entschieden. Der geforderte Erstattungsbetrag ist in Höhe von insgesamt 1839,58 EUR (1346,82 EUR + 492,76 EUR) rechtmäßig.

Ungeachtet dieser geringfügigen rechnerischen Abweichung hat das SG im angefochtenen Urteil die Rechtsgrundlagen für die vorläufige Bewilligung von Arbeitslosengeld II (§ 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB III) und für die Anrechnung der aufgrund der vorläufigen Entscheidung erbrachten Leistungen auf die zustehende Leistung sowie für die Erstattung der aufgrund der vorläufigen Entscheidung erbrachten Leistungen für den Fall, dass mit der abschließenden Entscheidung ein Leistungsanspruch nicht oder nur in geringerer Höhe zuerkannt wird (§ 328 Abs. 3 SGB III), zutreffend dargelegt und zutreffend entschieden, dass die streitigen Bescheide des Beklagten nicht zu beanstanden sind und dass insbesondere eine Ausschlussfrist von einem Jahr vom Beklagten nicht einzuhalten war. Das Berufungsgericht weist insoweit die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurück und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG).

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass der Senat weiterhin – wie auch bereits im Beschluss vom 24. Oktober 2016 dargelegt – nicht der vom Sozialgericht Neubrandenburg im Urteil vom 12. November 2015 (S 14 AS 969/15) vertretenen Auffassung folgt. Auch der 1. Senat des LSG Baden-Württemberg hat im Übrigen die Auffassung vertreten, dass die §§ 44 ff. SGB X für eine endgültige Festsetzung nach § 40 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 2 und 3 SGB III keine Anwendung finden und der Betroffene keinen Vertrauensschutz genießt (Urteil vom 17. Juni 2016 - L 1 AS 4849/15; vgl. außerdem: Gagel/Kallert 67. EL September 2017, § 328 SGB III, Rn.83; Aubel in jurisPK-SGB II, Stand 27. Dezember 2017, § 40 SGB II, Rn.73.2). Es kann zur Überzeugung des Senats dahinstehen, ob eine analoge Anwendung der §§ 45 Abs. 4, 48 Abs. 4 SGB X aus Gründen des Vertrauensschutzes oder - wie von den Klägerinnen unter Bezugnahme auf das genannte Urteil des Sozialgerichts Neubrandenburg dargelegt - aus Gründen der Rechtssicherheit diskutiert wird, weil jedenfalls eine für die analoge Anwendung vorauszusetzende planwidrige Gesetzeslücke nicht besteht. Hierzu ist unter Berücksichtigung des klägerischen Vorbringens im Berufungsverfahren (Schriftsatz vom 13. Februar 2017) noch darauf hinzuweisen, dass insoweit auch nach Inkrafttreten des § 41a Abs. 5 SGB II zum 1. August 2016 eine analoge Anwendung der §§ 45 Abs. 4 und 48 Abs. 4 SGB X nicht geboten ist. Nach dem am 1. August 2016 in Kraft getretenen § 41a Abs. 1 Nr. 2 SGB II ist über die Erbringung von Geld- und Sachleistungen vorläufig zu entscheiden, wenn ein Anspruch auf Geld- und Sachleistungen dem Grunde nach besteht und zur Feststellung seiner Höhe voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist. Gemäß § 41a Abs. 3 S. 1 SGB II entscheiden die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende abschließend über den monatlichen Leistungsanspruch, sofern die vorläufig bewilligte Leistung nicht der abschließend festzustellenden entspricht oder die leistungsberechtigte Person eine abschließende Entscheidung beantragt. Ergeht innerhalb eines Jahres nach Ablauf des Bewilligungszeitraums keine abschließende Entscheidung nach Abs. 3, gelten gemäß § 41a Abs. 5 S. 1 SGB II die vorläufig bewilligten Leistungen als abschließend festgesetzt. § 41a SGB II ersetzt den bis 31. Juli 2016 in Kraft gewesenen § 40 Abs. 2 Nr. 2 SGB II, über den die Vorschrift des § 328 SGB III anwendbar war und auf den im vorliegenden Fall der Beklagte zutreffend seinen streitigen Bescheid vom 15. Januar 2015 gestützt hat. Die zum 1. August 2016 in Kraft getretene Gesetzesänderung - insbesondere § 41a Abs. 5 S. 1 SGB II - gebietet jedoch entgegen dem klägerischen Vorbringen nicht die analoge Anwendung der Jahresfrist der §§ 45 Abs. 4 und 48 Abs. 4 SGB X. Für nach dem bis zum 31. Juli 2016 geltenden Recht (§ 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 SGB III) vorläufig bewilligte Leistungen, deren Bewilligungszeiträume vor dem 1. August 2016 beendet waren, gilt nach der Übergangsvorschrift in § 80 Abs. 2 Nr. 1 SGB II die neue Vorschrift des § 41a Abs. 5 S. 1 SGB II mit der Maßgabe, dass die Jahresfrist mit dem 1. August 2016 beginnt. Das BSG hat bereits mit Urteil vom 30. März 2017 (B 14 AS 18/16 R) für einen dort streitgegenständlichen Bewilligungszeitraum von März 2012 bis August 2012 entschieden, dass Grundlage für die abschließende Entscheidung über die zustehenden Leistungen § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 SGB III ist, da in Rechtsstreitigkeiten über schon abgeschlossene Bewilligungsabschnitte das zum damaligen Zeitpunkt geltende Recht anzuwenden sei ("Geltungszeitraumprinzip"). Nicht anzuwenden sei auf solche bereits abgeschlossenen Bewilligungszeiträume indes der zum 1. August 2016 in Kraft getretene § 41a SGB II (BSG, a.a.O., Rn.12, juris). Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung ausdrücklich an. Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, dass eine analoge Anwendung der Jahresfrist der §§ 45 Abs. 4 und 48 Abs. 4 SGB X nicht in Betracht kommt, da für vergangene Bewilligungsabschnitte aus Sicht des Gesetzgebers eine gesetzgeberische Lücke nicht bestanden hat. Denn wenn der Gesetzgeber in Kenntnis der o.g. obergerichtlichen Rechtsprechung und Kommentarliteratur zur Nichtanwendbarkeit der Jahresfrist auf § 40 Abs. 2 Nr.1 SGB II, die Regelung des neuen § 41a SGB II hinsichtlich der Jahresfrist nicht für bereits abgeschlossene Bewilligungszeiträume anwendbar gemacht und in § 80 SGB II nicht geregelt hat, dass die neue Fiktion auch für in der Vergangenheit bereits abgeschlossene Bewilligungsabschnitte gelten soll, ergibt sich daraus, dass eine bisherige ungewollte gesetzgeberische Lücke nicht gesehen wurde. Da die Jahresfiktion des § 41a Abs. 5 SGB II nicht per Übergangsregelung auf in der Vergangenheit abgeschlossene Bewilligungszeiträume anwendbar gemacht wurde, verbietet sich auch eine analoge Anwendung der Jahresfrist der §§ 45 Abs. 4 und 48 Abs. 4 SGB X auf vergangene Zeiträume, da dies offenbar gesetzgeberisch gerade nicht gewollt war.

