S 38 KA 645/16

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
38
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 38 KA 645/16
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Der Dokumentation ärztlicher Leistungen kommt große Bedeutung zu. Sie dient vor allem dem Patienten im Rahmen von Strafverfahren oder im Rahmen eines Arzthaftungsprozesses, aber auch dem Vertragsarzt im Rahmen der Abrechnung vertragsärztlicher Leistungen zur Nachweisführung.

2. Erfolgt keine Dokumentation oder kann der Nachweis einer Dokumentation nicht geführt werden, gelten die Leistungen als nicht erbracht (vgl. BayLSG, Urteil vom 7.7.2004, Az L 3 KA 510/02; SG Marburg, Urteil vom 13.9.2017, S 12 KA 349/16).

3. Dokumentationen können ihre Funktion nur dann erfüllen, wenn sie gewisse Mindestanforderungen an Klarheit und Bestimmtheit erfüllen. Sie müssen aus sich heraus verständlich, nachvollziehbar und ohne Widersprüchlichkeiten sein (vgl. Sozialgericht Stuttgart, Urteil vom 19.6.2002, Az S 10 KA 2453/00).

4. Liegen derartige Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten vor, zu denen der Kläger selbst beigetragen hat, ist es seine Aufgabe, diese zu entkräften. Hier genügt es nicht, lediglich pauschalen Begründungen abzugeben.

5. Unterschiede zwischen den Anästhesiezeiten und den Schnitt-Naht-Zeiten sind nicht nachvollziehbar, da normalerweise die Anästhesiezeit mindestens der Schnitt-Naht-Zeit entsprechen muss, wenn sie nicht sogar länger ist, da die Anästhesie vor dem operativen Eingriff eingeleitet und erst nach dem operativen Eingriff ausgeleitet werden muss.
I. Die Klage wird abgewiesen
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens

Tatbestand:

Gegenstand der zum Sozialgericht München eingelegten Klage ist der Ausgangsbescheid der Beklagten vom 29.4.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.7.2015. Es wurde eine Plausibilitätsprüfung in den Quartalen 4/09-2/12 durchgeführt. Nach Widerspruch des Klägers, der als Facharzt für Anästhesiologie zugelassen ist, wurde dem teilweise abgeholfen (teilweise Abhilfe durch Bescheid vom 7.4.2015 hinsichtlich der Abrechnung der GOP 05330 im Zusammenhang mit zahnärztlichen Eingriffen). Im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Nach Plausibilitätsprüfung wurde vom Kläger ein Betrag in Höhe von 72.186,11 EUR zurückgefordert. Zur Begründung führte die Beklagte aus, man habe als Aufgreifquartale die Quartale 4/09 und 2/11 gewählt. Nach Einleitung des Prüfverfahrens am 23.8.2016 wurde dem Kläger eine Rückzahlungsvereinbarung vom 6.3.2013 über eine Rückforderungssumme in Höhe von 161.703,32 EUR übermittelt, die er jedoch nicht annahm. Auch die sich anschließende Rückzahlungsvereinbarung vom 19.8.2013 über Euro 105.082,93 unterschrieb der Kläger nicht. Nach Niederlegung des Mandats der zunächst bevollmächtigten Rechtsanwaltskanzlei (Rechtsanwälte C.) wurde dem Kläger erneut eine Rückzahlungsvereinbarung, diesmal über Euro 69.947,28 übersandt. Auch diese Rückzahlungsvereinbarung wurde vom Kläger nicht angenommen.

Im Ausgangsbescheid vom 29.4.2014 wurden die Honorarbescheide für die Quartale 4/09-2/12 aufgehoben und die Honorare unter Berücksichtigung eines zehnprozentigen Sicherheitsabschlags neu festgesetzt. Zur Prüfung herangezogen wurden zwei medizinische Fachexperten, nämlich Dr. L. und Dr. K., beides Fachärzte für Anästhesiologie.

