S 6 KR 173/18 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 6 KR 173/18 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Ein nach der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 zugelassenes Arzneimittel für seltene Leiden unterfällt der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in dem von der Zulassung umfassten Indikationsgebiet.
2. Das Verfahren der Nutzenbewertung nach § 35a SGB V dient explizit nicht zur Einschränkung der durch die Arzneimittelzulassung begründeten Leistungspflicht.
3. Die Zulassung eines Arzneimittels für seltene Leiden begründet nach § 35a Abs. 1 Satz 11 SGB V bereits per se einen Zusatznutzen und führt damit automatisch zu dem Verfahren der Preisbestimmung nach § 130b Abs. 1 SGB V.
4. Das Verfahren nach § 35a SGB V ist ein Mittel zur Bestimmung der Wirtschaftlichkeit der Verordnung eines Arzneimittels im Sinne von § 12 SGB V. Ein besonders hoher Preis für das begehrte Arzneimittel - insbesondere in der Einführungsphase - kann damit dem Antragsteller nicht entgegengehalten werden, sondern ist systemimmanent.
1. Die Antragsgegnerin wird im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, den Antragsteller mit dem Arzneimittel Nusinersen (Spinraza®) ab sofort zu versorgen.

2. Diese Anordnung wird befristet bis zum 31. Dezember 2019.

3. Die Antragsgegnerin trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Versorgung mit dem zugelassenen Arzneimittel Nusinersen (Handelsname: "Spinraza®").

Der Antragsteller, geboren 1983, ist bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert und leidet an einer spinalen Muskelatrophie (5q-SMA Typ III). Er stellte am 8. Dezember 2017 bei der Antragsgegnerin einen Antrag auf Kostenübernahme für das Arzneimittel "Spinraza®". Nusinersen zur Behandlung der 5q-assoziierten spinalen Muskelatrophie ist als Arzneimittel zur Behandlung eines seltenen Leidens nach der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1999 zugelassen. Dem Antrag des Antragstellers beigefügt war ein Befundbericht des UKGM, Neurologische Klinik, Dr. C. vom 27. November 2017, die eine Therapie mit Spinraza® nach stationärer Aufnahme empfahl. Beigefügt war ein humangenetisches Gutachten vom 24. März 2017, welches den klinischen Verdacht einer spinalen Muskelatrophie bestätigte.

Mit Bescheid vom 19. Dezember 2017 lehnte die Antragsgegnerin eine Kostenübernahme ab. Das Medikament Spinraza® sei noch nicht im Krankenhausentgeltsystem abgebildet. Somit fehle zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Rechtsrahmen für die Kostenerstattung des Arzneimittels im Rahmen einer stationären Behandlung. Allerdings sei im Jahr 2018 damit zu rechnen, dass eine Bewertung der Leistung erfolge und somit die Leistung zwischen Klinik und Krankenkasse grundsätzlich abgerechnet werden könne. Unabhängig von der ausstehenden Abrechnungsvereinbarung beruhe die Zulassung des Wirkstoffes Nusinersen auf klinischen Studien im Kindesalter. Bisher gebe es also keine Erfahrungen zur Wirksamkeit sowohl außerhalb dieser Bevölkerungsgruppe als auch über einen längeren Beobachtungszeitraum. Seinen Widerspruch vom 30. Dezember 2017 begründete der Antragsteller dahingehend, dass seit der Zulassung des Präparats in der Europäischen Union (EU) am 1. Juni 2017 in Deutschland alle Patienten mit SMA mit Spinraza® behandelt werden könnten. Gegenwärtig seien dies in Deutschland ca. 250 Patienten, darunter auch ca. 30 Erwachsene. Nach geltendem Recht hätten in Deutschland alle gesetzlich Versicherten einen Anspruch darauf, dass die Krankenkassen die Behandlung mit Spinraza® finanzierten. Der GKV-Spitzenverband habe dazu ausgeführt: "Mit der Zulassung durch die EU-Kommission beginnt die Kostenübernahme der Krankenkassen im Rahmen des Sachleistungsprinzips, soweit der pharmazeutische Unternehmer das Arzneimittel in Deutschland verfügbar macht und es entsprechend der vom Hersteller beantragten Indikationen vom Arzt verordnet wird". Die Finanzierung des Medikamentes sowie des Behandlungsprozesses durch die Krankenkasse erfordere derzeit noch eine Einzelfallgenehmigung. Diese würde von zahlreichen anderen Kassen mittlerweile unproblematisch erteilt. