L 6 U 3407/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 3 U 1934/15
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 U 3407/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 26. Juli 2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40 v. H. statt 30 v. H. für die Zeit vom 1. April 2003 bis zum 31. Dezember 2012 im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X).

Der 1952 geborene Kläger war als Werkstattleiter bei der optische Strahlführungs- und Positionierungssysteme herstellenden XXX in X beschäftigt und in dieser Eigenschaft bei der Beklagten gesetzlich unfallversichert.

Am 9. Mai 2000 war der Kläger nach dem Ende seiner Arbeit um 16:30 Uhr mit seinem Motorrad auf dem Weg von dort nach Hause. Bei einem Verkehrsunfall mit einem Pkw gegen 16:35 Uhr in X auf Höhe der Ausfahrt X stürzte er bei einem starken Bremsmanöver und fiel auf seine rechte Schulter (Unfallanzeige des Arbeitgebers vom 21. Juli 2000). Er erlitt eine subcapitale Humerusfraktur rechts mit einem Tuberkulum majus Abriss (Durchgangsarztbericht vom 11. Mai 2000). Es erfolgte eine stationäre Behandlung in der Abteilung Unfallchirurgie der Universitätsklinik X vom 9. Mai 2000 bis 16. Mai 2000, bei der am 11. Mai 2000 eine Doppelplattenosteosynthese vorgenommen wurde, die inter- und postoperativ komplikationslos verlief (Zwischenbericht des Universitätsklinikums vom 16. Mai 2000).

Nach Erstattung des Ersten Rentengutachtens von Prof. Dr. Sü. vom 3. November 2000, wonach die MdE 25 v. H. bis 9. Mai 2002 und voraussichtlich 20 v. H. bis zur Beendigung des dritten Jahres nach dem Unfall wegen der unfallbedingten eingeschränkten Beweglichkeit des rechten Schultergelenks (Beweglichkeit des rechten Schultergelenks für die Bewegung Arm seitwärts/körperwärts: 130-0-15°, Arm rückwärts/vorwärts: 20-0-115°, Auswärts /Einwärtsdrehen – Oberarm anliegend: 10-0-80°, Auswärts-/Einwärtsdrehen – Oberarm 90° seitlich: 30-0-25°) betrage, erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 5. Dezember 2000 den Unfall als Arbeitsunfall und als dessen Folge eine deutliche Bewegungseinschränkung des rechten Schultergelenkes nach knöchern ausgeheiltem Oberarmmehrfragmentbruch mit noch einliegendem Metall (Osteosynthesematerial) an. Zugleich gewährte sie ihm eine Rente als vorläufige Entschädigung ab dem 1. Juli 2000 bis auf Weiteres nach einer MdE von 25 v. H.

Die Beklagte holte zur Rentennachprüfung das Zweite Rentengutachten bei Prof. Dr. Sü. vom 17. Mai 2002 ein, worin dieser nach Untersuchung am 8. Mai 2002 im Röntgenbefund eine beginnende Teilnekrose des Humeruskopfes rechts feststellte und ausführte, dass Nacken- und Schürzengriff rechts nicht möglich seien und links vollständig gelängen. Es habe sich eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung im rechten Schultergelenk bei peripher unauffälliger Durchblutung, Motorik und Sensibilität gezeigt (Beweglichkeit des rechten Schultergelenks für die Bewegung Arm seitwärts/körperwärts: 55-0-15°, Arm rückwärts/vorwärts: 5-0-80°, Auswärts-/Einwärtsdrehen – Oberarm anliegend: 0-0-45°, Auswärts-/Einwärtsdrehen – Oberarm 90° seitlich: nicht durchführbar). Die Schultergürtelmuskulatur sei symmetrisch ausgeprägt. Die Erwerbsfähigkeit sei weiter um 25 v. H. gemindert.

Zur Prüfung einer Rente auf unbestimmte Zeit holte die Beklagte zudem das Zweite Rentengutachten bei Prof. Dr. Sü. vom 29. März 2003 ein. Danach bestünden nach Untersuchung am 12. März 2003 weiter deutliche Bewegungseinschränkungen im Bereich des rechten Schultergelenkes (Arm seitwärts/körperwärts: 70-0-15°, Arm rückwärts/vorwärts: 15-0-70°, Auswärts-/Einwärtsdrehen – Oberarm anliegend: 10-0-30°, Auswärts-/Einwärtsdrehen – Oberarm 90° seitlich: 10-0-20°), weshalb er eine MdE von 30 v. H. vorschlug. Mit Bescheid vom 6. Mai 2003 bewilligte die Beklagte dem Kläger anstelle der bisherigen Rente als vorläufige Entschädigung eine Rente auf unbestimmte Zeit ab 1. April 2003 nach einer MdE von 30 v. H.

