L 6 SB 4494/17

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 15 SB 3355/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 4494/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. Oktober 2017 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung der Feststellung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches "außergewöhnliche Gehbehinderung", also die Aufhebung der Zuerkennung des Merkzeichens "aG".

Sie ist mazedonische Staatsangehörige, wurde 1946 geboren und besuchte acht Jahre die Schule, ohne anschließend eine Berufsausbildung zu absolvieren. Stattdessen half sie ihren Eltern in der Landwirtschaft. Aus ihrer Ehe gingen drei 1965, 1969 und 1971 geborene Kinder hervor. Eine weitere Tochter verstarb in den 1960er-Jahren im Alter von wenigen Wochen. Die Klägerin reiste Ende der 1980er-Jahre in die Bundesrepublik Deutschland ein, kehrte jedoch nach kurzer Zeit in ihr Heimatland zurück, um die pflegebedürftigen Eltern ihres Ehemannes zu betreuen. Seit deren Tod Ende der 1990er-Jahre hält sie sich dauerhaft im Bundesgebiet auf, ging jedoch nie einer beruflichen Tätigkeit nach, sondern kümmerte sich nach eigenen Angaben ausschließlich um den Haushalt. 2003 wurde bei ihr ein wechselnd differenziertes schleimbildendes Adenokarzinom des Magens im Stadium IV mit Übergreifen auf das angrenzende Fettgewebe und zahlreichen Metastasen im Bereich der Lymphknoten entlang der kleinen und einer an der großen Kurvatur festgestellt, welches mit einer Chemotherapie behandelt wurde. Das Landratsamt B. stellte mit Bescheid vom 28. März 2006 den GdB mit 100 ab 1. Dezember 2003 fest.

Nachdem die Klägerin im Juli 2006 die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" beantragt hatte, ging Dr. L. in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme von August 2006 in Auswertung der ärztlichen Befundunterlagen und der Angaben in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme von August 2006 in Bezug auf Erkrankungen der Speisenröhre und des Magens einschließlich eines pathologischen Refluxes des Mageninhaltes, den späteren Verlust dieses Organs, eine Funktionsstörung der Gallenwege sowie ein psychovegetatives Erschöpfungssyndrom bereits insoweit von einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 aus, weswegen sie ohne fremde Hilfe kaum noch das Bett verlassen könne und auf die Unterstützung durch ihren Ehemann angewiesen sei, insbesondere um die Toilette aufzusuchen. Daraufhin stellte das Landratsamt B. mit Bescheid vom 22. August 2006 neben den Voraussetzungen für die Merkzeichen "G", "B" und "H", deren Anerkennung die Klägerin ebenfalls begehrte, auch diejenigen für den Nachteilsausgleich "aG" ab 29. Mai 2006 fest.

Der Bescheid vom 20. Oktober 2010, mit dem dieser Verwaltungsträger unter Bezugnahme auf den Bescheid vom 28. März 2006 unter anderem die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" aufhob, und der Widerspruchsbescheid vom 13. April 2011 wurden im Verfahren S 14 SB 2859/11 beim Sozialgericht Stuttgart (SG) mit Gerichtsbescheid vom 13. September 2012 aufgehoben, weil die Anerkennung dieses Nachteilsausgleiches nicht mit der erwähnten Verwaltungsentscheidung aufgehoben worden sei, sondern mit dem Bescheid vom 22. August 2006. Das SG hatte Dr. Schu., Internist, Dr. He., Facharzt für Orthopädie, sowie Dr. Schü., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, zu Sachverständigen bestellt, wobei Dr. Schu. das Hauptgutachten erstatten sollte. Dr. Schu. stellte im März 2012 mit Hilfe eines Dolmetschers für die mazedonische Sprache eine leichte Lungenfunktionseinschränkung fest, wobei die Kooperation insgesamt schwierig gewesen sei. Gleichwohl habe sich auch formal kein sicherer Anhalt für eine bedeutsame restriktive oder obstruktive Ventilationsstörung ergeben. Die gemessenen Werte seien wahrscheinlich eher schlechter als die tatsächliche Funktion. Dr. He. erkannte im gleichen Monat keine Einschränkung der Gehfähigkeit durch die Gesundheitsstörungen auf seinem Fachgebiet. Die Klägerin habe keine Gehstützen verwendet und sei auf deren Benutzung auch nicht angewiesen. Nach der Untersuchung der Klägerin im selben Zeitraum, bei welcher derselbe Dolmetscher wie bei Dr. Schu. anwesend war, diagnostizierte Dr. Schü. eine Anpassungsstörung (ICD-10 F43.2) und eine Polyneuropathie (ICD-10 G63.2), welche nicht mit Funktionsbehinderungen einhergegangen sei. Anhaltspunkte für eine etwaige Angststörung oder eine somatoforme Störung bei den geklagten zahlreichen, in den Einzelheiten diffus bleibenden Körperbeschwerden seien nicht erkannt worden. Ein gravierender psychiatrischer Befund sei nicht festgestellt worden. Ihre Gehfähigkeit sei allein aus neurologisch-psychiatrischer Sicht nicht beeinträchtigt gewesen. Bei den erschwerten Gehprüfungen, insbesondere ohne Sichtkontrolle, seien keine Einschränkungen vorhanden gewesen. Sie sei weder auf Gehstützen noch auf fremde Hilfe angewiesen gewesen. In ihrer Gehstrecke sei sie nicht limitiert gewesen.

In ihrer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Oktober 2012 bewertete Dr. Ma. einen Diabetes mellitus, eine Fettstoffwechselstörung und eine Polyneuropathie mit einem Einzel-GdB von 50, Erkrankungen der Speisenröhre und des Magens, einschließlich eines pathologischen Refluxes des Mageninhaltes, den späteren Verlust dieses Organs und eine Funktionsstörung der Gallenwege mit einem Einzel-GdB von 40 sowie eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 20. Eine Depression, funktionelle Organbeschwerden und ein psychovegetatives Erschöpfungssyndrom, eine Lungenfunktionseinschränkung sowie ein Bluthochdruck rechtfertigten jeweils keinen Einzel-GdB von mehr als 10, weshalb ein Gesamt-GdB von 80 ausreichend sei. Eine erhebliche und außergewöhnliche Beeinträchtigung der Gehfähigkeit liege objektiv nicht mehr vor. Daraufhin hörte das Landratsamt B. die Klägerin mit Schreiben vom 12. Oktober 2012 dazu an, dass insbesondere auch die Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" nicht mehr vorlägen. Mit Bescheid vom 9. November 2012, der am 12. November 2012 abgesandt wurde, hob dieser Verwaltungsträger unter anderem die mit Bescheid vom 22. August 2006 getroffene Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" ab 15. November 2012 auf.

Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und legte das Schreiben der X-Pflegekasse X von Oktober 2013 vor, wonach bei ihr weiterhin die Pflegestufe II festgesetzt wurde. Nach der Untersuchung der Klägerin am 23. Oktober 2013 führte der Pflegegutachter B. in seiner Expertise zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) aus, an Diagnosen, welche eine Pflege begründeten, seien Bewegungseinschränkungen bei mehrfachen Gelenkschmerzen und chronischem Schmerzsyndrom, kognitive Einschränkungen und eine starke Antriebsminderung bei einer Depression, eine Blasendrang- und teilweise Darminkontinenz sowie als weitere Diagnosen der Zustand nach einer Magenentfernung nach einem Adenokarzinom im Stadium IV mit Teilentfernung der Speiseröhre bei der Bildung von Metastasen und ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus festgestellt worden. An Hilfsmitteln benutze die Klägerin unter anderem einen Handgehstock, Inkontinenzprodukte und einen Duschstuhl. 2011 habe der Verdacht bestanden, dass Karzinom schreite fort. Dies habe sich bislang nicht bestätigt. Hingegen habe die Depression weiter zugenommen. Die Klägerin sei wegen deren medikamentöser Behandlung sehr müde und stark antriebsgemindert. Bei einer Körpergröße von 1,55 m habe sie 85 kg gewogen. Das Gangbild sei kleinschrittig und unter Verwendung von Hilfsmitteln, einschließlich des Festhaltens an Möbeln, teilweise unsicher gewesen. Dies hänge stark von der Tagesform ab. Das Stehen sei ihr sicher möglich gewesen, wenn sie sich habe festhalten könne. Wenn sie ein Möbelstück zu greifen bekommen habe, sei es ihr gelungen, vom Stuhl aufzustehen. Das Bett habe sie verlassen können, wenn sie sich teils an Möbeln festgehalten und teils personelle Hilfe erhalten habe. Zu den pflegebezogenen Verrichtungen müsse sie teilweise begleitet werden. Um in die Badewanne zu gelangen, benötige sie personelle Hilfe. Die kardiopulmonale Belastbarkeit sei aktuell nicht eingeschränkt gewesen. Immer wieder träten Schwindel bei Lageveränderungen auf. Sie gehe nur, wenn sie beaufsichtigt werde. Beim Treppensteigen sowie beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung benötige sie jeweils keine Unterstützung.

Dr. St., Ärztin für Allgemeinmedizin, berichtete im April 2014, die Klägerin könne die Arztbesuche nur in Begleitung ihres Ehemannes erledigen, weil sie die deutsche Sprache nicht verstehe. Sie sei orientierungslos und unbeholfen. Sie könne sich alleine überhaupt nicht zurechtfinden. Sie sei von der Hilfe ihres Ehemannes dauernd abhängig. Wegen ihrer Unselbstständigkeit und Hilfebedürftigkeit seien auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" gegeben.

Dem Widerspruch wurde mit Bescheid vom 11. April 2014 teilweise abgeholfen, so dass nunmehr weiterhin ein GdB von 100 sowie die Voraussetzungen für die Merkzeichen "G", "B" und "H" festgestellt blieben. Diejenigen für die Anerkennung des Nachteilsausgleiches "aG" wurden hingegen weiterhin nicht mehr angenommen. Der aufrechterhaltene Widerspruch wurde vom Regierungspräsidium Stuttgart mit Widerspruchsbescheid vom 20. Mai 2014 zurückgewiesen.

Hiergegen hat die Klägerin am 13. Juni 2014 Klage beim SG erhoben, welches Dr. St. als sachverständige Zeugin befragt hat. Im September 2014 hat sie ausgeführt, ihre Gehstrecke sei erheblich eingeschränkt. Die Ursachen seien multifaktoriell. Es bestünden chronische Gelenkschmerzen und ein chronisches Schmerzsyndrom, eine starke Antriebsminderung bei Depressionen sowie zusätzlich eine Blasen- und Darminkontinenz. Sie benutze einen Gehstock. Etwa fünf Minuten könne sie am Stück gehen und benötige anschließend eine Pause von zehn Minuten. Für die Strecke von der Wohnung bis zur Bushaltestelle seien 30 Minuten einzuplanen, was eine sehr große Anstrengung für sie bedeute. Sie sei überhaupt nur in Begleitung ihres Ehemannes dazu in der Lage. Sie habe schlicht und ergreifend keine Kraft in den Beinen und klage über eine Dyspnoe. Die Gehstrecke sei abhängig von der Tagesform. Meist könne sie maximal einmal wiederholt zurückgelegt werden, das aber nicht täglich. Die Gehbehinderung sei vergleichbar mit derjenigen einer schwer herzinsuffizienten Patientin.

Das SG hat Dr. Be., Fachärztin für Orthopädie, mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Nach einer ambulanten klinischen und röntgenologischen Untersuchung am 25. August 2015 hat die Klägerin kundgetan, sie leide an Schmerzen im Bereich der Halswirbelsäule ohne Funktionseinschränkung bei degenerativen Veränderungen im Segment C5/6, Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule bei degenerativen Veränderungen im Segment L5/S1 mit einer geringen Seitabweichung, wobei eine Funktionseinschränkung nicht habe geprüft werden können, Kniegelenksbeschwerden rechts bei freier Funktion ohne Reizerscheinung bei beginnender medialer Arthrose und beginnender Retropatellararthrose, Knieschmerzen links bei beginnender medialer Arthrose bei freier Funktion ohne Reizerscheinung, Hüftgelenksbeschwerden beidseits bei freier Beweglichkeit und radiologisch unauffälligem Befund sowie Schultergelenksbeschwerden beidseits mit einer Bewegungseinschränkung. Wegen der degenerativen Veränderungen im Bereich der Kniegelenke seien Schmerzen bei der Belastung nachvollziehbar. Es hätten sich jedoch keine Funktionseinschränkungen und keine Reizerscheinungen gezeigt, so dass das bei der klinischen Untersuchung vorliegende langsame Gangbild nicht erklärbar sei. Dass sie bei längerem Gehen Beschwerden haben könne, sei glaubhaft. Wegen der degenerativen Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule, welche nur gering ausgeprägt seien, sei eine Einschränkung der Gehfähigkeit nicht festzustellen. Eine solche wegen der Beschwerden im Bereich der Hüftgelenke liege weder klinisch noch radiologisch vor. Bei der Untersuchung habe die Klägerin keine Gehstützen mit sich geführt. Sie habe anfänglich auf dem Flur, wenn auch langsam, sicher laufen können. Aufgrund der vorliegenden klinischen und radiologischen Befunde sei eine Einschränkung der Gehstrecke von orthopädischer Seite nicht erklärbar. Inwieweit eine außergewöhnliche Gehfähigkeit ob eines Ganzkörperschmerzes bei einer Depression, die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" begründeten, könne aus orthopädischer Sicht nicht beurteilt werden.