Die Plausibilitätsprüfung und die ihr folgende Rückforderung bezieht sich auf Leistungen der GOP 05330 samt Nebenleistungen (GOP 05331 und 05350) in fünf Behandlungsfällen. Der Kläger habe keine entsprechende Begründung abgegeben. Deshalb sei von einer fehlerhaften Abrechnung auszugehen (Präambel des Kapitels 5 EBM Abschnitt 5.3). Es fehle die ICD-Kodierung mit Begründung. Ferner bezieht sich die Plausibilitätsprüfung und die ihr folgende Rückforderung auf den Vorwurf, der Kläger habe sogenannte Parallelnarkosen samt Nebenleistungen vorgenommen (GOP 05330, 31821, 31822, 31823, 31822, 05340). In den Quartalen 4/09 und 2/11 habe es zeitliche Überschneidungen der Narkosen von mehr als 5 Minuten gegeben. Dies sei nicht nachvollziehbar, da es sich um höchstpersönliche Leistungen handle, bei denen auch keine Delegation möglich sei. Die Gefahr der Veränderung von Vitalparametern erfordere das sofortige Eingreifen des jeweiligen Anästhesisten (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.3.2003, Az L 11 KA 185/01). Es gebe auch Fälle, in denen keine Narkoseprotokolle vorliegen würden. Damit sei der Nachweis der Leistungserbringung nicht gegeben. Ferner gebe es Fälle, in denen die Schnitt-Naht-Zeiten wesentlich länger seien als die dokumentierten Anästhesiezeiten. Insofern seien Zweifel an der Richtigkeit der Narkoseprotokolle angebracht.

Die Rückforderungsberechnung werde anhand von Zeitprofilen vorgenommen. Zeitprofile als Indizienbeweis (Tagesprofile) seien vom Bundessozialgericht (vgl. BSG, Beschluss vom 7.8.2011, Az B 6 KA 27/11 B) mehrfach bestätigt worden. Es sei festzustellen gewesen, dass auch an arbeitsintensiven Tagen die Nettoarbeitszeit von über 15 Stunden, teilweise von über 20 Stunden überschritten wurde. Dies sei nicht plausibel. Der Kläger habe gegen seine Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung verstoßen. Von einem Verschulden sei auszugehen.

Dagegen ließ der Kläger Klage zum Sozialgericht München einlegen. Zur Klagebegründung wurde zunächst ausgeführt, die Beklagte habe den Sachverhalt nur unvollständig ermittelt. Insofern sei die Entscheidung der Beklagten ermessensfehlerhaft. Die Beklagte habe außer in den Quartalen 4/09 und 2/11 keinerlei Feststellungen getroffen, die auf das Vorliegen von Parallelnarkosen hindeuteten. Es gebe durchaus Konstellationen, bei denen Parallelnarkosen plausibel erschienen. So könne es durchaus vorkommen, dass Patienten nach Beendigung einer Operation nicht im üblichen Zeitrahmen aufwachen und der Schlafzustand wider Erwarten noch eine Weile andauere. In solchen Situationen sei es ohne weiteres zulässig, bereits eine neue Narkose zu beginnen, weil für den Patienten im Ergebnis keine Gefahr mehr bestehen könne. Soweit die Beklagte vorbringe, die Schnitt-Naht-Zeiten seien oft länger als die Anästhesiezeiten, sei darauf hinzuweisen, dass es auch Überschneidungen bei den operativen Eingriffen selbst gebe, selbst wenn diese nur von einem Operateur vorgenommen würden. Im Übrigen erfolge die Protokollierung durch die OP-Schwester. Die Schnitt-Naht-Zeit hänge auch von der Arbeitsgeschwindigkeit des Operateurs ab. Insoweit komme den Prüfzeiten für anästhesiologische Leistungen kaum ein Beweiswert zu. Außerdem würden, was die Tagesprofile betreffe, die Anforderungen des Bundessozialgerichts (vgl. BSG, Urteil vom 24.11.1993, Az 6 Rka 70/91) nicht erfüllt. Rein vorsorglich sei ein wesentlich höherer Sicherheitsabschlag zu fordern.

In ihrer Klageerwiderung wies die Beklagte darauf hin, es habe in jedem Quartal eine Plausibilitätsprüfung stattgefunden. In den Quartalen bis auf die Referenzquartale 4/09 und 2/11 sei auf die Schnitt-Naht-Zeiten im Vergleich zur Narkosezeiten abgestellt worden. Es sei nicht nachvollziehbar, warum die Schnitt-nach-Zeiten länger seien, als die Narkosezeiten. Im Übrigen habe der Kläger die Narkoseprotokolle nur unvollständig vorgelegt. Hierzu nannte die Beklagte exemplarische Beispiele, bei denen sie die dokumentierte Narkosezeit der obligatorischen Schnitt-Naht-Zeit laut EBM gegenüberstellte. Daraus sei zu folgern, dass es sich nicht um keine ordnungsgemäße Abrechnung handle. Für die Referenzquartale 4/09 und 2/11 wurde bei mehreren Beispielen die Narkosedauer laut Protokoll der Schnitt-Naht-Zeit laut Abrechnung gegenübergestellt. Was den Vorwurf der Klägerseite betreffe, es habe durch die Beklagte keine vollständige Sachverhaltsermittlung stattgefunden, mache die Beklagte darauf aufmerksam, dass der Kläger teilweise Unterlagen erst nach mehrfacher Aufforderung und auch wiederum nur unvollständig eingereicht habe. Im Übrigen habe der Kläger im Rahmen des Plausibilitätsgespräches am 4.4.2014, an dem er nicht teilgenommen habe, Gelegenheit gehabt, seine Sichtweise darzustellen.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers berief sich auf eine Aussage des medizinischen Fachexperten am 4.4.2014 zur Frage der Belastbarkeit anästhesiologischer Prüfzeiten. Dieser habe ausgeführt, die zeitliche Überschneidung von bis zu 10 Minuten sei im Einzelfall nachvollziehbar.