Der Kläger erhielt Krankengymnastik zu Lasten der Beklagten, die ihm sein behandelnder Facharzt für Orthopädie Dr. Ko. rezeptierte. Im H-Arzt-Bericht vom 22. August 2005 teilte dieser den Röntgenbefund einer ausgedehnten Humeruskopfnekrose mit arthrotischen Anlagerungen im Bereich des Humeruskopfes medianseitig mit und erhob Bewegungsmaße des rechten Schultergelenkes für die Abduktion bis zu 60°, für die Anteversion bis zu 35° und für die Retroversion bis zu 20°. Die Außenrotation sei um ein Drittel eingeschränkt.

Mit am 3. Dezember 2012 bei der Beklagten eingegangenem Schreiben verlangte der Kläger vertreten durch seinen späteren Prozessbevollmächtigten die Überprüfung der Bescheide vom 5. Dezember 2000 und vom 6. Mai 2003. Zudem machte er eine Verschlimmerung der Unfallfolgen geltend.

Daraufhin ließ die Beklagte den Kläger erneut von Prof. Dr. Sü. begutachten, der in seinem Gutachten vom 29. April 2013 als wesentliche Unfallfolgen eine posttraumatische Bewegungseinschränkung des rechten Schultergelenks, insbesondere für die Abduktion, Außenrotation, Retroflexion und Innenrotation sowie eine knöchern konsolidierte Humeruskopf-4-Partfraktur mit Humeruskopfnekrose und ausgeprägter glenohumeraler Arthrose, einliegendes Osteosynthesematerial und Narbenbildung diagnostizierte und eine MdE von 40 v. H. vorschlug. Am Untersuchungstag 15. April 2013 erhob Prof. Dr. Sü. folgende Bewegungsmaße des rechten Schultergelenks: Arm seitwärts/körperwärts: 40-0-20°, Arm rückwärts/vorwärts: 10-0-30°, Auswärts-/Einwärtsdrehen – Oberarm anliegend: 0-0-50°, Auswärts /Einwärtsdrehen – Oberarm 90° seitlich: nicht durchführbar.

Auf Nachfrage der Beklagten vom 30. Januar 2014, ob bereits vor dem 1. Januar 2013 eine höhere MdE als 30 v. H. vorliege und falls ja, ab welchem Zeitpunkt, antwortete Prof. Dr. Sü. am 7. April 2014, dass es bei einem schleichenden Prozess wie einer Humeruskopfnekrose retrospektiv nicht möglich sei, genau festzustellen, ab welchem Zeitpunkt innerhalb von 10 Jahren bis zur aktuellen Begutachtung eine Veränderung der MdE stattgefunden habe.

Mit Bescheid vom 18. Februar 2014 gewährte die Beklagte dem Kläger rückwirkend ab 1. Januar 2013 eine Rente nach einer MdE von 40 v. H., wogegen er Widerspruch erhob, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 6. Februar 2015 zurückwies. Im dagegen beim Sozialgericht Freiburg (SG) geführten Klageverfahren (S 13 U 732/15) begehrte er eine Rente nach einer MdE von 50 v. H. statt 40 v. H. ab dem 1. Januar 2013. Das SG holte in diesem Verfahren auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das Gutachten des Facharztes für Orthopädie und Chirurgie Prof. Dr. Stock vom 5. Oktober 2015 ein, der darin ausführte, dass eine MdE von 50 v. H. rückwirkend vom 1. Januar 2013 zuerkannt werden sollte. Gestützt auf das Gutachten von Prof. Dr. Sü. vom 29. April 2013 wies das SG mit Gerichtsbescheid vom 28. Dezember 2016 die Klage ab. Die hiergegen erhobene Berufung ist vom erkennenden Senat mit Urteil vom gleichen Tag abgewiesen worden (L 6 U 149/17).