Auch auf eine Verwirkung können sich die Antragstellerinnen im vorliegenden Fall nicht mit Erfolg berufen. Denn nach der Rechtsprechung des BSG setzt eine Verwirkung allgemein voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat. Zum Zeitablauf müssen weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des einschlägigen Rechtsgebiets ein verspätetes Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen. Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete - erstens - infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dieser werde das Recht nicht mehr geltend machen (Vertrauensgrundlage), - zweitens - der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, das Recht werde nicht mehr ausgeübt (Vertrauenstatbestand) und - drittens - er sich infolge dessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 8 SB 2/15 R mwN). Im vorliegenden Fall scheitert die Verwirkung daran, dass der Beklagte durch kein bestimmtes Verhalten den Eindruck erweckt hat, er werde keine endgültige Leistungsfestsetzung vornehmen. Das bloße Nichtstun, auch wenn es sich auf einen Zeitraum von 18 Monaten erstreckt, ist dafür nicht ausreichend. Den Klägerinnen war auch aufgrund des Vorgehens des Beklagten bezüglich früherer Leistungsabschnitte bekannt, dass nach Einreichung der Unterlagen zum tatsächlich erzielten Einkommen aus selbständiger Tätigkeit für den abgelaufenen Bewilligungsabschnitt regelmäßig eine endgültige Leistungsfestsetzung erfolgt.

