S 11 AY 153/18 ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Landshut (FSB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
11
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 11 AY 153/18 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Wegen einer pflichtwidrigen Einreise ist eine Einschränkung nach § 1a Abs. 4 S. 2 AsylbLG nur für maximal sechs Monate möglich, wenn danach das Verbleiben in Deutschland wegen einer Aufenthaltsgestattung nicht pflichtwidrig ist.
I. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, der Antragstellerin Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für die Zeit vom 04.10.2018 bis zum 31.01.2019 in Höhe von insgesamt 320,14 Euro monatlich, für Oktober 2018 anteilig, zu zahlen.

II. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

III. Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt S ..., ..., ... bewilligt. Ratenzahlungen sind nicht zu erbringen.

Gründe:

I. Die Antragstellerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung, ihr vorläufig weiterhin Leistungen nach § 3 AsylbLG ohne Anspruchseinschränkung zu gewähren. Umstritten ist insoweit eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG.

Die 1982 geborene Antragstellerin ist nigerianische Staatsangehörige und reiste am ...11.2016 mit dem Bus in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie lebt zusammen mit ihren am ...11.2012 und ...05.2014 geborenen Töchtern aus erster Ehe und der am ...07.2018 geborenen Tochter, deren Vater in einer nahegelegenen Asylunterkunft in M. lebt. Der Antragstellerin und ihren Töchtern wurde eine Unterkunft im Landkreis L. zur Verfügung gestellt. Der Antragsgegner erfuhr erst im Juli 2017, dass die Antragstellerin über einen unbefristeten italienischen Aufenthaltstitel sowie einen Reisepass verfügt. Die Antragstellerin lebte zuvor über zehn Jahre lang in Italien. Der Antrag auf Gewährung von Asyl vom 08.12.2016 wurde mit Bescheid vom 17.09.2018 durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) abgelehnt. Die Antragstellerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik binnen 30 Tagen zu verlassen. Über die am 21.09.2018 erhobene Klage der Antragstellerin beim Verwaltungsgericht Regensburg wurde bisher nicht entschieden.

Die Antragstellerin erhielt zunächst für den Zeitraum 01.12.2016 bis 31.07.2017 Leistungen gem. § 3 AsylbLG vom Antragsgegner.

Mit Schreiben 26.07.2017 hörte der Antragsgegner die Antragstellerin zur beabsichtigten Leistungskürzung an. Aus der Akte ist keine Stellungnahme der Antragstellerin zu erkennen.

Mit Bescheid vom 16.08.2017 gewährte der Antragsgegner der Antragstellerin ab dem 01.08.2017 bis voraussichtlich 31.01.2018 Leistungen nach dem AsylbLG nur noch eingeschränkt. Die Antragstellerin erhielt nunmehr Leistungen in Höhe von mtl. 151,11 EUR zzgl. Unterkunft, Energie und Hausrat durch Sachleistung.

Aufgrund der Einreise nach Deutschland trotz des bestehenden Aufenthaltsrechts in Italien würden lediglich Leistungen nach § 1a Abs. 4 AsylbLG gewährt werden. Der Antragstellerin sei erklärt worden, wegen des Aufenthaltsrechtes in Italien die Bundesrepublik Deutschland verlassen zu müssen. Der Nach § 1a Abs. 4 S. 2 AsylbLG seien die Leistungen gem. § 1a Abs. 2 AsylbLG einzuschränken. Mit Bescheid vom 31.01.2018 folgte eine erneute Leistungsbewilligung nach § 1a Abs. 4 S. 2 AsylbLG für den Zeitraum Februar bis Juli 2018. Die tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse seien unverändert. Zuletzt wurden mit Bescheid vom 01.08.2018 Leistungen wieder nach § 1a Abs. 4 S. 2 AsylbLG für den Zeitraum 01.08.2018 bis 31.01.2019 bewilligt. An der Begründung änderte sich nichts.

Mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 05.08.2018 legte die Antragstellerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 01.08.2018 ein. Der Vater der jüngsten Tochter lebe in Deutschland. Eine Ausreise der Mutter führte zu einer dauerhaften Trennung des Kindes von seinem Vater und sei somit unzumutbar. Über den Widerspruch wurde bisher, soweit ersichtlich, noch nicht entschieden.

Mit ihrem Antrag vom 04.10.2018 auf einstweiligen Rechtsschutz hat sich die Antragstellerin, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigten, an das Sozialgericht Landshut gewandt.