Den Überprüfungsantrag hinsichtlich der Bescheide vom 5. Dezember 2000 (vorläufige Rente nach einer MdE von 25 v. H. vom 1. Juli 2000 bis 31. März 2003 wegen des ab dann ersetzenden Bescheides vom 6. Mai 2003) und vom 6. Mai 2003 (Rente nach einer MdE von 30 v. H. vom 1. April 2003 bis zum 31. Dezember 2012 wegen des ab dann ersetzenden Bescheides vom 18. Februar 2014) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 13. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 17. April 2015 ab.

Der dagegen hinsichtlich der Überprüfung des Bescheides vom 5. Dezember 2000 geführte Rechtsstreit blieb beim SG (Gerichtsbescheid vom 28. Dezember 2015 - S 13 U 1898/15), Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG, Urteil vom 27. Juli 2016 - L 3 U 175/16) und Bundessozialgericht (BSG, Beschluss vom 17. November 2016 - B 2 U 229/16 B) erfolglos, weil der Vier-Jahres-Zeitraum des § 44 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. Juli 2000 bis 31. März 2003 verstrichen sei.

Hinsichtlich der Überprüfung des Bescheides vom 6. Mai 2003 hat der Kläger gegen den hier insoweit streitgegenständlichen Bescheid vom 13. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 17. April 2015 am 27. April 2015 Klage beim SG erhoben und im Wesentlichen geltend gemacht, dass bereits im Zeitraum vom 1. April 2003 bis 31. Dezember 2012 eine Verletztenrente nach einer MdE von 40 v. H. statt 30 v. H. angemessen sei, weil schon im Jahr 2003 eine OP-Indikation und Schultergelenksnekrose bestanden hätten und die MdE-Einschätzung von Prof. Dr. Sü. deshalb zu gering gewesen sei. Die Beklagte hat eine Stellungnahme ihres Beratungsarztes Dr. Theobald (Facharzt für Chirurgie/Unfallchirurgie) vom 19. Mai 2015 vorgelegt, worin dieser ausführt, dass die in den Gutachten von Prof. Dr. Sü. vor demjenigen vom 29. April 2013 erhobenen Bewegungsmaße eine MdE von 40 v. H. nicht rechtfertigten, weil die Leitfunktion im Schultergelenk – die Armanhebung nach vorne – nicht entsprechend eingeschränkt gewesen sei.

Mit Urteil vom 26. Juli 2016 hat das SG die Klage abgewiesen. Bis zum 31. Dezember 2012 lasse sich eine höhere MdE als 30 v. H. nicht feststellen. Eine entsprechende Änderung der Befunde habe Prof. Dr. Sü. erst 2013 festgestellt. Auf ausdrückliche Nachfrage habe er mitgeteilt, dass es sich bei einer Nekrose um einen schleichenden Prozess handele und er einen früheren Zeitpunkt, zu dem bereits eine MdE von 40 v. H. vorgelegen habe, objektiv nicht feststellen könne.

Gegen die ihm am 21. August 2016 zugestellte Entscheidung hat der Kläger am 9. September 2016 Berufung beim LSG eingelegt, die er trotz Ankündigung nicht begründet hat.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 26. Juli 2016 aufzuheben und den Bescheid vom 13. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 17. April 2015 teilweise aufzuheben sowie die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 6. Mai 2003 zurückzunehmen und ihm eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 40 vom Hundert vom 1. April 2003 bis zum 31. Dezember 2012 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Sie trägt vor, dass alle entscheidungserheblichen Tatsachen berücksichtigt worden und Rechtsfehler nicht erkennbar seien.

Für einen etwaigen Antrag nach § 109 SGG hat der damalige Berichterstatter dem Kläger mit am 26. Januar 2017 zugestellten Schreiben eine Frist bis zum 28. Februar 2017 gesetzt. Ein solcher ist nicht gestellt worden.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die Gerichtsakten S 13 U 732/15, L 6 U 149/17 und S 13 U 1898/15 sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (§ 124 Abs. 2 SGG), ist form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden sowie im Übrigen zulässig, insbesondere statthaft (§§ 143, 144 Abs. 1 SGG), aber unbegründet.

Gegenstand dieses Rechtsmittelverfahrens ist das angefochtene Urteil des SG vom 26. Juli 2016, mit dem die als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG; vgl. BSG, Urteil vom 11. April 2013 - B 2 U 34/11 R -, SozR 4-2700 § 200 Nr. 4, Rz. 30 m.w.N. zur Zulässigkeit einer Kombination von solchen Klagen) erhobene Klage, mit welcher der Kläger unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 13. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. April 2015 die Verpflichtung der Beklagten zur Rücknahme des Bescheides vom 6. Mai 2003 und Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 40 v. H. statt 30 v. H. vom 1. April 2003 bis zum 31. Dezember 2012 wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 9. Mai 2000 begehrt hat, abgewiesen wurde.

