S 19 R 209/13

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 19 R 209/13
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 259/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 18. Juni 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. April 2013 verurteilt, der Klägerin eine Witwenrente aus der Versicherung des C. A. zu bewilligen

2. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Witwenrente. Umstritten ist dabei insbesondere, ob zwischen der Klägerin und dem Versicherten eine sog. Versorgungsehe im Sinne des § 46 Abs. 2a des Sechstes Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) bestanden hat.

Die Klägerin ist Witwe des 2011 verstorbenen Versicherten C. A. Die Klägerin lernte den Versicherten im Januar 2008 kennen. Ab August 2008 wohnte der Versicherte in der Wohnung der Klägerin, ohne allerdings seine Wohnung aufzugeben.

Bei dem Kläger wurde Anfang 2008 ein fortgeschrittenes anaplastisches Schilddrüsenkarzinom festgestellt, welches im August 2008 operiert wurde. Nachuntersuchungen am 19. Oktober 2009 und am 20. Juli 2010 in der Praxis für Hämatologie und Onkologie Dres. D., E. und F. ergaben keine Anzeichen für ein Rezidiv der Erkrankung. Bei der Nachuntersuchung am 8. Februar 2011 klagte der Versicherte über dumpfe Schmerzen im linken Schulterblatt. Aufgrund einer am 20. Mai 2011 durchgeführten Skelletszintigraphie ergab sich der Verdacht auf Knochenmetastasen. Computertomographien vom 7. und 10. Juni 2011 bestätigten diesen Verdacht. An dieser Erkrankung verstarb der Kläger 2011.

Die Klägerin und der Versicherte meldeten die Ehe am 20. Mai 2011 und schlossen sie am xx. Mai 2011 vor dem Standesamt der Stadt A-Stadt. Ausweislich der Stellungnahme des Standesamtes der Gemeinde G-Stadt vom 20. August 2013 hatten sie sich zuvor am 16. Mai 2011 dort vorgestellt und danach gefragt, ob die Standesbeamtin auch in A-Stadt eine Trauung vornehmen könne und sich nach den notwendigen Unterlagen für die Anmeldung der Eheschließung erkundigt.

Am 1. März 2012 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Witwenrente bei der Beklagten.

Mit Bescheid vom 18. Juni 2012 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Witwenrente ab, da die Vermutung des Vorliegens einer Versorgungsehe nicht widerlegt worden sei. Im Widerspruchsverfahren legte die Klägerin eine Bescheinigung der Praxis für Hämatologie und Onkologie Dres. D., E. und F. vom 9. März 2012 vor, in der Dr. F. angab, dass sich bis zum Sommer 2011 keine Anzeichen für ein Wiederauftreten der Erkrankung ergeben hätten, so dass von einer Heilung ausgegangen worden sei. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 23. April 2012).

Dagegen wendet sich die Klägerin mit der am 22. Mai 2012 erhobenen Klage. Die Klägerin behauptet, der Versicherte habe seine Wohnung behalten, da sein Sohn bis Januar 2011 dort gewohnt habe. Er habe aber nur gelegentlich nach seinem Sohn geschaut und die Post geholt. Der Versicherte sei in der Familie der Klägerin integriert gewesen. Er habe sich um den am 17. Juli 1997 geborenen Sohn H. der Klägerin gekümmert. Der Versicherte habe immer geäußert, erst heiraten zu wollen, wenn er wieder gesund sei. Im Sommer 2010 hätten die Klägerin und der Versicherte erfahren, dass von einer Heilung ausgegangen werden könne und dann den Entschluss zur Eheschließung gefasst. Der Termin sollte der xx. Juni 2011 – der Geburtstag des Versicherten – sein. Wenige Tage vor dem Termin sei ein Rezidiv der Erkrankung festgestellt worden, es habe aber noch Hoffnung auf Heilung oder erhebliche Verzögerung bestanden.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 18. Juni 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. April 2013 zu verurteilen, der Klägerin eine Witwenrente aus der Versicherung des C. A. zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hält die Vermutung einer Versorgungsehe für nicht widerlegt.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und die beigezogene Verwaltungsakte des Versicherten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid vom 18. Juni 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. April 2013 ist rechtswidrig. Die Klägerin hat einen Anspruch auf eine Witwenrente aus der Versicherung des Versicherten, da die gesetzliche Vermutung für das Bestehen einer Versorgungsehe widerlegt ist.

Für Witwen oder Witwer, die nicht wieder geheiratet haben, besteht nach dem Tode des versicherten Ehegatten bei Erfüllung der in § 46 SGB VI im Einzelnen genannten Voraussetzungen ein Anspruch auf Witwen- oder Witwerrente. Die Voraussetzungen von § 46 Abs. 2 liegen hier vor. Die Klägerin erzieht ihren noch nicht volljährigen Sohn H. Der Versicherte hat die allgemeine Wartezeit erfüllt.

Nach § 46 Abs. 2a SGB VI haben Witwen oder Witwer keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach § 46 Abs. 1 oder 2 SGB VI, wenn die Ehe nicht mindestens ein Jahr gedauert hat, es sei denn, dass nach den besonderen Umständen des Falles die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen.

