L 9 SO 397/18 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 2 SO 102/18 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 397/18 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 07.05.2018 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig die ungedeckten Heimpflegekosten der Antragstellerin für ihre vollstationäre Unterbringung im Haus der Begegnung, D Str. 00, S, ab dem 01.10.2017 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache - längstens bis zum 28.02.2019 - zu übernehmen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die notwendigen, außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

Gründe:

Der Antrag der Antragstellerin, den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zur Gewährung von Leistungen zur Pflege in einer stationären Einrichtung zu verpflichten, hat Erfolg.

1. Der zulässige Antrag ist begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung [ZPO]). Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun der überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Bestehens von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12.Aufl., § 128 Rn. 3d), wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (vgl. BSG, Beschluss vom 07.04.2011 - B 9 VG 15/10 B -, juris Rn. 6).

Allerdings ergeben sich aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) und Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn - wie hier - die Gewährung existenzsichernder Leistungen im Streit steht. Aus Art. 19 Abs. 4 GG folgen dabei Vorgaben für den Prüfungsmaßstab. Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats v. 06.08.2014 - 1 BvR 1453/12 -, juris Rn. 10, 12).

a. Dies zugrunde gelegt, besteht nach summarischer Prüfung ein Anordnungsanspruch.

Der Anspruch ergibt sich auf Grundlage von § 19 Abs. 3 i.V.m. §§ 61 S. 1, 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 5, 65 SGB XII.

Hilfen zur Gesundheit, Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, Hilfe zur Pflege, Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten und Hilfen in anderen Lebenslagen werden gemäß § 19 Abs. 3 SGB XII nach dem Fünften bis Neunten Kapitel dieses Buches geleistet, soweit den Leistungsberechtigten, ihren nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartnern und, wenn sie minderjährig und unverheiratet sind, auch ihren Eltern oder einem Elternteil die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach den Vorschriften des Elften Kapitels dieses Buches nicht zuzumuten ist.

Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen, ist nach § 61 S. 1 SGB XII Hilfe zur Pflege zu leisten.

Die Antragstellerin, der im streitigen Zeitraum der Pflegegrad 4 zuerkannt wurde, hat danach grundsätzlich Anspruch auf Hilfe zur Pflege in Form stationärer Pflege gemäß §§ 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 5, 65 SGB XII, soweit sie bedürftig im Sinne von §§ 19 Abs. 3, 61 S. 1 SGB XII war und ist. § 19 Abs. 3 SGB XII nimmt für die Prüfung der Bedürftigkeit Bezug auf §§ 85 ff. sowie §§ 90 f. SGB XII (vgl. Grube, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 6. Aufl., § 19 Rn. 5).

Die Antragstellerin ist bedürftig im Sinne dieser Vorschriften, weil sie nicht in der Lage ist, mit ihrem Einkommen und Vermögen die Heimkosten zu tragen.

Das monatliche Einkommen in Form einer Witwenrente in Höhe von 848,25 Euro und einer Rente in Höhe von 356,96 Euro sowie der Zahlungen der Pflegekasse in Höhe von 1.775,00 Euro genügt nicht, um die laufenden Heimkosten zu decken. Vielmehr verbleiben offene Kosten von monatlich etwa 800,00 - 820,00 Euro. Zwar verfügt die Antragstellerin über nachgewiesenes Vermögen in Höhe von ungefähr 5.600,00 Euro. Der darin enthaltene Bestattungsvertrag mit einem Wert von 5.005,50 Euro ist jedoch nicht zu berücksichtigen, so dass die Restsumme den Freibetrag nicht übersteigt. Insoweit gehen sowohl die Antragstellerin als auch der Antragsgegner davon aus, dass der Bestattungsvertrag zum nicht verwertbaren Vermögen im Sinne von § 90 Abs. 3 S. 1 SGB XII gehört, was der Senat mangels entgegenstehender Anhaltspunkte im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zugrunde legt (vgl. zur Bestattungsvorsorge BSG, Urteil vom 18.03.2008 - B 8/9b SO 9/06 R - juris Rn. 21; OVG NRW, Beschluss vom 13.08.2014 - 12 A 1001/13 - juris Rn. 3; Steimer, in: Mergler/Zink, SGB XII, 17.EL, § 90 Rn. 77; Lücking, in: Hauck/Noftz, SGB XII,37.EL, § 90 Rn. 101).