Die Berufung ist unbegründet, da mangels gegebener Voraussetzungen für die Bewertung der Unfallfolgen mit einer höheren MdE als 30 v. H. für die Zeit vom 1. April 2003 bis zum 31. Dezember 2012 der Bescheid vom 6. Mai 2003 nicht rechtswidrig und folglich auch nicht zurückzunehmen ist. Maßgeblich ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Berufungsverfahrens (vgl. Keller, in Mayer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 12. Aufl. 2017, § 54 Rz. 34 und § 55 Rz. 21), mangels Durchführung einer solchen indes derjenige der Entscheidung.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist, soweit es sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

Ziel dieser Norm ist es, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zugunsten letzterer aufzulösen (vgl. BSG, Urteil vom 4. Februar 1998 - B 9 V 16/96 R -, SozR 3-1300 § 44 Nr. 24, Rz. 16). Ist ein Verwaltungsakt rechtswidrig, haben Betroffene einen einklagbaren Anspruch auf Rücknahme des Verwaltungsaktes unabhängig davon, ob dieser durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt wurde (BSG, Urteil vom 28. Januar 1981 - 9 RV 29/80 -, BSGE 51, 139, 141). Auch wenn Betroffene schon einmal einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gestellt haben, darf die Verwaltung ein erneutes Begehren nicht ohne Rücksicht auf die wirkliche Sach- und Rechtslage zurückweisen (Urteil des Senats vom 23. Juni 2016 - L 6 VG 5048/15 -, juris, Rz. 51).

Die Voraussetzungen von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X sind vorliegend indes nicht erfüllt. Der bestandskräftigen Entscheidung im Bescheid vom 6. Mai 2003 liegt keine unrichtige Sach- und Rechtsanwendung zugrunde. Die mit Bescheid vom 5. Dezember 2000 bindend (§ 77 SGG) festgestellten Arbeitsunfallfolgen bedingen im Zeitraum vom 1. April 2003 bis zum 31. Dezember 2012 keine MdE von mehr als 30 v. H.

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Um ihr Vorliegen beurteilen zu können, ist zunächst zu fragen, ob das aktuelle körperliche oder geistige Leistungsvermögen beeinträchtigt ist. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang dadurch die Arbeitsmöglichkeiten der versicherten Person auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens vermindert werden. Entscheidend ist, in welchem Ausmaß Versicherte durch die Folgen des Versicherungsfalls in ihrer Fähigkeit gehindert sind, zuvor offenstehende Arbeitsmöglichkeiten zu ergreifen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 123). Die Bemessung des Grades der MdE erfolgt als Tatsachenfeststellung des Gerichts, die dieses gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (BSG, Urteil vom 18. Januar 2011 - B 2 U 5/10 R -, juris, Rz. 16 m.w.N.). Die zur Bemessung der MdE in Rechtsprechung und Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind dabei zu beachten. Sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen ständigem Wandel (BSG, Urteil vom 22. Juni 2004 - B 2 U 14/03 R -, BSGE 93, 63, 65).

Nach diesen Maßstäben steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Folgen des Arbeitsunfalles vom 9. Mai 2000 im Zeitraum vom 1. April 2003 bis zum 31. Dezember 2012 nicht mit einer höheren MdE als 30 v. H. zu bewerten sind.