Beim Untersuchungstermin, zu dem ein Dolmetscher für die mazedonische Sprache hinzugezogen worden ist, ist der Ehemann der Klägerin anwesend gewesen. Dieser habe nach kurzer Rücksprache mit dem Dolmetscher alles berichtet. Lediglich bei der Befragung durch Letzteren habe sich die Klägerin geäußert, ansonsten sei sie nur stumm dagesessen. Schmerzmittel nehme sie keine ein. Eine medikamentöse Therapie sei wegen der internistischen Probleme erfolgt. Sie stehe um 8 Uhr auf, woraufhin ihr der Ehemann Insulin spritze. Auf der Toilette müsse er ihr helfen. Im Haushalt erledigte sie gar nichts mehr, sie mache insgesamt nichts mehr. Gegen Mittag gehe er etwa eine Stunde mit ihr ins Freie. Sie könne immer nur fünf bis zehn Minuten laufen, dann benötige sie eine Pause. Sie könne maximal eine Strecke von 200 bis 300 m zurücklegen. Die Depression sei das größte Problem. Ihr tue alles weh. Sie habe Schmerzen an der Hals- und Lendenwirbelsäule. Solche Beschwerden äußerten sich auch in beiden Knien, weshalb sie nicht mehr laufen könne. Sie sei im Wartezimmer aus dem Stuhl langsam, aber allein und ohne Hilfe aufgestanden. Sie sei 10 m über den Flur mit einem kleinschrittigen, langsamen Gangbild geschritten und habe sich dann wieder hingesetzt. Das nochmalige Aufstehen sei sicher gelungen. Eine Funktionsprüfung der Wirbelsäule sei wegen einer fehlenden Compliance nicht durchzuführen gewesen. Die Prüfung der Halswirbelsäule habe keine Beschwerden verursacht und eine freie Beweglichkeit gezeigt. Der Kinn-Sternum-Abstand habe 0 cm betragen. Die Reklination sei bis 30° gelungen. Die Drehung nach beiden Seiten sei bis 50° möglich gewesen. Die Seitneigung nach beiden Seiten sei um 40° ohne Schmerzen vorgenommen worden. Ein Schwindelgefühl beim Drehen des Kopfes sei nicht ausgelöst worden. Beim Stehen ohne Schuhe habe die Klägerin einen sicheren Stand gezeigt. Beim Gehen habe sie einen sehr langsamen Bewegungsablauf demonstriert, wobei sie primär über den gesamten Flur habe schreiten können. Im Zimmer sie sie nur wenige Schritte gegangen, dann sei sie immer wieder stehengeblieben. Sie habe die Füße beim Gehen nicht angehoben, sondern sie beidseits über den Boden gezogen, was für depressive Patientinnen typisch sei. Weitere Untersuchungen aus dem Stehen hätten nicht durchgeführt werden können. Die Untersuchung der Hüften habe eine freie Rotation beidseits gezeigt. Die Flexion und Extension sei beidseits frei gewesen. Bei der Inspektion der Kniegelenke hätten sich äußerlich keine Auffälligkeiten gezeigt, weder eine Schwellung noch eine Ergussbildung. Die Muskulatur sei seitengleich ausgebildet. Ein Hinweis auf Entzündungszeichen habe nicht vorgelegen. Die Prüfung der Beweglichkeit der Kniegelenke habe keine Einschränkung ergeben. Die Funktionsprüfung der Kreuzbänder habe keinen Anhalt auf eine Schubladenbewegung erbracht, weder einer vorderen noch einer hinteren. Die Seitenbänder der Kniegelenke seien beidseits unauffällig gewesen, eine Instabilität habe nicht vorgelegen. Die Inspektion der Unterschenkel habe keinen Hinweis auf Ödeme oder Schwellungen ergeben. Es habe sich kein Anhalt auf eine Varikosis ergeben. Hautveränderungen im Sinne von postthrombotischen Veränderungen hätten nicht vorgelegen. Die Sprunggelenke und Füße seien funktionell unauffällig gewesen. Ein Druckschmerz sei überall angegeben worden, wobei sie über Ganzkörperschmerzen geklagt habe, was für eine Depression typisch sei. Die Röntgenaufnahme der Lendenwirbelsäule habe eine geringe Seitabweichung und eine geringe Verschmälerung des Segmentes L5/S1 ergeben. Eine Einschränkung der Gehfähigkeit könne daraus nicht abgeleitet werden. Bei der Untersuchung habe sie über Schmerzen im Bereich beider Hüften geklagt. Die Beweglichkeit sei bei der passiven Bewegung frei gewesen und ohne Äußerung von Schmerzen vorgenommen worden. Die Röntgenaufnahme der Hüfte habe einen unauffälligen Befund ergeben, so dass eine Einschränkung der Gehfähigkeit nicht zu belegen sei. Weiter habe sie über Beschwerden in beiden Kniegelenken geklagt. Diese hätten sich reizlos, ohne Schwellung und Ergussbildung gezeigt. Die Beweglichkeit sei passiv völlig frei gewesen. Schmerzen seien nicht geäußert worden. Leichte Krepitationen rechts beim Durchbewegen unter der Kniescheibe seien tastbar gewesen. Radiologisch hätten sich eine geringe Verschmälerung des mittleren Gelenkspaltes und eine geringe Retropatellararthrose ergeben, so dass Beschwerden bei der Belastung glaubhaft seien. Eine Einschränkung der Gehleistung sei bei reizlosem Befund jedoch nicht zu sehen gewesen. Auf der linken Seite habe sich radiologisch ebenfalls nur eine beginnende mediale Gonarthrose im Sinne einer Verschmälerung des medialen Gelenkspaltes gezeigt.

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat Prof. Dr. Br. ein nervenärztliches Gutachten erstattet. Nach ihrer ambulanten Untersuchung am 9. August 2016 hat er geäußert, auf seinen Fachgebieten leide die Klägerin an einer mittelgradigen depressiven Episode und einer schwerwiegenden Konversionsneurose. Hieraus resultierten vielerlei Funktionsdefizite. Insbesondere sei die Klägerin unfähig, selbstständig zu gehen oder gar unbeschwert voranzuschreiten. Die Gehfähigkeit sei massiv beeinträchtigt. Es handele sich um ein schwerwiegendes seelisches Leiden, wobei deren Symptome dem Bewusstsein der Klägerin entzogen seien. Sie werde in ihrer Motorik weitgehend von ihrem Unterbewusstsein gesteuert, besser gesagt behindert. Die Klägerin sei beim Gehen durchweg auf Stützen oder dergleichen angewiesen. Unentwegt nehme sie solche Hilfen in Anspruch. Würden ihr diese nicht zuteil, verweigere sie unbewusst voranzugehen. Die Persönlichkeit von Menschen mit konversionsneurotischen Störungen werde traditionell mit kindlichen und narzisstischen Zügen beschrieben. Sie seien kaum in der Lage, ihre Konflikte und vor allem Gefühlszustände verbalisierend zum Ausdruck zu bringen. Sie neigten zu dramatischen Darstellungen und hätten eine große Begabung, ihre Konflikte zu verdrängen, was bis zur kompletten Abspaltung aus dem Bewusstsein gehe. Solche Menschen lebten ohne Mittelpunkt und hätten weder einen festen Halt noch eine bestimmte innere Orientierung. Es bleibe ihnen eine kindliche Note in Gebaren, Haltung, Kleidung und Lebensführung. Zudem sei, wie auch im Falle der Klägerin, eine narzisstische Selbstbezogenheit vorhanden. Diese benutze ihren Ehemann dazu, sie auszuleben. Die Fähigkeit zur Darstellung geschehe zu einem erheblichen Teil unbewusst. Über die Ursache ihrer schwerwiegenden seelischen Erkrankung können jedoch nur spekuliert werden.