Die Beklagte bestritt dies unter Hinweis auf das von ihr angefertigte Protokoll. Diesem sei ein solcher Inhalt nicht zu entnehmen. Die Protokollierung hätte dem Prozessbevollmächtigten bekannt sein müssen. Denn immerhin sei die Protokollführerin vorgestellt worden. Der Inhalt des Protokolls sei auch später nicht beanstandet worden. Immerhin sei Akteneinsicht genommen worden. Was die Ausführungen des Prozessbevollmächtigten beträfen, die Beklagte habe die vorgenommene Honorarkürzung nicht auf Überschreitungen der Zeitprofile gestützt, gingen diese Ausführungen fehl. Denn Gegenstand des Regresses sei gerade der Anteil des Honorars, der auf die Überschreitung der zulässigen Tagesarbeitszeit von 12 Stunden entfalle. Es handle sich dabei nach ständiger Rechtsprechung um eine zulässige Form der Rückforderungsberechnung im Rahmen des weiten Schätzungsermessen der Beklagten (vgl. u.a. LSG Hessen, Urteil vom 26.11.2014, Az L 4 KA 2/11). Zeitliche Überschneidungen deuteten auf Parallelanästhesien hin. Hier sei eine Widerlegung durch den Kläger erforderlich gewesen.

In der mündlichen Verhandlung am 25.7.2018 wurde Klägerseits eingeräumt, dass die Dokumentationen des Klägers insgesamt als problematisch anzusehen seien. Allerdings führe dies nicht zu einem Nachweis einer fehlerhaften Abrechnung. Auf Frage des Gerichts teilte der Kläger mit, es handle sich vorwiegend um gynäkologische Eingriffe, zu denen er als Anästhesist beigezogen werde.

Die Beklagte wies darauf hin, der Kläger habe immer wieder Unterlagen nachgereicht. Dabei sei aufgefallen, dass bei nachgereichten Dokumentationen eine Unterschreitung der Anästhesiezeit gegenüber der Schnitt-Naht-Zeit nicht mehr festzustellen war. Insofern komme den nachträglich eingereichten Dokumentationen ein äußerst geringer Beweiswert zu. Die Falschabrechnung ergebe sich anhand der Dokumentationen der Quartale 4/09 und 2/11. Die Beklagte gehe davon aus, dass über den gesamten Zeitraum Parallelnarkosen stattfanden. Es habe auch keine Entkräftung durch den Kläger gegeben. Grundsätzlich werde ein Sicherheitsabschlag bei einer Plausibilitätsprüfung, gestützt auf Zeitprofile nicht gewährt. Zu Gunsten des Klägers habe man aber dennoch einen Sicherheitsabschlag zugestanden. Die Dokumentation sei das einzige Mittel, um den Nachweis zu führen.

Anhand der Dokumentationen habe der Nachweis nicht geführt werden können, dass die Leistungen vom Kläger korrekt erbracht wurden. Es habe sich eine zeitliche Auffälligkeit ergeben. Es handle sich auch nicht um eine klassische Hochrechnung, wo ein Schätzungsermessen bestehe. Bei der Anästhesiezeit habe man immer auf den Zeitpunkt der Einleitung der Narkose und den Zeitpunkt der Ausweitung der Narkose abgestellt, ohne die Aufwachzeiten zu berücksichtigen.