Zur Begründung des Antrags wiederholt die Antragstellerin die Begründung des Widerspruchs und ergänzt, dass eine Pflichtverletzung Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 1a Abs. 4 AsylbLG sei. Das Verweilen im Bundesgebiet sei nicht pflichtwidrig. Die Antragstellerin verfüge über keine Rücklagen, dass Existenzminimum sei nicht gesichert.

Die Antragstellerin beantragt:
1. Die aufschiebende Wirkung gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 01.08.2018 anzuordnen und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin ab 04.10.2018 vorläufig Leistungen gem. § 3 AsylbLG zu gewähren.
2. Der Antragstellerin Prozesskostenhilfe zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Die Antragstellerin habe in einer persönlichen Vorsprache am 04.08.2017 angegeben, dass sie auf keinen Fall nach Italien zurückkehren werde. Sie habe dort Probleme. Die Voraussetzungen des § 1a Abs. 4 S. 2 AsylbLG seien eindeutig erfüllt. Hinzu komme, dass die Antragstellerin bis Juli 2017 falsche Angaben zu ihren Identität- und Aufenthaltsdokumenten gemacht habe. Zum Zeitpunkt des Ausschlusses der Rückkehr, sei der Antragstellerin die Rückkehr durchaus möglich und zumutbar gewesen. Das die Anspruchseinschränkung auslösende Fehlverhalten bestehe darin, dass sich die Antragstellerin mit ihren Kindern in das Bundesgebiet begeben habe und dort auf Dauer tatsächlich verweile, obgleich bereits in einem Mitgliedstaat der EU ein unbefristetes Aufenthaltsrecht gewährt worden sei. Eine Korrektur des Fehlverhaltens hätte durch eine Ausreise vollzogen werden können. Der ungerechtfertigte weitere Aufenthalt in Deutschland könne nicht dazu führen, dass durch die Geburt eines weiteren Kindes, dessen Vater in Deutschland lebe, dieser Aufenthalt nun geheilt werde. Nach sechs Monaten erfolge eine regelmäßige Überprüfung, ob die Voraussetzungen noch vorliegen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes sowie dem weiteren Vortrag der Beteiligten wird auf die Akte des Gerichts und die beigezogene Akte der Antragsgegnerin verwiesen.

II.

Der Antrag ist als Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung statthaft, zulässig und begründet.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 01.08.2018. Maßgebend für die Bestimmung, in welcher Weise vorläufiger gerichtlicher Rechtsschutz zu gewähren ist, ist der im Hauptsacheverfahren statthafte Rechtsbehelf. Richtige Klageart im Hauptsacheverfahren wäre eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach §§ 54 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4, 56 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Antragstellerin strebt eine Erweiterung ihrer Rechtspositionen an; daher ist eine einstweilige Anordnung in Form einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG statthaft. Der Eilantrag ist statthaft als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG, weil kein Fall des § 86b Abs. 1 SGG vorliegt. Die Antragstellerin kann ihr Rechtsschutzziel - die (vorläufige) Gewährung höherer Leistungen - nicht mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 01.08.2018 gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG erreichen. Ein Widerspruch gegen die Feststellung einer Einschränkung des Leistungsanspruchs nach § 1a AsylbLG hat zwar keine aufschiebende Wirkung (§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 11 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG). Aus der Anordnung der aufschiebenden Wirkung würde sich aber nur dann die Verpflichtung des Leistungsträgers zur Gewährung höherer Leistungen ergeben, wenn und soweit für den streitigen Zeitraum zuvor höhere Leistungen bewilligt worden wären. Mit dem Bescheid vom 01.08.2018 sind der Antragstellerin jedoch erstmals Leistungen für die Zeit ab August 2018 bewilligt worden.

Der zulässige Antrag auf einstweilige Anordnung in Form einer Regelungsanordnung ist ab Antragstellung begründet.

Einstweilige Anordnungen nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG sind zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Eine solche Anordnung setzt sowohl einen Anordnungsanspruch (das materielle Recht, für das einstweiliger Rechtsschutz geltend gemacht wird) als auch einen Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit im Sinne der Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung, weil ein Abwarten auf eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht zumutbar ist) voraus. Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund müssen glaubhaft sein (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung (ZPO)).

Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vorgegebenen Umfang (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 -) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.

Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers zu entscheiden (BVerfG vom 12.05.2005, a. a. O, Nichtannahmebeschluss vom 15. Januar 2007 - 1 BvR 2971/06 -).

Der Eilantrag ist auch begründet. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung liegen vor. Die Antragstellerin hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Sie gehört, da sie sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhält und wegen des anhängigen Asylverfahrens über eine Aufenthaltsgestattung verfügt, zum Kreis der Leistungsberechtigten gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG, die Anspruch auf Grundleistungen nach §§ 3 ff. AsylbLG haben.