Die Klägerin habe bei der gutachtlichen Untersuchung nicht deutsch gesprochen. Eine Befragung sei nur möglich gewesen, indem ein Dolmetscher für die mazedonische Sprache hinzugezogen worden sei. Hin und wieder habe auch der bei der Exploration anwesende Ehemann eine Anmerkung zu ihrer gesundheitlichen Verfassung gemacht. Sie habe erwähnt, etwa seit der Zeit, als das Magenkarzinom aufgetreten sei, an einer Polyarthralgie zu leiden. Vor allem seien die Kniegelenke betroffen, weshalb sie tagein und tagaus Schmerzen habe. Nachts wache sie deswegen auf. Ohne die Hilfe ihres Ehemannes oder die Benutzung eines Rollators vermöge sie lediglich mühsam eine Gehstrecke von 200 m zurückzulegen. Abends habe sie oft geschwollene Beine. Es träten häufig Krämpfe auf. An Medikamenten habe sie Kreon 25.000 (1-1-1), Ferro Sanol (1-0-0), Siofor 500 (1-0-1), Simvastatin, 20 mg (0-0-1) und Glucobay, 50 mg eingenommen. Zudem seien täglich vier Insulinspritzen verabreicht worden. Ferner habe sie auf Spirulina zurückgegriffen. Die Klägerin habe sehr vorgealtert gewirkt. Von Anfang an habe sie einen äußerst leidenden Eindruck gemacht. Sie sei sehr zurückhaltend aufgetreten, habe scheu und ängstlich gewirkt. Oft habe sie den Blickkontakt zu ihrem Ehemann oder dem Dolmetscher gesucht. Nur selten habe sie ihn direkt angeschaut. Bei einer Größe von 1,63 m habe sie 85 kg gewogen. Im Rahmen der Anamnese habe sie angeführt, keine Atemnot zu haben, stattdessen manchmal Schluckbeschwerden zu bekommen. Abends habe sie oft geschwollene Beine. Es hätten sich erhebliche Aggravationstendenzen gezeigt. Ein sicherer Anhalt für eine Simulation habe sich jedoch nicht ergeben. Sie sei intellektuell sehr einfach strukturiert. Die Psychomotorik sei etwas angespannt gewesen. In Bezug auf das Auffassungsvermögen habe sich ein einfaches Niveau ergeben. Die Grundstimmung sei gedrückt und moros gewesen. Sie habe einen traurigen Gesichtsausdruck gehabt. Ihre Gestik sei sehr zurückhaltend gewesen. Die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit sei massiv beeinträchtigt sowie die Affektivität erheblich eingeengt gewesen. Ein Hinweis auf eine Affektlabilität habe sich nicht gezeigt. Der Antrieb sei massiv reduziert gewesen. Sie habe über ihre Angst vor einer neuen Krebserkrankung berichtet. Sensible, depressive, abhängige und hysterische Merkmale seien zu erheben gewesen. Psychodynamisch sei massiv ein sekundärer Krankheitsgewinn in Erscheinung getreten. Es habe eine starke Tendenz zur Somatisierung intrapsychischer Beschwerden bestanden. Eine massive konversionsneurotische Fehlhaltung habe sich gezeigt. Die aus den psychopathologischen Phänomenen der Erkrankungen resultierenden Auffälligkeiten hätten es zusätzlich erschwert, mit der Klägerin einen affektiven Rapport aufzunehmen. Sie sei verbal sehr zurückhaltend gewesen. Zudem habe sie wegen ihrer konversionsneurotischen Struktur ein äußerst dramatisches Bild hinsichtlich ihres Auftretens an den Tag gelegt. Es sei sehr schwierig gewesen, die Klägerin körperlich-neurologisch zu untersuchen. In den Praxisräumen sei sie keinen Schritt ohne die Unterstützung ihres Ehemannes oder die Zuhilfenahme eines Rollators gegangen. Selbst mit einer solchen Unterstützung sei sie nur mühsam, äußerst kleinschrittig, tapsig und unsicher gegangen, um dabei, so der Eindruck, nur schleppend Zentimeter für Zentimeter voranzukommen. Ihr Körper sei dabei nach vorne gebeugt gewesen, wobei diese Haltung mit jedem Schritt zugenommen habe. Zuletzt habe ihr Oberkörper fast in einem rechten Winkel zu ihren Beinen gestanden. Die körperlich-neurologische Untersuchung habe nur inkomplett durchgeführt werden können. Von einer Compliance sei bei dieser Vorgehensweise in keiner Weise die Rede. Ohne die Hilfe ihres Ehemannes und einer Praxisassistentin habe sie es abgelehnt, sich auf die Waage zu stellen oder ein anderes Untersuchungszimmer zu betreten. Viele der von ihr nur mühsam durchgeführten Verrichtungen seien mit dem Aufkommen leiser oder lauter Schmerzäußerungen geschehen. In erster Linie sei von einem massiven und so zu bezeichnenden sekundären Krankheitsgewinn auszugehen. Sie erfahre aus den Symptomen eine Befriedigung. Durch ihre Darstellung erfahre sie von anderen mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung.

Prof. Dr. Hu., Ärztlicher Direktor der Klinik für Urologie und Transplantationschirurgie des K., hat über die stationäre Aufnahme wegen des Verdachtes auf ein papilläres Urothelkarzinom der Harnblase an der rechten Seitenwand im April 2017 berichtet.