Entgegen der Ansicht des Antragsgegners wird dessen Verpflichtung zur Leistungsgewährung nicht dadurch ausgeschlossen, dass über einen Zeitraum von 2008 bis 2015 erhebliche Vermögenswerte von der Antragstellerin und ihrem verstorbenen Ehemann von den Konten abgehoben worden sind und der Verbleib bisher nicht abschließend geklärt werden konnte. Zwar gehen Zweifel an der Bedürftigkeit grundsätzlich zu Lasten der Antragstellerin (vgl. Beschluss des Senats vom 27.06.2016 - L 9 SO 251/16 B ER). Zwischen den Beteiligten ist jedoch zu recht nicht streitig geworden, dass aktuell weder auf den Konten noch in sonstiger Form - abgesehen von etwa 5.600,00 Euro - nennenswertes Vermögen feststellbar ist. Aus den sämtlichst vor der Antragstellung erfolgten Abhebungen und Umbuchungen ergeben sich zum jetzigen Zeitpunkt nach summarischer Prüfung keine ernsthaften Zweifel an der Bedürftigkeit der Antragstellerin. Dabei ist einerseits zu berücksichtigen, dass insbesondere die unklaren Abhebungen aus den Jahren 2008 bis 2014 bereits aufgrund der zeitlichen Entfernung zur Antragstellung keine Hinweise auf das Vorhandensein von Vermögen geben können (vgl. Beschluss des Senats vom 27.06.2016 - L 9 SO 251/16 B ER, wo die Abhebungen im Jahr der Antragstellung erfolgten). Hinsichtlich der Jahre 2008 bis 2013 kommt hinzu, dass die unklaren Abhebungen lediglich eine Höhe erreichten (2008 i.H.v. 10.250,00 Euro, 2009 i.H.v. 3.600,00 Euro, 2010 i.H.v. 3.500,00 Euro, 2011 i.H.v. 8.000,00 Euro, 2012 i.H.v. 6.500,00 Euro sowie 2013 i.H.v. 9.500,00 Euro), die ohne Weiteres von der Antragstellerin und ihrem verstorbenen Ehemann, z.B. für tägliche Besorgungen oder die Freizeitgestaltung, nachvollziehbar verbraucht worden sein können (vgl. Beschluss des Senats vom 27.06.2016 - L 9 SO 251/16 B ER, wo die Abhebungen sich auf 95.500,00 Euro summierten). Soweit im Jahr 2014 17.000,00 Euro abgehoben worden sind, stehen diesen nachgewiesene Ausgaben in Höhe von 2.998,80 Euro gegenüber. Die verbleibenden 14.001,20 Euro erreichen ebenfalls keine Höhe, die unter Berücksichtigung des Umstandes, dass dieser Betrag zwei Personen zuzuordnen ist, Anlass für Zweifel begründen. Zwar sind im Jahr 2015 am 22.04.2015 weitere 19.000,00 Euro vom Konto abgehoben worden. Dies war zeitlich aber immer noch knapp 11 Monate vor der Stellung des Antrags beim Antragsgegner am 09.03.2016, so dass nachvollziehbar ist, dass auch davon entsprechende Gelder, u.a. für die Krankengymnastik, verbraucht worden sind. Andererseits ist bei der Bewertung der offenen Abbuchungen zu berücksichtigen, dass nach Aktenlage die Gelder vom Ehemann der Antragstellerin, ggf. auch vom Sohn, verwaltet worden sind. Weder aus der Akte, noch aus dem Vortrag ergibt sich, dass die Antragstellerin selbst über die abgehobenen Gelder hat jemals verfügen können. Die Gesamtumstände sprechen vielmehr dafür, dass die Antragstellerin nicht über weiteres Vermögen verfügt und seit 2017 auch nicht mehr verfügt hat, um die noch offenen Heimkosten zu tragen (vgl. zum Zeitpunkt der Prüfung der Bedürftigkeit Beschluss des Senats vom 30.05.2018 - L 9 SO 152/18 B ER). Dabei berücksichtigt der Senat nicht nur, dass für den Erlass der einstweiligen Anordnung eine Glaubhaftmachung, d.h. eine überwiegende Wahrscheinlichkeit des Bestehens des Anspruches, genügt, sondern auch die oben zitierten verfassungsrechtlichen Maßstäbe.

b. Darüber hinaus besteht ein Anordnungsgrund. Das Abwarten des Hauptsacheverfahrens stellt sich für die Antragstellerin als unzumutbar dar.

Es entspricht der aktuellen Rechtsprechung des Senats, dass jedenfalls mit Erhebung einer Räumungsklage eine Eilbedürftigkeit gegeben ist (vgl. Beschluss des Senats vom 27.06.2016 - L 9 SO 251/16 B ER). So liegt der Fall auch hier. Die Beigeladene hat vor dem Landgericht eine entsprechende Zahlungs- und Räumungsklage erhoben. Ihre Forderung hat sie - insbesondere nach Zahlungen des LWL - für die Vergangenheit (bis Mai 2017) entsprechend angepasst, gleichwohl die Räumungsklage wegen der weiterhin bestehenden Rückstände aufrechterhalten.