Das Gericht merkte an, jede Leistung habe ihre sogenannte Kalkulationszeit. Hierbei handle es sich um Mindestzeiten, die ein durchschnittlich erfahrener Arzt benötige. Unter VI Anhänge zum EBM, 3 fänden sich Angaben für den zur Leistungserbringung erforderlichen Zeitaufwand des Vertragsarztes gemäß § 87 Abs. 2 Satz eins SGB V in Verbindung mit § 106a Abs. 2 SGB V. Grundlage sei das durchschnittliche Gehalt des Arztes, seine Wochenarbeitszeit und die festgelegte Lohnstruktur.

Die Beklagte wies auf die Entscheidung des LSG Hessen (Urteil vom 13.9.2017, Az L 4 KA 64/14) hin. Das BSG habe überdies ausgeführt, Zeitprofile seien nicht flexibel. Nach Auffassung der Beklagten sei es seitens des Klägers erforderlich gewesen, darzulegen, warum Prüfzeiten unterschritten wurden. Dies sei jedoch nicht geschehen.

In der mündlichen Verhandlung am 25.07.2018 stellte der Prozessbevollmächtigte des Klägers den Antrag aus dem Schriftsatz vom 10.4.2017.

Die Vertreter der Beklagten beantragten, die Klage abzuweisen.

Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Beklagtenakten. Im Übrigen wird auf den sonstigen Akteninhalt, insbesondere die Schriftsätze Beteiligten, sowie die Sitzungsniederschrift vom 25.7.2018 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zum Sozialgericht München eingelegte Klage ist zulässig, erweist sich jedoch als unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind als rechtmäßig anzusehen.

Die Beklagte ist zuständig für die in den Quartalen 4/09 bis 2/12 vorgenommenen Plausibilitätsprüfungen. Rechtsgrundlagen hierfür sind §§ 75 Abs. 1, 83 S. 1, 106a SGB V in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Gesamtvertrag-Primärkassen bzw. § 8 Gesamtvertrag-Ersatzkassen in Verbindung mit der Anlage 8. Danach überprüft die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns in geeigneten Fällen die Richtigkeit der Abrechnung nach ihrer Plausibilität. Abrechenbar und vergütungsfähig sind nur solche Leistungen, die in Übereinstimmung mit den für die vertragsärztliche Versorgung geltenden Vorschriften, vor allem dem EBM, dem HVV bzw. dem HVM erbracht werden. Wird eine Implausibilität festgestellt, erfolgt die Rückforderung der zu Unrecht abgerechneten Leistungen gemäß § 50 Abs. 1 SGB X.

Die Plausibilitätsprüfung wurde aufgrund vielfacher Überschreitung der Tagesarbeitszeit von 12 Stunden und mehr eingeleitet. Als Referenzquartale wurden die Quartale 4/09 und 2/11 gewählt. Auffällig dabei waren deutliche Überschneidungen bei den Anästhesiezeiten. Wie die Beklagte, gestützt auf die Prüfung durch die medizinischen Fachexperten K. und L., feststellte, kam es zu sogenannten Parallelnarkosen. Dies ist durch die fachkundig mit zwei Ärzten besetzte Kammer bei Durchsicht der Unterlagen zu bestätigen. Der Kläger hat wiederholt mit der Einleitung der Narkose begonnen, bevor die vorausgegangene Narkose überhaupt abgeschlossen war.

Aufgrund dieser Feststellungen in den Referenzquartalen wurden weitere Dokumentationen für die Zwischenquartale, d.h. die Quartale 1/10 bis 1/11 und die Quartale nach dem Referenzquartal 2/11, d.h. für die Quartale 3/11-2/12 angefordert und einer Prüfung unterzogen.

Der Kläger hat trotz mehrfacher Aufforderung teilweise keine Dokumentationen vorgelegt. Für ihn als Vertragsarzt besteht jedoch eine Dokumentationspflicht, die aus § 57 BMV-Ä bzw. § 10 Abs. 1 der Berufsordnung für die Ärzte Bayerns und Art. 18 Abs. 1 Ziffer 3 Heilberufekammergesetz (HKaG) folgt. Aus Kapitel III b. fachärztlicher Versorgungsbereich anästhesiologische Leistungen 5.1 Präambel Ziff. 5 ergibt sich die Pflicht zu einer fachspezifischen Dokumentation. Der Dokumentation ärztlicher Leistungen kommt große Bedeutung zu. Sie dient vor allem dem Patienten im Rahmen von Strafverfahren oder im Rahmen eines Arzthaftungsprozesses, aber auch dem Vertragsarzt im Rahmen der Abrechnung vertragsärztlicher Leistungen zur Nachweisführung. Im konkreten Fall umfasst die Dokumentationspflicht auch die Pflicht, einen OP-Bericht zu verfassen. Erfolgt keine Dokumentation oder kann der Nachweis einer Dokumentation nicht geführt werden, gelten die Leistungen als nicht erbracht (BayLSG, Urteil vom 7.7.2004, Az L 3 KA 510/02; SG Marburg, Urteil vom 13.9.2017, S 12 KA 349/16).