Nach vorheriger Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 18. Oktober 2017 abgewiesen und der Beklagten die Hälfte der außergerichtlichen Kosten der Klägerin auferlegt. Eine außergewöhnliche Gehbehinderung sei bei ihr im Mai 2014 nicht mehr nachzuweisen gewesen. Der noch im März 2006 maßgebende ausgeprägte körperliche Schwächezustand in Verbindung mit der Tumorerkrankung und der nachfolgenden Chemotherapie habe nicht mehr vorgelegen. Eine psychogen bedingte Gangstörung habe ebenfalls nicht bestanden. Eine Konversionsneurose sei nach der ICD-10 mindestens seit 1999 nicht mehr als Diagnose zu stellen. Sie werde demgegenüber im Abschnitt "F44.-" als dissoziative Störung erfasst. Bei der Klägerin komme am ehesten eine dissoziative Bewegungsstörung ("F44.4") in Betracht. Dr. Schü. habe im Rahmen eines nervenärztlichen Gutachtens im Verfahren S 14 SB 2859/11, welches im Wege des Urkundenbeweises herangezogen werde, nach der Untersuchung der Klägerin im März 2012 festgestellt, dass die Gehfähigkeit allein aus neurologisch-psychiatrischer Sicht nicht beeinträchtigt sei. Bei den erschwerten Gehprüfungen, insbesondere ohne Sichtkontrolle, seien keine Einschränkungen vorhanden gewesen. Er sei zudem zu dem überzeugenden Ergebnis gelangt, dass die Klägerin nicht auf Gehstützen oder fremde Hilfe angewiesen oder in ihrer Gehstrecke limitiert sei. Bereits zum damaligen Zeitpunkt habe eine Steigerung der Gehfähigkeit im Vergleich zum Behinderungszustand im März 2006 vorgelegen. Eine entsprechende Verbesserung ergebe sich auch aus dem Pflegegutachten von Oktober 2013. Selbst bei Dr. Be. habe die Klägerin im August 2015 zwar langsam, aber allein und ohne Hilfe aus dem Stuhl aufstehen und eine Strecke von 10 m kleinschrittig über den Flur laufen können. Das nochmalige Aufstehen sei ebenfalls gelungen. Die Klägerin habe sich ohne Gehstützen langsam und sicher fortbewegen können. Eine psychogene Gangstörung finde sich erstmals im Gutachten von Prof. Dr. Br. nach seiner Untersuchung im August 2016. Zuvor sei eine solche nicht beschrieben worden. Die davor erlassene behördliche Aufhebungsentscheidung sei daher rechtmäßig. Die Kostenentscheidung orientiere sich am Ausgang des Verfahrens, wobei berücksichtigt worden sei, dass der Beschwer der Klägerin schon im Widerspruchsverfahren zu einem nicht unerheblichen Teil abgeholfen worden sei.

Hiergegen hat die Klägerin am 9. November 2017 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt und zur Begründung vorgetragen, sie sei mittlerweile wieder schwer erkrankt und schwebe seit Jahren zwischen Leben und Tod. Von einem körperlich uneingeschränkten Gehvermögen könne nicht die Rede sein. Sie sei durch die Vielzahl ihrer Erkrankungen körperlich stark geschwächt und leide unter einer Konversionsneurose. Seit Jahrzehnten sei sie schwerstkrank und fühle sich deshalb nicht in der Lage, ohne Hilfe auch nur wenige Schritte zu gehen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. Oktober 2017 und den Bescheid vom 9. November 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Mai 2014 aufzuheben, soweit die Feststellung der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" aufgehoben wurde.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Er trägt im Wesentlichen vor, die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" lägen nicht mehr vor. Bei einer psychogenen Gangstörung von Krankheitswert wie einer Konversionsneurose sei eine außergewöhnliche Gehbehinderung erst anzunehmen, wenn die Betroffenen nachweislich auf Dauer und ständig auf einen Rollstuhl angewiesen seien. Dieses Kriterium sei vorliegend nicht erfüllt.

Im Berufungsverfahren hat die Klägerin den Bericht von Dr. Kl., Urologe, vom 13. April 2018 vorgelegt, wonach wegen eines Harnblasentumors eine transurethrale Blasenresektion und eine lokale Chemotherapie erfolgt sei. Wegen ihres körperlichen Zustandes habe die Behandlung als Hausbesuch durchgeführt werden müssen. Für eine Untersuchung in einem Krankenhaus sei der Transport mit einem Rettungssanitäter erforderlich.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen, einschließlich der SG-Akte S 14 SB 2859/11, sowie die Verwaltungsakte des Beklagten (2 Bände) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 i. V. m. § 105 Abs. 1 Satz 3, Abs. 3 Halbsatz 1 SGG) eingelegt worden sowie im Übrigen zulässig, insbesondere statthaft (§ 143, § 144 SGG), aber unbegründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der angefochtene Gerichtsbescheid des SG vom 18. Oktober 2017, soweit mit ihm die Klage, mit welcher die Klägerin die Aufhebung des Bescheides vom 9. November 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Mai 2014 (§ 95 SGG) begehrte, abgewiesen wurde. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der von ihr erhobenen - isolierten - Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) der Erlass des Widerspruchsbescheides als letzte behördliche Entscheidung (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 2/15 R -, SozR 4-1300 § 48 Nr. 31, Rz. 13).

Grundlage für die vom Beklagten nach Anhörung des Klägers gemäß § 24 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) mit Schreiben vom 12. Oktober 2012 vorgenommene teilweise Aufhebung des Bescheides vom 22. August 2006 ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Dabei liegt eine solche vor, soweit die Regelung nach den nunmehr eingetretenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen nicht mehr so getroffen werden dürfte, wie sie ergangen war. Die Änderung muss sich nach dem zugrundeliegenden materiellen Recht auf den Regelungsgehalt des Verwaltungsaktes auswirken. Das ist bei einer tatsächlichen Änderung nur dann der Fall, wenn diese so erheblich ist, das sie rechtlich zu einer anderen Bewertung führt. Von einer wesentlichen Änderung ist im vorliegenden Zusammenhang bei einer Besserung im Gesundheitszustand des Klägers auszugehen, wenn aus dieser die Verminderung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 folgt (vgl. BSG, Urteil vom 11.November 2004 - B 9 SB 1/03 R -, juris, Rz. 12 zur Erhöhung des Gesamt-GdB) oder die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Merkzeichens nicht mehr vorliegen. Im Falle solcher Änderungen ist der jeweilige Verwaltungsakt (teilweise) aufzuheben und durch die zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG, Urteil vom 22. Oktober 1986 - 9a RVs 55/85 -, juris, Rz. 11 m. w. N.). Die Feststellung einer wesentlichen Änderung setzt einen Vergleich der Sach- und Rechtslage bei Erlass des aufzuhebenden Verwaltungsaktes und zum Zeitpunkt der Überprüfung voraus (vgl. BSG, Urteil vom 2. Dezember 2010 - B 9 V 2/10 R -, juris, Rz. 38 m. w. N.; Schütze, in: von Wulffen/Schütze, Kommentar zum SGB X, 8. Aufl. 2014, § 48 Rz. 4). Bei der mit Bescheid vom 22. August 2006 getroffenen Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens "aG" ab 29. Mai 2006 handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 SB 6/12 R -, juris, Rz. 31 m. w. N.). In den tatsächlichen Verhältnissen, die bei Erlass dieser Verwaltungsentscheidung vorlagen, ist eine wesentliche Änderung eingetreten, die dazu geführt hat, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "aG" jedenfalls ab 15. Dezember 2012 nicht mehr begründbar sind. Das bei der Klägerin 2003 diagnostizierte wechselnd differenzierte schleimbildende Adenokarzinom des Magens im Stadium IV mit Übergreifen auf das angrenzende Fettgewebe und zahlreichen Metastasen im Bereich der Lymphknoten entlang der kleinen und einer an der großen Kurvatur, welches mit einer Chemotherapie behandelt wurde, ist nicht mehr mit dem anfangs bestehenden ausgeprägten körperlichen Schwächezustand einhergegangen, weswegen sie ohne fremde Hilfe kaum noch das Bett verlassen konnte und durchweg auf die Unterstützung durch ihren Ehemann angewiesen war.