In Betracht kommt allein eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 4 S. 2 AsylbLG. Nach dieser mit dem Integrationsgesetz vom 31.07.2016 eingefügten und zum 06.08.2016 in Kraft getretenen Regelung gilt § 1a Abs. 4 Satz 1 AsylbLG entsprechend für Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 oder 5 AsylbLG, denen bereits von einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union oder einem am Verteilmechanismus teilnehmenden Drittstaat im Sinne von Satz 1 internationaler Schutz oder aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht gewährt worden ist, wenn der internationale Schutz oder das aus anderen Gründen gewährte Aufenthaltsrecht fortbesteht. Der Zweck der Regelung besteht in der Begrenzung der Sekundärmigration insbesondere aus anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nach Deutschland. Nach dem Gesetzentwurf vom 31. Mai 2016 dient sie der Vervollständigung der Regelung nach § 1a Abs. 4 Satz 1 AsylbLG (BT-Drucksache 18/8615, Seite 35), wonach eine Anspruchseinschränkung für bestimmte Fälle vorgesehen ist, in denen ein anderer Mitgliedsstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Bereits im Gesetzgebungsverfahren zu § 1a Abs. 4 AsylbLG in der ab dem 24. Oktober 2015 geltenden Fassung war gefordert worden, dass eine Leistungseinschränkung auch ("erst recht") bei Personen erfolgt, deren Asylverfahren in einem anderen Mitgliedsstaat durch Gewährung eines Schutzstatus bereits positiv abgeschlossen worden sind (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 07. Februar 2018 - L 8 AY 23/17 B ER -, m. w. N.).

Unter Berücksichtigung des dargestellten Normzwecks und des Regelungszusammenhangs hält die Kammer eine teleologische Reduktion von § 1a Abs. 4 S. 2 AsylbLG für geboten. Eine teleologische Reduktion ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut hinsichtlich eines Teils der von ihr erfassten Fälle nicht zur Anwendung kommt, weil der Sinn und Zweck, die Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen gegen eine uneingeschränkte Anwendung sprechen (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 4. Dezember 2014 - B 2 U 18/13 R -, Urteil vom 15. Dezember 2016 - B 5 RE 2/16 R -). Auch das Bayerische Landessozialgericht hält eine teleologische Reduktion des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG aus verfassungsrechtlichen Gründen für geboten. Rein seinem Wortlaut nach wird eine Leistungskürzung allein aus dem Grund vorgenommen, dass der Leistungsberechtigte einem europäischen Asylregime unterworfen ist, ohne dass explizit an ein konkretes Fehlverhalten des Leistungsberechtigten angeknüpft wird. Im Gesetzgebungsverfahren zum Integrationsgesetz wurden (verfassungs-)rechtliche Bedenken an der Norm geäußert. Soweit § 1a Abs. 4 AsylbLG, jedenfalls dem Wortlaut nach, eine Anspruchseinschränkung ohne Anknüpfung an ein Fehlverhalten vorsieht, widerspricht dies dem bisherigen Sanktionssystem sowohl im AsylbLG als auch in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Zweites Buch Sozialgesetzbuch - SGB II) und der Sozialhilfe (Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB XII), wonach die Kürzung der Leistungen stets ein bestimmtes, vorwerfbares Verhalten oder Unterlassen des Leistungsberechtigten zur Voraussetzung hat. Demnach muss es der Leistungsberechtigte selbst in der Hand haben, eine Leistungskürzung zu vermeiden bzw. zu beenden (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 17. September 2018 - L 8 AY 13/18 B ER -, m. w. N.)

§ 1a Abs. 4 S. 2 AsylbLG war zum Zeitpunkt der Einreise der Antragstellerin in die Bundesrepublik am 18.11.2016 bereits in Kraft. Daher konnte der Zweck der Regelung - Begrenzung der Sekundärmigration - zum Zeitpunkt der Einreise erreicht werden.