Der Senat folgt damit der Einschätzung von Prof. Dr. Sü. in seinem Gutachten vom 29. März 2003, das der Senat im Wege des Urkundsbeweises gemäß § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung (ZPO) verwertet. Wegen vielfältiger dreidimensionaler Bewegungseinschränkung ist nach der unfallmedizinischen Literatur die Schultervorhebung als Hauptkriterium zu werten (Schönberger/Mehrtens/Valentin, 9. Aufl. 2017, S. 560). Auch wenn das Schultergelenk schwer geschädigt ist, muss hierbei auch die voll funktionsfähige Hand des Klägers, die noch bei der Begutachtung durch Prof. Dr. Stock kraftvoll und unbehindert war, was auch die Funktionsmaße bestätigen, berücksichtigt werden, weil diese so wichtig ist (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.o.O., S. 560 unter ausdrücklichem Hinweis auf Arens, Unfallh. 126 (1976), 195, 196). Diesbezüglich konnte der Kläger bei Prof. Dr. Sü. zum damaligen Zeitpunkt rechts noch eine Vorhebung von 70° erreichen. Während nach den Erfahrungswerten der Unfallmedizin bei einer Bewegungseinschränkung vorwärts bis 90° eine MdE von 20 v. H. empfohlen wird, ist bei einer Versteifung von Schultergelenk und Schultergürtel in Funktionsstellung (30° Vorwärts- und Seitwärtshebung und 30° Innendrehung) eine MdE von 40 angemessen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O.; Mehrhoff/Ekkernkamp/Wich, Unfallbegutachtung, 13. Aufl. 2012, S. 169). Die mit einer Vorhebung von 70° zwischen diesen Bereichen liegende Beeinträchtigung des Klägers wurde daher von Prof. Dr. Sü. nachvollziehbar – und auch aus Sicht des Senats zutreffend – mit einer MdE von 30 v. H. beurteilt. In den Gutachten vor dem 29. März 2003 stellt Prof. Dr. Sü. zudem noch bessere Werte für die Armvorhebung fest (80° im Gutachten vom 17. Mai 2002 und 115° im Gutachten vom 3. November 2002), so dass diese eine höhere MdE erst recht nicht in Betracht kommen lassen, worauf auch Dr. Theobald in seiner Stellungnahme vom 19. Mai 2015 zu Recht hinweist.

Das Vorliegen einer Verschlimmerung der Unfallfolgen, so dass diese mit einer MdE von 40 zu bewerten sind, ist vielmehr erstmals zum Zeitpunkt der Untersuchung bei Prof. Dr. Sü. am 15. April 2013 belegt. Für einen bereits davor liegenden Zeitpunkt lässt sich der Eintritt einer Verschlimmerung – für den der Kläger die objektive Beweislast trägt – hingegen nicht nachweisen. Insoweit hatte die Beklagte Prof. Dr. Sü. mit Schreiben vom 30. Januar 2014 ausdrücklich um Klärung gebeten, ob bereits ab einem Zeitpunkt vor dem 1. Januar 2013 eine höhere MdE als 30 v. H. vorliege, und dieser hat in seiner Antwort vom 7. April 2014 deutlich gemacht, dass es bei einem schleichenden Prozess wie einer Humeruskopfnekrose retrospektiv nicht möglich ist, genau mitzuteilen, ab welchem Zeitpunkt innerhalb von 10 Jahren bis zur aktuellen Begutachtung eine Veränderung der MdE stattgefunden hat. Tatsächlich war im Gutachten vom 17. Mai 2002 im Röntgenbefund eine beginnende Teilnekrose des Humeruskopfes rechts festgestellt worden, während sich im Gutachten vom 29. April 2013 eine knöchern konsolidierte Humerkopf-4-Partfraktur mit Humeruskopfnekrose und ausgeprägter glenohumeraler Arthrose zeigte. In dem Zeitraum dazwischen hat sich der nekrotische Zustand verschlechtert, ohne dass ein Anhalt für einen konkreten früheren Zeitpunkt als den 1. Januar 2013 besteht, zu dem bereits eine Verschlimmerung auf einen mit einer MdE von 40 v. H. zu bewertenden Zustand eingetreten sein könnte. Der Kläger ist zudem – was auch das SG bereits dargelegt hat – außer der Krankengymnastik nicht weitergehend behandlungsbedürftig zu Lasten der Beklagten gewesen und konnte wieder seiner Arbeit nachgehen. Aus dem Jahr 2005 ist lediglich der H-Arzt-Bericht von Dr. Ko. vom 22. August 2005 aktenkundig, in dem der Röntgenbefund einer ausgedehnten Humeruskopfnekrose mit arthrotischen Anlagerungen im Bereich des Humeruskopfes medianseitig mitgeteilt wird. Die ebenfalls mitgeteilten Bewegungsmaße einer Vorhebung bis 35° und Seithebung bis 60° erreichen in ihrer Vergleichbarkeit mit einer Versteifung von Schultergelenk und Schultergürtel in Funktionsstellung (30° Vorwärts- und Seitwärtshebung und 30° Innendrehung) aber noch keine MdE von 40 v. H. (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O.).

Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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