Nach der bei Erlass des Widerspruchsbescheides vom 20. Mai 2014, also der vorliegend maßgeblichen letzten Behördenentscheidung, bestehenden Rechtslage hatte die Klägerin jedenfalls ab Mitte Dezember 2012 keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" mehr. Maßgebend ist hiernach das bis zum In-Kraft-Treten des Bundesteilhabegesetztes (BTHG) am 1. Januar 2018 geltende frühere Recht.

Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung war Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO). Danach ist außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG), wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen als so genannte "Regelbeispiele" Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie als so genannte "Gleichstellungsfälle" andere Menschen mit Schwerbehinderung, welche nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind.

Nach § 69 Abs. 4 in Verbindung mit § 69 Abs. 1 Satz 5 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der Fassung von Art. 6 Abs. 8 des Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften vom 20. Juni 2011 (BGBl. I S. 1114) war seit dem 21. Dezember 2007 zusätzlich auf die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) Bezug genommen worden, sodass seit dem 1. Januar 2009 deren Fassung vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), zuletzt geändert durch die Fünfte Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 11. Oktober 2012 (BGBl I S. 2122), auch für das Verfahren der Feststellung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen heranzuziehen war. Sie band als Rechtsverordnung Verwaltung und Gerichte (BSG, Urteil vom 23. April 2009 - B 9 SB 3/08 R -, juris, Rz. 27). Trotz der dargestellten Bedenken an dieser Ermächtigung des Verordnungsgebers, insbesondere zum Erlass von Vorgaben für die Beurteilung von Nachteilsausgleichen, hatte die höchstrichterliche Rechtsprechung die darin vorgenommenen Konkretisierungen als verbindlich angesehen, zumal die VG ebenso wie die insoweit inhaltlich übereinstimmenden AHP antizipierte Sachverständigengutachten darstellten, die wegen ihrer normähnlichen Wirkungen wie untergesetzliche Normen anzuwenden seien (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 SB 2/13 R -, SozR 4-3250 § 69 Nr. 18, Rz. 10 m. w. N.). Im Übrigen wurden in den VG, Teil D, Nr. 3 b vollständig die Vorgaben der VwV-StVO zum Merkzeichen "aG" übernommen und in Nr. 3 a insoweit ausdrücklich auf das StVG verwiesen, welches als Ermächtigungsgrundlage für die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens "aG" weiterhin bestehen blieb. Zusätzlich war nach den VG, Teil D Nr. 3 c folgende Ergänzung erfolgt: "Die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung darf nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist zu beachten, dass das Gehvermögen auf das schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Dies gilt auch, wenn Menschen mit Gehbehinderung einen Rollstuhl benutzen. Es genügt nicht, dass ein solcher verordnet wurde; die Betroffenen müssen vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein, weil sie sich sonst nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen können. Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades anzusehen."

Bei der Klägerin lagen und liegen die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung eines der genannten, abschließend aufgeführten Regelbeispiele in Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO nicht vor. Gegebenenfalls wurde vermutet, dass sich die dort aufgeführten Menschen mit Schwerbehinderung wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kfz bewegen können. Nach dem Wortlaut und Zweck der Regelung kam es dabei im Interesse einer leichten Handhabung in der Praxis nicht auf die individuelle prothetische Versorgung an (vgl. BSG, Urteile vom 17. Dezember 1997 - 9 RVs 16/96 -, SozR 3-3870 § 4 Nr. 22, S. 87, vom 11. März 1998 - B 9 SB 1/97 R -, BSGE 82, 37 und vom 5. Juli 2007 - B 9/9a SB 5/06 R -, juris, Rz. 14), selbst wenn aufgrund eines hervorragenden gesundheitlichen Allgemeinzustandes und hoher körperlicher Leistungsfähigkeit bei optimaler prothetischer Versorgung eine gute Gehfähigkeit bestand (vgl. Bayerisches LSG, Urteil vom 28. Februar 2013 - L 15 SB 113/11 -, juris, Rz. 46 f.). Der Grundsatz erfuhr eine Ausnahme für die einseitig Oberschenkelamputierten, denen der Nachteilsausgleich "aG" nur zuerkannt werden konnte, wenn sie nicht (exo-)prothetisch versorgt werden können (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1997 - 9 RVs 16/96 -, SozR 3-3870 § 4 Nr. 22, S. 87). Anders als bei den übrigen Regelbeispielen gehörten die einseitig Oberschenkelamputierten nur dann zu dem eng begrenzten Kreis der Menschen mit Schwerbehinderung im Sinne von Abschnitt II Nr. 1 Satz 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO, wenn sie dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen. Im Umkehrschluss galt bei den Menschen, welche einseitig oberschenkelamputiert sind und noch ein Kunstbein tragen können, nicht die Vermutung von Satz 1, dass sie zu den Personen gehören, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kfz bewegen können. Dieser Kreis von Menschen mit Behinderung unterlag bereits bei der Prüfung des Vorliegens eines Regelbeispiels einer pauschalen Gleichstellungsprüfung mit den anderen Gruppen, die sich durch Doppelamputationen oder weitergehende erhebliche körperliche Einschränkungen abgrenzen. Dabei galt für die Dauerhaftigkeit des Außerstandeseins, ein Kunstbein zu tragen ein anderer Maßstab als für den geforderten Dauerzustand nach Satz 1. Dem lag allerdings ebenfalls kein individuelles zeitliches Kriterium zugrunde. Dauernd außerstande sein, ein Kunstbein zu tragen, bedeutete in diesem Zusammenhang, (exo-)prothetisch nicht versorgbar zu sein (vgl. BSG, a. a. O.). Es durfte keine prothetische Versorgung möglich sein, der betroffene Mensch mit Behinderung muss ständig außerstande sein, ein Kunstbein zu tragen. Zu dieser Personengruppe gehört die Klägerin nicht.

Die Schwere der bei ihr vorliegenden Beeinträchtigung war auch nicht dem Vorliegen eines Regelbeispiels gleichzustellen. Eine Gleichstellung setzte gemäß Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 Halbsatz 2 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO voraus, dass der Mensch mit Schwerbehinderung sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann, wie die in Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO genannten Personen, bei denen ein Regelbeispiel erfüllt ist. Das war der Fall, wenn ihre Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und sie sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die erstgenannten Gruppen von Menschen mit Schwerbehinderung oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen können (BSG, Urteil vom 11. März 1998 - B 9 SB 1/97 R -, BSGE 82, 37 (38 f.)).