Die gesetzliche Vermutung für das Vorliegen einer Versorgungsehe folgt einer typisierenden Betrachtungsweise und hat in erster Linie den Zweck, den Leistungsträger in jedem Einzelfall einer unter Umständen schwierigen Motivforschung mit aufwändigen Ermittlungen im Bereich der privaten Lebensführung und der allerpersönlichsten Intimsphäre des verstorbenen Ehegatten und des Hinterbliebenen zu entheben (BSG vom 5. Mai 2009 – B 13 R 55/08 R – Juris-Rn. 22 = BSGE 103, 99). Da es sich um eine widerlegbare Vermutung handelt, besteht andererseits jedoch für die Anspruchsteller die Möglichkeit, unter Hinweis auf die besonderen Umstände den Nachweis zu führen, dass die Annahme einer sog. Versorgungsehe in ihrem Falle gerade nicht gerechtfertigt erscheint. Die Vermutung ist nur dann widerlegt, wenn die Abwägung aller zur Eheschließung führenden Motive beider Ehegatten ergibt, dass es insgesamt nicht der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, der Witwe bzw. dem Witwer eine Versorgung zu verschaffen (vgl. BSG vom 28. März 1973 – 5 RKnU 11/71 – Juris-Rn. 12 = BSGE 35, 272). Dazu sind alle zur Eheschließung führenden Motive der Ehegatten zu berücksichtigen und in ihrer Bedeutung gegeneinander abzuwägen. Die Annahme einer Versorgungsehe ist nur dann nicht gerechtfertigt, wenn die von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggründe beider Ehegatten insgesamt gesehen überwiegen oder zumindest gleichwertig sind. Dabei reicht es aus, wenn nachweislich für einen der Ehegatten der Versorgungsgedanke bei der Eheschließung keine Rolle gespielt hat (BSG vom 5. Mai 2009 – B 13 R 55/08 R – Juris-Rn. 21 = BSGE 103, 99). Um die gesetzliche Vermutung einer Versorgungsehe zu widerlegen, ist gemäß § 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 292 der Zivilprozessordnung (ZPO) der volle Beweis des Gegenteils zu erbringen. Dies führt dazu, dass die Folgen eines nicht ausreichenden Beweises nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast von den Anspruchstellern zu tragen sind.

Wird geltend gemacht, dass entgegen der gesetzlichen Vermutung keine Versorgungsehe vorgelegen habe, so ist anhand aller Einzelumstände des gegebenen Falles zu prüfen, welche Gesichtspunkte für oder gegen den vom Gesetz zunächst allein im Hinblick auf die kurze Ehedauer vermuteten Versorgungszweck der Ehe sprechen.

Eine gewichtige Bedeutung kommt dabei dem Gesundheitszustand des Versicherten zum Zeitpunkt der Eheschließung zu. Ein gegen die gesetzliche Annahme einer Versorgungsehe sprechender besonderer (äußerer) Umstand im Sinne des § 46 Abs. 2a Halbsatz 2 SGB VI ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Tod des Versicherten, hinsichtlich dessen bisher kein gesundheitliches Risiko eines bevorstehenden Ablebens bekannt war, unvermittelt eingetreten ist. Bei Heirat eines zum Zeitpunkt der Eheschließung offenkundig bereits an einer lebensbedrohlichen Krankheit leidenden Versicherten ist hingegen in der Regel der Ausnahmetatbestand nicht erfüllt.

Der Versicherte war zum Zeitpunkt der Eheschließung mit der Klägerin lebensbedrohlich erkrankt. Dies spricht zunächst für das Vorliegen einer Versorgungsehe. Allerdings widerlegen die von der Klägerin vorgetragenen Gründe für die konkreten Umstände der Eheschließung trotzdem die gesetzliche Vermutung einer Versorgungsehe. Bei einer Gesamtbetrachtung und Abwägung der Beweggründe beider Ehegatten für die Heirat kann nicht die bei beiden Eheleuten bestehende Absicht belegt werden, es sei der alleinige oder überwiegende Zweck der Ehe gewesen, der Klägerin eine Witwenversorgung zu verschaffen. In der Eheschließung liegt nämlich die Verwirklichung des schon vor dem Widerauftreten der lebensbedrohenden Erkrankung des Versicherten gefassten Heiratsentschlusses. Durch die Bescheinigung des Standesamtes G-Stadt ist nachgewiesen, dass die Klägerin und der Versicherte bereits vor Feststellung des Rezidivs der Erkrankung des Versicherten die Absicht hatten zu heiraten. Eine Erkundigung zu den notwendigen Unterlagen durch beide Partner erfolgt regelmäßig nur dann, wenn tatsächlich bereits eine ernsthafte Heiratsabsicht besteht. Es ist ausreichend, dass sich die Heiratsabsicht insoweit nach außen geäußert hat. Dass die Eltern der Klägerin über die Heiratsabsicht zwar spekuliert haben, diese aber nicht kannten, spielt keine Rolle. Die Ausführungen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung, dass der Kläger zunächst wegen seiner Gesundheit nicht heiraten wollte und dann nach der Annahme, den Krebs überwunden zu haben, den Heiratsentschluss fasste, ist nachvollziehbar. Die Angaben der Klägerin waren detailliert und insgesamt glaubhaft. Dass sie meinte, ihre Eltern über die grundsätzliche Heiratsabsicht informiert zu haben und nur den Termin geheim gehalten zu haben, während ihre Eltern ausgesagt haben, über den Entschluss zur Heirat nicht informiert gewesen zu sein, spricht nicht gegen die Glaubwürdigkeit der Klägerin. Offensichtlich haben die Eltern andere Rückschlüsse aus den Gesprächen mit der Klägerin und dem Versicherten gezogen als die Klägerin.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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