Eine verfassungskonforme Auslegung erfordert nicht bereits die Annahme, der zu erfüllende Bedarf sei allein das uneingeschränkte soziokulturelle Existenzminimum. Die generelle Verfassungswidrigkeit des § 1a AsylbLG würde im Ergebnis bedeuten, dass sämtliche den Einzelfall betreffenden Sanktionsregelungen, die ein Zurückbleiben des Gesamtleistungsanspruches hinter dem allgemeinen soziokulturellen Existenzminimum zur Folge hätten, als verfassungswidrig einzustufen wären. Eine derartige allgemeine Privilegierung der Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG, insbesondere gegenüber dem Adressatenkreis der Sanktionen nach dem SGB II, ist zudem nicht zu begründen (Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 19. Juni 2014 - L 8 AY 15/13 B ER -). Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seinem Urteil vom 18.07.2012 (Az.: 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) zur Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG aF nicht verhalten. Die Entscheidung bezieht sich auf die Regelungen in § 3 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 und 2, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1, 2 und 3 und Abs. 2 Satz 3 AsylbLG aF und verpflichtet den Gesetzgeber, unverzüglich für den Anwendungsbereich des AsylbLG eine Neuregelung - die sodann zum 01.01.2015 in Kraft getreten ist - zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums zu treffen. Soweit das Bundesverfassungsgericht einfordert, dass die in Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) garantierte Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu relativieren sei, können migrationspolitische Erwägungen, Leistungen an Asylbewerber niedrig zu halten, um Anreize für Wanderbewegungen durch ein zu hohes Leistungsniveau zu vermeiden, in zulässiger Weise nicht weiter erwogen werden. Hieraus folgt aber nicht, dass gegen einreisende Leistungsempfänger keine leistungsrechtlichen Konsequenzen möglich sind. Kernaussage des Urteils des BVerfG vom 18.07.2012 ist, dass nicht zu geringe Leistungen gewährt werden dürfen, die das vollständige Existenzminimum der Einreisenden nicht zu sichern vermögen, um mögliche Nachahmer abzuschrecken. Es ist jedoch durch diese Vorgabe nicht ausgeschlossen, ein - nach Auffassung des Gesetzgebers - pflichtwidriges Verhalten der Antragsteller einzudämmen. Bei einer irregulären Sekundärmigration innerhalb der EU gilt, dass die Ausreise in den zuständigen Dublin-Staat jederzeit möglich ist, weil im Schengenraum eine Bewegungsfreiheit herrscht, die die Bedeutung des staatlichen Territoriums zwar nicht aufhebt, aber dennoch relativiert (Thym in NVwZ 2015, 1625).

Erforderlich ist demnach ein pflichtwidriges Verhalten. Dieses kann vorliegend nur darin zu sehen sein, dass eine Einreise erfolgte, obwohl bereits die Gewährung eines Aufenthaltsrechts (Schutzstatus) in einem anderen EU-Mitgliedstaat bestand.

Als Pflichtverletzung ist indes vorliegend nicht das bloße Verweilen in Deutschland anzusehen. Die Antragstellerin ist derzeit nicht zur Ausreise verpflichtet. Der Antragstellerin ist der Aufenthalt in Deutschland zur Durchführung des Asylverfahrens nach § 55 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) gestattet. Anders wäre dies erst ab dem Zeitpunkt, zu dem die Antragstellerin mit einem (unanfechtbaren) Ausreiseverlangen konfrontiert wird. Gegen den Bescheid des BAMF hat die Antragstellerin Klage erhoben, so dass dieser nicht bestandskräftig und damit gegenüber der Antragstellerin nicht bindend geworden ist.

Nach dem Ablauf der ersten Sanktion für den Zeitraum von sechs Monaten ist vorliegend eine weitere Sanktionierung nicht mehr möglich. Wegen der pflichtwidrigen Einreise ist eine Einschränkung nach § 1a Abs. 4 S. 2 AsylbLG nur für maximal sechs Monate möglich (§ 14 Abs. 1 AsylbLG). § 14 Abs. 2 AsylbLG lässt zudem keine befristeten Kettenanspruchseinschränkungen zu; die Norm ist keine Rechtsgrundlage für Daueranspruchseinschränkungen (Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 14 AsylbLG 1. Überarbeitung, Rn. 14; a. A. Landes-sozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. September 2018 - L 23 AY 19/18 B ER -). Maßgeblich ist der grundrechtlich verbürgte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der eine Abwägung des Individualinteresses (Sicherung des Existenzminimums) und des öffentlichen Interesses (Verhinderung von Missbrauch) erfordert (Wahrendorf in Grube/ Wahrendorf, SGB XII 6. Auflage 2018, § 14 Rn. 8). Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet es, dass ein nicht mehr abänderbares, zurückliegendes Fehlverhalten in einer Sanktion nicht mehr fortwirkt. Die Anspruchseinschränkung ist daher nur bei einer Fortsetzung des pflichtwidrigen Verhaltens aufrecht zu erhalten (BT-Drs. 18/6185, S. 47f). Das Verbleiben in Deutschland ist derzeit wegen der Aufenthaltsgestattung nicht pflichtwidrig. Regelmäßig ist weder in der Stellung eines Asylantrags selbst noch im Verbleiben des Ausländers während des Asylverfahrens bis zur Rechtskraft einer ablehnenden Entscheidung ein Rechtsmissbrauch zu sehen (vgl. BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 - B 8/9b AY 1/07 R -). Das zurückliegende Fehlverhalten (Einreise) wurde bereits (mehrfach) sanktioniert. Eine erneute Sanktionierung scheidet wegen § 14 AsylbLG aus.