Zwar bereitete der Vergleichsmaßstab naturgemäß Schwierigkeiten, weil die verschiedenen, im 1. Halbsatz aufgezählten Gruppen von Menschen mit Behinderung in ihrer Wegefähigkeit nicht homogen sind und einzelne Vertretende dieser Gruppen bei gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Menschen ohne Behinderung erreichen können (BSG, Urteile vom 17. Dezember 1997 - 9 RVs 16/96 -, SozR 3-3870 § 4 Nr. 22, S. 87 und 10. Dezember 2012 - B 9 SB 7/01 R -, BSGE 90, 180 (182)). Auf die individuelle prothetische Versorgung der aufgeführten zu vergleichenden Gruppen von Menschen mit Behinderung kam es jedoch nicht an (BSG, Urteile vom 17. Dezember 1997 - 9 RVs 16/96 -, SozR 3-3870 § 4 Nr. 22 und 11. März 1998 - B 9 SB 1/97 R -, BSGE 82, 37), zumal solche Besonderheiten angesichts des mit der Zuerkennung von "aG" bezweckten Nachteilsausgleiches nicht als Maßstab für die Bestimmung der Gleichstellung herangezogen werden können. Vielmehr musste sich dieser strikt an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz orientieren, also an Satz 1 Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO beziehungsweise § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG (BSG, Urteil vom 10. Dezember 2012 - B 9 SB 7/01 R -, BSGE 90, 180 (183)).

Auf der anderen Seite war für die Gleichstellung am individuellen Restgehvermögen der Betroffenen anzusetzen. Hierzu zählten auch die einseitig Oberschenkelamputierten, die grundsätzlich prothetisch versorgt werden können. Diese Personengruppe war nicht von Halbsatz 2 ausgenommen, weil die beim Vorliegen der Voraussetzungen von Halbsatz 1 eintretende Vermutungswirkung nicht gegeben war. Denn diese ersetzt lediglich die individuelle Prüfung der Voraussetzungen von Satz 1, die jedoch im Rahmen der Gleichstellungsprüfung nach Halbsatz 2 durchzuführen ist. Dabei lässt sich ein den Anspruch ausschließendes Restgehvermögen griffig weder quantifizieren noch qualifizieren (BSG, Urteil vom 10. Dezember 2012 - B 9 SB 7/01 R -, BSGE 90, 180). Grundsätzlich sind hierzu weder ein gesteigerter Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke (BSG, Urteil vom 29. März 2007 - B 9a SB 1/06 R -, juris, Rz. 18) oder prozentuale Zeitwerte geeignet. Denn die maßgeblichen Vorschriften stellten nicht darauf ab, über welche Wegstrecke sich ein Mensch mit Schwerbehinderung außerhalb seines Kraftfahrzeuges wie oft und in welcher Zeit zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist, also nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzungen praktisch vom ersten Schritt an außerhalb seines Kraftfahrzeuges erfüllt, qualifizierte sich für den Nachteilsausgleich "aG" auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt. Ein an einer bestimmten Wegstrecke und einem Zeitmaß orientierter Maßstab liegt auch nicht wegen der Methode nahe, mit der die medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festgestellt werden. Denn für den Nachteisausgleich "aG" gelten diesem gegenüber nicht gesteigerte, sondern andere Voraussetzungen (BSG, Urteile vom 13. Dezember 1994 - 9 RVs 3/94 -, SozR 3-3870 § 4 Nr. 11, S. 45 und 29. März 2007 - B 9a SB 1/06 R -, juris, Rz. 21 f.). Dabei können unter anderem Art und Umfang schmerz- oder erschöpfungsbedingter Pausen von Bedeutung sein (vgl. BSG, a. a. a. O., Rz. 18 f.). Denn Menschen mit Schwerbehinderung, die in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sind, müssen sich beim Gehen regelmäßig körperlich besonders anstrengen. Die für die Bejahung der Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" geforderte große körperliche Anstrengung kann etwa erst dann angenommen werden, wenn selbst bei einer Wegstreckenlimitierung von 30 m diese darauf beruht, dass Betroffene bereits nach dieser kurzen Strecke erschöpft sind und neue Kräfte sammeln müssen, bevor sie weitergehen können (BSG, a. a. O., Rz. 24 und Urteil vom 10. Dezember 2012 - B 9 SB 7/01 R -, BSGE 90, 180 (184 f.)).

Ob die danach erforderlichen großen körperlichen Anstrengungen beim Gehen dauerhaft vorliegen, ist Gegenstand tatrichterlicher Würdigung, die sich auf alle verfügbaren Beweismittel wie Befundberichte der behandelnden Ärzte, Sachverständigengutachten oder einen dem Gericht persönlich vermittelten Eindruck stützen kann. Dabei stellt das alleinige Abstellen auf ein einzelnes, starres Kriterium vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes in Art 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in der Regel keine sachgerechte Beurteilung dar, weil es eine Gesamtschau aller relevanten Umstände eher verhindert (vgl. BSG, Urteil vom 5. Juli 2007 - B 9/9a SB 5/06 R -, juris, Rz. 17).

An dieser Rechtslage für die Anerkennung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches "aG" hatte sich auch durch das Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention) vom 21. Dezember 2008 (BGBl II S. 1419), in Kraft getreten am 26. März 2009, Gesetz vom 21. Dezember 2008 (BGBl II, S. 1419), Bekanntmachung vom 5. Juni 2009 (BGBl II S. 812) nichts geändert (BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 2/14 R -, juris, Rz. 23 m. w. N.). Allerdings konnte sie als Auslegungshilfe orientierend herangezogen werden (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 23. März 2011 - 2 BvR 882/09 -, BVerfGE 128, 282 (306); BSG, Urteil vom 24. Mai 2012 - B 9 V 2/11 R -, BSGE 111, 79 (88)). Insoweit war entsprechend Art. 1 der UN-Behindertenrechtskonvention, wie bereits in § 2 Abs. 1 SGB IX vorgesehen, die individuelle Beeinträchtigung des Menschen mit Behinderung an der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu berücksichtigen.

Ausgehend von diesen Grundsätzen haben bei der Klägerin die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkeichens "aG" jedenfalls ab 15. Dezember 2012 nicht mehr vorgelegen. Es ist bereits nicht nachgewiesen, dass ihr Gehvermögen noch auf das schwerste eingeschränkt gewesen ist, wobei hierfür am ehesten dasjenige der Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 2/14 R -, juris, Rz. 24). Sie ist nicht mehr von den ersten Metern an in ihrer Gehfähigkeit eingeschränkt gewesen, insbesondere auch nicht durch eine psychogene Gangstörung (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 1/14 R -, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21, Rz. 18 ff.). Insoweit nimmt der Senat auf die zutreffenden und überzeugenden Ausführungen des SG im angefochtenen Gerichtsbescheid Bezug und sieht zur Vermeidung von Wiederholungen von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG).

