L 4 AS 275/17

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 23 AS 632/15
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 AS 275/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Antrags auf Überprüfung von Bescheiden betreffend Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 1. Dezember 2012 bis zum 31. Mai 2013.

Der 1965 geborene Kläger war im streitgegenständlichen Zeitraum erwerbsfähig und als Außenrequisiteur und Ausstatter selbstständig tätig. Hieraus erzielte er Einnahmen in unterschiedlicher Höhe. Mit Bescheid vom 31. Oktober 2012 bewilligte der Beklagte ihm zunächst vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 1.112,58 Euro für den Monat Dezember 2012 und in Höhe von monatlich 1.116,58 Euro für den Zeitraum vom 1. Januar 2013 bis zum 31. Mai 2013. Ab dem 1. Januar 2013 wurden dem Kläger infolge der Anhebung der Regelsätze und einer Erhöhung seiner Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung tatsächlich monatlich 1.150,07 Euro gewährt (vgl. dazu die Übersicht auf Blatt 216 der Leistungsakte). Hierbei wurde – unter Zugrundelegung der vom Kläger für diesen Zeitraum prognostizierten Einnahmen – kein bedarfsmindernd anzurechnendes Einkommen berücksichtigt. Nachdem der Kläger abschließende Angaben zu seinen tatsächlichen Betriebseinnahmen und -ausgaben in diesem Zeitraum gemacht hatte, erließ der Beklagte am 20. März 2014 einen Bescheid, mit dem er dem Kläger für den Zeitraum vom 1. Dezember 2012 bis zum 31. Mai 2013 endgültig Leistungen in Höhe von 0,00 Euro monatlich bewilligte. Hierbei berücksichtigte der Beklagte nach Abzug von Freibeträgen ein monatliches Einkommen in Höhe von 1.749,14 Euro. Mit Erstattungsbescheid gleichen Datums forderte der Beklagte vom Kläger die Erstattung der für den genannten Zeitraum vorläufig erbrachten Leistungen in voller Höhe, d.h. insgesamt 6.862,93 Euro. Der Kläger erhob weder gegen den Bewilligungs- noch gegen den Erstattungsbescheid Widerspruch.

Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 20. Juni 2014 beantragte der Kläger "rein vorsorglich" die Überprüfung "sämtlicher Bescheide des letzten Jahres, d.h. ab dem 20. Juni 2013" nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), ohne diesen Antrag zu begründen. Der Beklagte lehnte den Antrag auf Überprüfung der Bescheide vom 20. März 2014 betreffend den Zeitraum vom 1. Dezember 2012 bis zum 31. Mai 2013 mit Bescheid vom 23. Juni 2014 ab: Die Bescheide seien nicht zu beanstanden; bei ihrem Erlass sei das Recht richtig angewandt und von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen worden. Hiergegen erhob der Kläger am 25. Juli 2014 Widerspruch, der wiederum nicht begründet und vom Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 19. Januar 2015 zurückgewiesen wurde. Zur Begründung führte der Beklagte aus, Anhaltspunkte für eine falsche Entscheidung seien weder genannt noch aus den Unterlagen ersichtlich. Der Bescheid entspreche den gesetzlichen Bestimmungen. Der Widerspruchsbescheid wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 21. Januar 2015 zugestellt.

Am 21. Februar 2015 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht erhoben. Die Bescheide seien unbestimmt, da nicht erkennbar sei, in welcher Höhe Abzüge in Ansatz gebracht worden seien. Er habe im streitgegenständlichen Zeitraum nicht gearbeitet. Ihm hätten die vollen Leistungen für den Lebensunterhalt und die Kosten der Unterkunft zugestanden. Die Versicherungspauschale sei nicht berücksichtigt worden. Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 23. Juni 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Januar 2015 zu verurteilen, ihn unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Mit Gerichtsbescheid vom 28. Februar 2017 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zu Recht habe der Beklagte den Überprüfungsantrag des Klägers abgelehnt. Der Antrag des Klägers sei nicht hinreichend bestimmt und konkret gewesen, um eine inhaltliche Überprüfungspflicht des Beklagten auszulösen. Der Gerichtsbescheid war mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen, die darauf hinwies, dass er nicht mit der Berufung angefochten werden könne. Er ist dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 7. März 201 zugestellt worden.

Am 10. April 2017, einem Montag, hat der Kläger Nichtzulassungsbeschwerde zum Landessozialgericht erhoben. Nachdem der Senat darauf hingewiesen hat, dass entgegen der Rechtsmittelbelehrung des Gerichtsbescheids die Berufung auch ohne Zulassung durch das Gericht zulässig ist, hat der Kläger mit Schreiben vom 25. August 2017 die Nichtzulassungsbeschwerde zurückgenommen und zugleich Berufung eingelegt. Die Berufung ist nicht begründet und ein Berufungsantrag nicht formuliert worden.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Mit Beschluss vom 1. März 2018 hat der Senat die Berufung nach § 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) der Berichterstatterin zur Entscheidung mit den ehrenamtlichen Richtern übertragen.