Eine Eilbedürftigkeit ist aber nicht nur im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (vgl. Beschluss des Senats vom 09.06.2016 - L 9 SO 427/15 B ER - juris Rn. 8 f. - sowie Beschluss des Senats vom 05.02.2018 - L 9 SO 557/17 B ER; ebenso LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.11.2011 - L 9 KR 23/11 B ER -, juris Rn. 1; Bayerisches LSG, Beschluss vom 31.01.2012 - L 11 AS 982/11 B ER -, juris Rn. 17; LSG NRW, Beschluss vom 11.10.2016 - L 11 KR 259/16 B ER -, juris Rn. 29; Burkiczak, in: jurisPK-SGG, § 86b Rn. 370) gegeben, sondern auch für den Zeitraum davor.

Zwar besteht in der Regel kein Anordnungsgrund, sofern Geldleistungen für die Vergangenheit begehrt werden (vgl. Beschluss des Senats vom 15.01.2018 - L 9 AL 3/18 B ER; LSG NRW, Beschluss vom 11.10.2016 - L 11 KR 259/16 B ER -, juris Rn. 29; LSG NRW, Beschluss vom 01.12.2017 - L 19 AS 2138/17 B ER -, juris Rn. 5; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, § 86b Rn. 35a; Burkiczak, in: jurisPK-SGG, § 86b Rn. 369). Etwas anderes gilt jedoch, wenn durch die Ablehnung der Zahlungen für die Vergangenheit gegenwärtig ein schwerer, irreparabler und unzumutbarer Nachteil droht und damit ein besonderer Nachholbedarf durch die Verweigerung der Leistungen in der Vergangenheit auch in der Zukunft noch fortwirkt (vgl. zum Maßstab: Beschluss des Senats vom 11.09.2017 - L 9 SO 386/17 B ER - sowie vom 05.02.2018 - L 9 SO 557/17 B ER; Bayerisches LSG, Beschluss vom 31.01.2012 - L 11 AS 982/11 B ER - juris Rn. 18; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, § 86b Rn. 35a). Eine derart definierte Ausnahmesituation ist zu bejahen. Die Beigeladene hat hinreichend klar dargelegt, dass sie auf die Räumung der Wohnung nur bei Begleichung der rückständigen Miete verzichten werde (vgl. zu diesem Anknüpfungspunkt Beschluss des Senats vom 30.05.2018 - L 9 SO 152/18 B ER). Das folgt bereits aus dem Umstand, dass sie die bereits erhobene Räumungsklage beim Landgericht Bochum trotz einer durch den Landschafsverband Westfalen-Lippe erfolgten Zahlung und der damit einhergehenden erheblichen Reduzierung der Forderung aufrechterhalten hat. Diese Klage ruht auch lediglich bis zum 31.08.2018, so dass deren Fortsetzung unmittelbar bevorsteht. Die Beigeladene hat in diesem Zusammenhang auch mit Schriftsatz vom 12.07.2018 ausdrücklich erklärt, von der Räumungsklage Abstand zu nehmen, wenn die offenen und laufenden Heimkosten übernommen würden. Damit besteht für die Antragstellerin die unmittelbare Gefahr, bei Verpflichtung des Antragsgegners ausschließlich für die Zukunft gleichwohl die Wohnung zu verlieren und damit obdachlos zu werden. Der Antragstellerin droht damit auch gegenwärtig ein schwerer, irreparabler und unzumutbarer Nachteil, weil auch nicht anzunehmen ist, dass sie aufgrund der bestehenden Schulden in der Lage sein wird, ein anderes Pflegeheim zu finden.

c. Der Senat hat dem Charakter der einstweiligen Anordnung als vorläufige Regelung entsprechend den Zeitraum der Verpflichtung bis zum 28.02.2019 begrenzt (vgl. Beschluss des Senats vom 30.05.2018 - L 9 SO 152/18 B ER). Zur Überzeugung des Senats bietet dies ausreichend Zeit, um im Hauptsacheverfahren eine Klärung der Vermögensverhältnisse der Antragstellerin herbeizuführen. Der darüber hinausgehende Antrag war daher abzulehnen.

Darüber hinaus hat der Senat die Verpflichtung des Antragsgegners auf die Zeit ab dem 01.10.2017 beschränkt, weil ausweislich der von der Beigeladenen mit Schriftsatz vom 12.07.2018 übersandten Anlagen die erste offene Rechnung den Monat Oktober 2017 (und sodann fortlaufend) betrifft.

2. Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung der §§ 183 S. 1, 193 Abs. 1 S. 1 SGG.

3. Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG mit der Beschwerde nicht angreifbar.
Rechtskraft
Aus
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