Ergänzend ist, insbesondere in Bezug auf den Vortrag der Klägerin im Berufungsverfahren, auszuführen, dass sich bereits nach dem Gutachten von Dr. He., welches er wie Dr. Schü. im Verfahren S 14 SB 2859/11 nach einer Untersuchung im März 2012 erstattete und entgegen der Auffassung des SG als Sachverständigenbeweis zu verwerten war (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 411a Zivilprozessordnung - ZPO), ergab, durch die Gesundheitsstörungen auf orthopädischem Fachgebiet in ihrer Gehfähigkeit nicht eingeschränkt zu sein. Sie verwendete keine Gehstützen und war auf ihre Benutzung auch nicht angewiesen. Gegenüber der Sachverständigen Dr. Be. äußerte die Klägerin noch im August 2015, sie habe Schmerzen in den Knien, weshalb sie nicht mehr gehen könne, ohne allerdings auf Schmerzmittel zurückzugreifen. Eine medikamentöse Therapie erfolgte ausschließlich wegen der internistischen Beschwerden. Ausweislich der Erhebung durch den Sachverständigen Prof. Dr. Br. hatte sich ein Jahr später hieran nichts geändert. Sie nahm Kreon 25.000 (1-1-1), Ferro Sanol (1-0-0), Siofor 500 (1-0-1), Simvastatin, 20 mg (0-0-1), Glucobay, 50 mg und Spirulina ein. Daneben wurden ihr täglich vier Insulinspritzen verabreicht. Analgetika waren ihr immer noch nicht verordnet worden. Der Sachverständige Dr. Schu. stellte im Verfahren S 14 SB 2859/11 ebenfalls im März 2012 zwar eine leichte Lungenfunktionseinschränkung fest, allerdings war die Kooperation insgesamt schwierig. Ein sicherer Anhalt für eine bedeutsame restriktive oder obstruktive Ventilationsstörung ergab sich nicht, wobei die gemessenen Werte wahrscheinlich eher schlechter waren als die tatsächliche Funktion. Gegenüber dem Sachverständigen Prof. Dr. Br. verneinte sie selbst im August 2016 noch eine Atemnot. Ungeachtet des Umstandes, dass er, gestützt auf seine gutachtliche Erhebung, also für eine Zeit nach Erlass des Widerspruchsbescheides vom 20. Mai 2014, erstmals eine zu einer psychogenen Gangstörung führende schwerwiegende Konversionsneurose annahm, stehen hierdurch sich auf die Gehfähigkeit auswirkende Beeinträchtigungen für den Senat nicht fest. Nach seiner Darlegung geht diese Gesundheitsstörung auch bei der Klägerin mit einer narzisstischen Selbstbezogenheit einher, was der Senat nicht nachvollziehen konnte. Der pathologische Narzissmus wird, wie das SG zutreffend dargestellt hat, in den gegenwärtigen Diagnosesystemen unter der Bezeichnung "narzisstische Persönlichkeitsstörung" erfasst (vgl. hierzu und zum Folgenden: Scharfetter, Allgemeine Psychopathologie, 7. Aufl. 2017, S. 100 f.). Er beinhaltet eine egozentrische Selbstherrlichkeit, eine autistische Grandiosität, eine Abwertung anderer Objektbeziehungen, ein externes Teilselbst und ist als Persönlichkeitsstörung vor allem für andere störend. Einen dieses Krankheitsbild stützenden psychopathologischen Befund hat Prof. Dr. Br. nicht erhoben. Demgegenüber trat die Klägerin sehr zurückhaltend auf, wirkte scheu und ängstlich. Oft suchte sie den Blickkontakt zu ihrem Ehemann oder dem Dolmetscher. Nur selten schaute sie Prof. Dr. Br. direkt an. Ihre Gestik war wenig aufdringlich. Der von ihm erkannte äußerst leidende Eindruck war, wie er selbst annahm, bei fehlender Mitarbeit bei der Untersuchung Ausdruck ihrer erheblichen Aggravationstendenz. Psychodynamisch trat massiv ein sekundärer Krankheitsgewinn in Erscheinung. Der von Prof. Dr. Hu. im April 2017 geäußerte Verdacht auf ein papilläres Urothelkarzinom der Harnblase der rechten Scheidenwand, welcher sich nach dem Bericht von Dr. Kl. ein Jahr später zu bestätigen schien, kam außerhalb des für dieses Verfahren maßgeblichen Zeitraumes auf, weshalb ohne Belang ist, ob hiermit eine Beeinträchtigung der Gehfähigkeit verbunden ist.

Dahinstehen kann, ob der Beklagte den Bescheid vom 22. August 2006 mit dem angefochtenen Verwaltungsakt vom 9. November 2012 zutreffend ab dem 15. November 2012 mit Wirkung für "die Zukunft" aufgehoben hat. Der im Inland durch einen Postdienstleister übermittelte Bescheid vom 9. November 2012, der ausweislich des Vermerkes des Beklagten hierzu am 12. November 2012 zur Post gegeben worden war, gilt gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X am 15. November 2012 als bekannt gegeben, weshalb die Aufhebung möglicherweise erst für den darauf folgenden Tag hätte vorgenommen werden dürfen (vgl. BSG, Urteil vom 24. Februar 1987 - 11b RAr 53/86 -, BSGE 61, 189 (190); Schütze, a. a. O., Rz. 18 m. w. N.; a. A. Steinwedel, in: Kasseler Kommentar zum SGB X, Stand: Dezember 2017, § 48 Rz. 34, wonach auf den Zeitpunkt ab Bekanntgabe abzustellen ist). Die Berufung ist indes auch insoweit unbegründet, da der Klage hierfür das Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Vorliegend ist es nicht erforderlich, insoweit gerichtlichen Rechtsschutz zur Verfügung zu stellen (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 12. Aufl. 2017, Vorbem. vor § 51 Rz. 16a). Die besonderen Regelungen für Menschen mit Schwerbehinderung wurden zwar nicht angewendet nach dem Wegfall der Voraussetzungen nach § 2 Abs. 2 SGB IX (§ 116 Abs. 1 Halbsatz 1 SGB IX). Wenn sich der GdB auf weniger als 50 verringerte, jedoch erst am Ende des dritten Kalendermonats nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des die Verringerung feststellenden Bescheides (§ 116 Abs. 1 Halbsatz 2 SGB IX). Vergleichbares hat bezogen auf die Inanspruchnahme des Merkzeichens "aG" gegolten. Wegen des erst jetzt abgeschlossenen Berufungsverfahrens ist der Bescheid vom 9. November 2012 bislang noch nicht unanfechtbar gewesen, weshalb die Klägerin, bezogen auf die seither festgestellten Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens "aG" nach wie vor im Genuss aller Rechte aus dem SGB IX und sonstiger Schutzbestimmungen geblieben ist (vgl. Pahlen, in: Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen, Kommentar zum SGB IX, 12. Aufl. 2010, § 116 Rz. 3).

Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Da die Kosten des Vorverfahrens mit Klageerhebung als notwendige Vorbereitungskosten Teil der im gerichtlichen Verfahren angefallenen Kosten wurden, ist das Gericht verpflichtet, auch über diese Kosten als untrennbarer Teil der Kosten des Verfahrens nach § 193 SGG eine Kostenentscheidung zu treffen (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2016 - B 14 AS 50/15 R -, SozR 4-1300 § 63 Nr. 25, Rz. 20). Dem ist bereits das SG zutreffend nachgekommen, weshalb nur auf die Kosten des Berufungsverfahrens einzugehen war.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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