In den Referenzquartalen 4/09 und 2/11 kam es zu zeitlichen Überschneidungen von hintereinander nachfolgenden Narkosen und damit zu Parallelnarkosen. Insofern sind Zweifel hinsichtlich der ordnungsgemäßen Leistungserbringung bzw. Abrechnung angezeigt.

Was die übrigen Quartale betrifft, so sind die Dokumentationen zum Teil erst nach mehrfacher Aufforderung vorgelegt worden. Die Feststellungen der Beklagten hinsichtlich der Unvereinbarkeit der angegebenen Anästhesiezeiten in den Dokumentationen einerseits und den Schnitt-Naht-Zeiten in den Einzelfall-Nachweisen andererseits sind zu bestätigen. Unzutreffend ist deshalb die Auffassung des Prozessbevollmächtigten des Klägers, lediglich in den Referenzquartalen habe es Parallelnarkosen gegeben. Untersucht wurden auch unter Überprüfung durch medizinische Fachexperten die dazwischenliegenden Quartale und die Quartale von 3/11-2/12.

Zum einen ergeben sich die Schnitt-Naht-Zeiten aus dem EBM. Beispielsweise sind in bestimmten, vom Kläger in Ansatz gebrachten EBM-Ziffern, so bei der GOP 05330 und der GOP 05331 konkrete Zeitvorgaben enthalten. Werden diese Mindestzeiten nicht eingehalten, ist die Leistungslegende als nicht vollständig erfüllt anzusehen. In zahlreichen Fällen ergeben sich die Unterschiede auch aus den eigenen Angaben des Klägers. Der Kläger hat in den Einzelfall-Nachweisen die Schnitt-Naht-Zeiten in einem Klammerzusatz (runde Klammer) aufgeführt. Werden die in den Dokumentationen mit den Zeiten in den Gebührenordnungspositionen bzw. mit den Zeiten auf den Einzel-Nachweisen verglichen, ergibt sich in nicht wenigen Fällen eine auffällige Zeitunterschreitung bei den Anästhesiezeiten. In den Fällen, in denen durch den EBM die Zeiten vorgegeben sind, sind, unterstellt man die Richtigkeit der Angaben auf den Dokumentationen, die Leistungen als nicht vollständig erbracht anzusehen und damit nicht abrechnungsfähig. Geht man hier von falschen Dokumentationen aus, die sich der Kläger zurechnen lassen muss, liegt ein Verstoß gegen die Pflicht zur ordnungsgemäßen Dokumentation vor, der ebenfalls zur Nichtabrechenbarkeit der Leistungen führt. Gleichzeitig liegt der Schluss dann nahe, dass in unzulässiger Weise Parallelnarkosen wie in den Referenzquartalen stattgefunden haben. Soweit die Zeitdivergenzen auf den eigenen Angaben des Klägers beruhen (angegebene Anästhesiezeiten auf den Dokumentationen - angegebene Schnitt-Naht-Zeiten auf den Einzel-Nachweisen), stellt sich die Frage, welche Zeitangaben maßgeblich sein sollen. Geht man von der Richtigkeit der Schnitt-Naht-Zeiten aus, wäre zum einen die Dokumentation fehlerhaft. Zum anderen läge auch hier der Schluss nahe, dass Parallelnarkosen stattfanden und die Angaben des Klägers auf den Dokumentationen zu den Anästhesiezeiten möglicherweise dazu dienten, die wahren Anästhesiezeiten zu verschleiern, um den Vorwurf von Parallelnarkosen nicht aufkommen zu lassen. Wird angenommen, die Anästhesiezeiten auf den Dokumentationen seien richtig, muss sich der Kläger vorhalten lassen, warum er dann auf den Einzel-Nachweisen davon abweichende Schnitt-Naht-Zeiten angegeben hat. Diese Divergenzen zwischen den Anästhesiezeiten und den Schnitt-Nahtzeiten sind nicht nachvollziehbar, da normalerweise die Anästhesiezeit mindestens der Schnitt-Naht-Zeit entsprechen muss, wenn sie nicht sogar länger ist, da die Anästhesie vor dem operativen Eingriff eingeleitet und erst nach dem operativen Eingriff ausgeleitet werden muss.