In der mündlichen Verhandlung am 10. September 2018, zu der der Kläger nicht persönlich erschienen ist, hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers einen bei ihm bereits am 11. Juni 2018 eingegangenen Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 4. Juni 2018 vorgelegt, mit dem über das Vermögen des Klägers wegen Zahlungsunfähigkeit das Insolvenzverfahren eröffnet und ein Insolvenzverwalter eingesetzt worden ist. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat dazu erklärt, er gehe davon aus, dass das Verfahren infolge der Insolvenzeröffnung gem. § 240 ZPO unterbrochen sei und sehe deshalb von einer Antragstellung ab. Er hat hieran auch nach dem (nicht protokollierten) Hinweis des Senats, dass von einer Unterbrechung des Verfahrens nicht auszugehen sei, festgehalten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte sowie der Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

I. Eine Entscheidung, die gem. § 153 Abs. 5 SGG durch die Berichterstatterin und die ehrenamtlichen Richter zu treffen war, konnte trotz Ausbleibens des Klägers in der mündlichen Verhandlung ergehen, weil der Kläger ordnungsgemäß geladen und auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 110 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG).

Der Senat war ferner nicht durch eine Unterbrechung des Verfahrens an der Entscheidung des Rechtsstreits gehindert. § 202 SGG i.V.m § 240 Zivilprozessordnung (ZPO) bestimmt, dass ein Verfahren, welches die Insolvenzmasse betrifft, durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer Partei unterbrochen wird, bis es nach den für das Insolvenzverfahren geltenden Vorschriften aufgenommen oder das Insolvenzverfahren beendet wird. Hintergrund dieser Regelung ist, dass der Schuldner mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über sein zur Insolvenzmasse gehörendes Vermögen verliert und an seine Stelle der Insolvenzverwalter tritt. Voraussetzung einer Unterbrechung ist jedoch, dass das Verfahren die Insolvenzmasse (§§ 35, 36 Insolvenzordnung, InsO), d.h. das pfändbare Vermögen des Schuldners betrifft. Hingegen tritt keine Unterbrechung ein, wenn lediglich eine wirtschaftliche Beziehung zur Masse besteht, oder nur unpfändbare Gegenstände (wobei "Gegenstände" auch Forderungen und sonstige Vermögensrechte meint, vgl. Keller, in: Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur InsO, 9. Aufl. 2018, § 36 Rn. 9), höchstpersönliche oder nicht vermögensrechtliche Ansprüche betroffen sind (vgl. Greger, in: Zöller, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 240 Rn. 8a).

Das hiesige Verfahren betrifft nicht die Insolvenzmasse in diesem Sinne: Gegenstand des Rechtsstreits ist die Frage, ob der Beklagte den Überprüfungsantrag des Klägers rechtmäßig abgelehnt hat. Dabei geht es vorrangig darum, welche Anforderungen an einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X zu stellen sind und in welchem Ausmaß sich ein Leistungsträger (und später das Gericht) durch unbegründete Anträge zur Überprüfung veranlasst sehen muss. Die Frage, ob der Beklagte zu Recht eine Erstattungsforderung gegen den Kläger geltend macht, stellt sich allenfalls nachrangig und nur für den Fall, dass eine umfassende Überprüfungspflicht des Beklagten bzw. des Gerichts angenommen werden kann. Hier kommt hinzu, dass der Kläger lediglich beantragt hat, den Beklagten zur Neubescheidung seines Überprüfungsantrags zu verurteilen, nicht aber zur Aufhebung bzw. Abänderung der Bescheide vom 20. März 2014. Auch bei einer diesem Antrag entsprechenden Entscheidung wäre daher über das Schicksal der Forderung des Beklagten gegen den Kläger noch nicht abschließend befunden. Bereits aus diesem Grund ist die Insolvenzmasse jedenfalls nicht direkt betroffen. Daneben und vor allem berührt aber auch die Forderung, die der Beklagte mit dem Erstattungsbescheid vom 20. März 2014 (auf der Grundlage des endgültigen Bewilligungsbescheids vom 20. März 2014) erhebt, nicht die Insolvenzmasse. Denn es handelt sich um eine Forderung nach Erstattung vorläufig gewährter Leistungen, die wegen der Erzielung von Einkommen erhoben wird. Wie das Bundessozialgericht mit Urteil vom 16. Oktober 2012 (B 14 AS 188/11 R, dort zu einer Erstattungsforderung aufgrund von Einkommen aus einer Betriebs- und Heizkostenerstattung), dem der Senat sich insoweit anschließt, entschieden hat, werden Verfahren um derartige Forderungen durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht unterbrochen. Dies begründet sich daraus, dass Einkommen des Insolvenzschuldners, welches bei der Deckung seines Bedarfs nach dem SGB II zu berücksichtigen ist, nicht der Pfändung und Zwangsvollstreckung unterliegt (§ 54 SGB I i.V.m. §§ 850 ff., 850 i ZPO) und damit nicht Teil der Insolvenzmasse wird (vgl. BSG a.a.O., Rn. 20 m.w.N.; hierzu auch Loose/Pieperjohanns, ZFSH/SGB 2018, S. 79, 83). Soweit der Kläger sich demgegenüber auf die Entscheidung des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. Januar 2009 (L 8 AL 110/08) beruft, kann er damit nicht durchdringen. Diese Entscheidung, die zudem zeitlich vor dem zitierten Urteil des Bundessozialgerichts erging, hat die Zugehörigkeit der dort streitigen Erstattungsforderung (Rückforderung von Überbrückungsgeld wegen gleichzeitiger Erzielung von Erwerbseinkommen) zur Insolvenzmasse einfach angenommen, ohne dies in irgendeiner Weise zu begründen.