Es kann hier somit dahinstehen, ob die Antragstellerin an der Ausreise wegen des Vaters des dritten Kindes gehindert ist und ob für das Beispiel Italien im einstweiligen Rechtsschutz existenzsichernde Leistungen in vollem Umfang bereits deshalb zu gewähren sind, weil die Abschiebung in einen anderen EU-Staat wegen einer dort drohenden unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art 3 EMRK nicht möglich ist (so SG Lüneburg, Beschluss vom 06. Juni 2017 - S 26 AY 10/17 ER -; Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit SG München, S 42 AY 114/18 ER).

Der Antragsgegner sollte dringend überdenken, ob die Auskunft an die Antragstellerin, dass diese wegen des Aufenthaltsrechtes in Italien die Bundesrepublik Deutschland verlassen müsse, aufgrund der derzeitigen Aufenthaltsgestattung der Antragstellerin nicht zurückgenommen bzw. präzisiert werden muss. Eine erneute Anhörung vor Erlass des Bescheides vom 01.08.2018 wurde, soweit ersichtlich, desgleichen nicht durchgeführt.

Auch ein Anordnungsgrund liegt vor. An diesen sind bereits wegen des oben geschilderten funktionalen Zusammenhangs von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund keine hohen Anforderungen zu stellen, da eine große Erfolgsaussicht in der Hauptsache besteht. Im Übrigen ergibt sich die Eilbedürftigkeit auch aus der Tatsache, dass die Antragstellerin sonst längere Zeit unterhalb des (soziokulturellen) Existenzminimums leben müsste.

Der Antragsgegner war daher vorläufig zu verpflichten, der Antragstellerin für die Zeit ab 04.10.2018 (Tag der Antragstellung) Leistungen zu gewähren. Dauer und Höhe der zuzusprechenden Leistungen liegen gemäß § 86b Abs. 1 Satz 4 SGG i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO im Ermessen des Gerichts. Die Dauer orientiert sich an dem Regelungszeitraum des Bescheides vom 01.08.2018. Das Gericht spricht vorläufige Leistungen in beantragter Höhe nach § 3 AsylbLG zu. Dabei wird berücksichtigt, dass Unterkunft, Energie und Wohnungsinstandhaltung, Innenausstattung, Haushaltsgeräte und Haushaltsgegenstände zusätzlich durch Sachleistung gewährt werden. Die Zahlung kann grundsätzlich, soweit möglich, auch durch Warengutscheine erfolgen.

Das Gericht weist ausdrücklich darauf hin, dass Leistungen, die mittels einstweiligen Rechtsschutzes erlangt werden, lediglich vorläufig gewährt werden. Wenn sich im Hauptsacheverfahren herausstellen sollte, dass die Leistungen tatsächlich nicht zustehen, sind die erlangten Leistungen zurückzuzahlen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Der Antragstellerin war Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Verfahrensbevollmächtigten ab Antragstellung zu bewilligen (§ 73a SGG i.V.m. §§ 114 ff ZPO), da die Antragstellerin nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen aus derzeitiger Sicht nicht in der Lage ist, die Kosten der Prozessführung aufzubringen und die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bot und nicht mutwillig erschien. Der Antragstellerin wird aufgegeben, jede Änderung ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse unverzüglich und ohne weitere Aufforderung durch das Gericht mitzuteilen.

Eine Beschwerde gegen diesen Beschluss ist gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ausgeschlossen, weil auch in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig wäre, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,- EUR nicht übersteigt. Streitig ist die Differenz zwischen den begehrten Leistungen nach § 3 AsylbLG in Höhe von 320,14 Euro und den abgesenkten Leistungen, wie sie mit Bescheid vom 01.08.2018 in Höhe von 151,11 EUR für die Zeit von Oktober 2018 bis Januar 2019 bewilligt wurden. Diese beläuft sich auf 169,03 EUR monatlich, so dass sich die Beschwer des Antragsgegners für die Zeit vom 04.10.2018 bis zum 31.01.2019 in Höhe von unter 700 EUR ergibt.

Rechtsbehelfsbelehrung

Dieser Beschluss ist gemäß § 172 Abs.3 Nr.1 SGG unanfechtbar, da die Berufung in der Hauptsache nicht zulässig wäre.

Der Vorsitzende der 11. Kammer
Rechtskraft
Aus
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