Dokumentationen können ihre Funktion nur dann erfüllen, wenn sie gewisse Mindestanforderungen an Klarheit und Bestimmtheit erfüllen. Sie müssen aus sich heraus verständlich, nachvollziehbar und ohne Widersprüchlichkeiten sein (Sozialgericht Stuttgart, Urteil vom 19.6.2002, Az S 10 KA 2453/00). Im streitgegenständlichen Fall lassen sich die oft nicht nur geringfügigen zeitlichen Abweichungen allein mit Gangungenauigkeiten bzw. Falscheinstellungen von Uhren oder Ablesefehlern kaum erklären. Wenn die Leistungen delegierbar wären, wären Überschneidungen der Anästhesiezeiten denkbar und zulässig. Dies jedoch ist nicht der Fall. Denn die vom Kläger erbrachten anästhesiologischen Leistungen sind höchstpersönlich zu erbringen und daher nicht delegationsfähig (Abschnitt I Allgemeine Bestimmungen Ziff. 2.2 EBM).

Auffällig ist auch, dass in später nachgereichten Dokumentationen des Klägers Anästhesiezeiten angegeben werden, die sich mit den Schnitt-Naht-Zeiten decken bzw. diese sogar überschreiten, was zumindest als Hinweis gewertet werden könnte, dass die Dokumentationen insgesamt als nicht stimmig zu betrachten sind.

Liegen derartige Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten vor, zu denen der Kläger selbst beigetragen hat, wäre es seine Aufgabe gewesen, diese zu entkräften, was jedoch nicht geschehen ist. Hier genügt es nicht, lediglich solche pauschalen Begründungen abzugeben, wie, es gebe Situationen ( Patienten wachen nach Beendigung einer Operation nicht im üblichen Zeitrahmen auf und der Schlafzustand dauere wider Erwarten noch eine Weile an), in denen es ohne weiteres zulässig, sei, bereits eine neue Narkose zu beginnen, weil für den Patienten im Ergebnis keine Gefahr mehr bestehen könne oder es komme auf die "Arbeitsgeschwindigkeit des Operateurs" an. Angesichts der Feststellungen durch die Beklagte, der nicht seitens des Klägers ausgeräumten eindeutigen Widersprüchlichkeiten war eine weitere Sachverhaltsaufklärung entbehrlich, beispielsweise einen Abgleich mit den Angaben des Operateurs vorzunehmen.

Was die Plausibilitätsprüfung hinsichtlich der Leistungen der GOP 05330 samt Nebenleistungen (GOP 05331 und 05350) in fünf Behandlungsfällen betrifft, erstreckte sich der Antrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 10.04.2017 auch hierauf. Nachdem eine entsprechende Klagebegründung nicht erfolgte und zudem eine offensichtliche Rechtswidrigkeit nicht erkennbar ist, erübrigt es sich, in den Urteilsgründen näher darauf einzugehen.

Damit sind die Abrechnungen der Quartale 4/09 bis einschließlich 2/12 als fehlerhaft anzusehen, die Honorarbescheide aufzuheben und die Honorare neu festzusetzen. Die jeweils vom Kläger unterzeichnete Sammelerklärung ist als unrichtig anzusehen, weshalb deren "Garantiefunktion" entfällt. Es liegt auch ein Verschulden des Klägers vor. Wie die Beklagte zutreffend ausführt, muss von einer groben Fahrlässigkeit ausgegangen werden.

Rechtlich nicht zu beanstanden ist auch die Rückforderungsberechnung, wie sie sich im Ausgangsbescheid der Beklagten vom 29.04.2014 wiederfindet. In dem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Beklagten nach gefestigter Rechtsprechung ein weites Schätzungsermessen zusteht, das allerdings durch die Gerichte - wenn auch nur eingeschränkt - überprüfbar ist (LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 13.06.2014, Az L 4 KA 16/14). Hinweise auf eine Willkür sind jedoch nicht ersichtlich. Dies gilt auch für die Gewährung des Sicherheitsabschlags in Höhe von 10 %. Denn es handelt sich um eine Entscheidung zugunsten des Klägers, da bei einer Plausibilitätsprüfung, gestützt auf Zeitprofile, grundsätzlich ein Sicherheitsabschlag nicht gewährt wird.

Aus den genannten Gründen war zu entscheiden, wie geschehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 VwGO.
Rechtskraft
Aus
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