II. Die Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig. Sie ist insbesondere nicht wegen Fristversäumnis unzulässig. Der erstinstanzliche Gerichtsbescheid enthielt mit dem Hinweis auf die Unzulässigkeit der Berufung eine fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung, weshalb nicht die einmonatige Berufungsfrist des § 151 Abs. 1 SGG, sondern die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG zur Anwendung kommt (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 151 Rn. 8).

Die Berufung ist aber nicht begründet. Der Beklagte hat den Antrag des Klägers auf Überprüfung der Bescheide vom 20. März 2014 zu Recht abgelehnt. Wie das Sozialgericht mit zutreffender Begründung dargelegt hat, war der Beklagte nicht verpflichtet, die Bescheide vom 20. März 2014 einer umfassenden Überprüfung zu unterziehen.

§ 44 SGB X dient dazu, den Konflikt zwischen der Bindungswirkung eines (rechtswidrigen) Verwaltungsakts einerseits und der materiellen Rechtmäßigkeit (und damit Gerechtigkeit) andererseits zugunsten letzterer zu lösen. Dies setzt jedoch voraus, dass der Behörde der Konflikt in diesem Sinne überhaupt bekannt ist. Eine allgemeine Pflicht der Behörde, den Verwaltungsakt unter ständiger Kontrolle zu halten oder ohne Anlass regelmäßige Überprüfungen von bestandskräftigen Verwaltungsakten durchzuführen, besteht dabei nicht (vgl. BSG, Urteil vom 13.2.2014 – B 4 AS 22/13 R, Rn. 19 m.w.N. und Urteil vom 28.10.2014 – B 14 AS 39/13 R, Rn. 15; Baumeister in: jurisPK-SGB X, § 44 SGB X, Rn. 133 m.w.N.). Voraussetzung für eine Prüfpflicht ist ein konkreter Anlass für eine derartige Prüfung. Ein Überprüfungsantrag des Betroffenen kann ein solcher Anlass sein, auch hier gilt jedoch, dass nicht jeder Antrag eine umfassende Prüfpflicht auslöst. Vielmehr kann die Behörde einen Überprüfungsantrag mit dem Hinweis auf fehlende neue Gesichtspunkte für die Rechtswidrigkeit ablehnen, wenn der Antragsteller keine entsprechenden Gründe in seinem Antrag vorbringt und der Behörde auch darüber hinaus keine solchen Gründe bekannt werden. Sie ist nicht gezwungen, von sich aus eine vollständige Sachverhalts- oder Rechtsprüfung durchzuführen, wenn dazu objektiv keine Veranlassung gegeben ist (BSG, Urteil vom 13.2.2014 – B 4 AS 22/13 R, Rn. 19; Baumeister a.a.O., Rn. 135).

Der Kläger hatte seinen Überprüfungsantrag bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids nicht begründet und es ist nicht erkennbar, dass dem Beklagten sonstige Anhaltspunkte für eine falsche Entscheidung bekannt waren oder sich hätten aufdrängen müssen. Folglich handelte der Beklagte nach den genannten Maßstäben rechtmäßig, als er den Überprüfungsantrag des Klägers unter Hinweis darauf ablehnte, Anhaltspunkte für eine falsche Entscheidung seien weder genannt noch aus den Unterlagen ersichtlich und der Bescheid entspreche den gesetzlichen Bestimmungen.

Unerheblich ist insoweit, dass der Kläger – wenn auch nur ansatzweise und pauschal – im Klageverfahren seinen Überprüfungsantrag näher konkretisiert hat. Denn für die Beurteilung, ob und inwieweit der Antrag eine Prüfpflicht des Leistungsträgers auslöst, ist auf die zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung zu diesem Überprüfungsantrag vorgetragenen tatsächlichen und/oder rechtlichen Anhaltspunkte abzustellen (vgl. dazu BSG, Urteil vom 13.2.2014 – B 4 AS 22/13, Rn. 16 und Urteil vom 28.10.2014 – B 14 AS 39/13 R, Rn. 20).

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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