Die Berechnung der mit Bescheid vom 15. Januar 2015 geltend gemachten Erstattungsforderung war geringfügig fehlerhaft, dies jedoch nur teilweise zum Nachteil der Klägerinnen: Der Beklagte hat der Klägerin zu 1. im streitigen Zeitraum aufgrund des vorläufigen Bescheids vom 16. April 2010 insgesamt 2340,90 EUR ausgezahlt. Aufgrund des Änderungsbescheids vom 8. November 2010 wurden an die Klägerin zu 1. noch 74,76 EUR nachgezahlt, so dass sie im streitigen Zeitraum insgesamt 2415,66 EUR erhalten hat. Da ihr nach der - von den Klägerinnen ausdrücklich nicht infrage gestellten und nach Aktenlage auch nicht zu beanstandenden - Berechnung im endgültigen Bescheid vom 15. Januar 2015 im streitigen Zeitraum tatsächlich nur 1060,76 EUR zugestanden haben, hat sie 1354,90 EUR zu viel erhalten. Soweit der Beklagte insoweit unrichtig 8,08 EUR zu wenig, nämlich nur 1346,82 EUR von der Klägerin zu 1. zurückgefordert hat, verbleibt es zur Vermeidung einer auch im Berufungsverfahren unzulässigen reformatio in peius (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 12. Aufl., vor § 143 SGG, Rn. 17) bei der zum Vorteil der Klägerin zu 1. fehlerhaften Berechnung. Der Beklagte hat der Klägerin zu 2. im streitigen Zeitraum aufgrund des vorläufigen Bescheids vom 16. April 2010 insgesamt 804,90 EUR ausgezahlt. Aufgrund des Änderungsbescheids vom 8. November 2010 wurden an die Klägerin zu 2. noch 74,76 EUR nachgezahlt, so dass sie im streitigen Zeitraum insgesamt 879,66 EUR erhalten hat. Da ihr nach der - von den Klägerinnen ausdrücklich nicht infrage gestellten und nach Aktenlage auch nicht zu beanstandenden - Berechnung im endgültigen Bescheid vom 15. Januar 2015 im streitigen Zeitraum tatsächlich nur 386,90 EUR zugestanden haben, hat sie 492,76 EUR zu viel erhalten. Soweit der Beklagte mit Bescheid vom 15. Januar 2015 betreffend die Klägerin zu 2. den um 16,22 EUR zu hohen Betrag von 508,98 EUR zurückgefordert hat, ist dies rechtswidrig und verletzt die Klägerin zu 2. in ihren Rechten. Auf die Berufung waren daher das Urteil des SG sowie der Bescheid vom 15. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Mai 2015 insoweit aufzuheben, als die die Klägerin zu 2. betreffende Erstattungsforderung den Betrag von 492,76 EUR übersteigt.

Da das SG im Übrigen zu Recht die Klage abgewiesen hat, weist der Senat im Übrigen die Berufung zurück.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Im Rahmen des dem Senat nach § 193 SGG eingeräumten Ermessens war für den Senat maßgeblich, dass die Klägerinnen mit der Rechtsverfolgung im Wesentlichen ohne Erfolg geblieben sind und der Beklagte keinen Anlass zur Klageerhebung gegeben hat. Das äußerst geringe Obsiegen der Klägerin zu 2. führt nicht dazu, dass dem Beklagten anteilig eine Kostenübernahme aufzuerlegen wären. Der Senat hält es auch im Falle einer Zurückweisung des Rechtsmittels für erforderlich, nicht nur über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zu entscheiden, sondern auch über die Kosten der vorausgehenden Instanz (so Lüdtke, Kommentar zum SGG, 4. Aufl., § 193 SGG Rdnr. 8; erkennender Senat, Urteil vom 19. November 2013, L 13 R 1662/12, veröffentlicht in Juris; a.A. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 12. Auflage, § 193 SGG Rdnr. 2a; Hintz/Lowe, Kommentar zum SGG, § 193 SGG Rdnr. 11; Jansen, Kommentar zum SGG, 4. Auflage, § 193 SGG Rdnr. 4).

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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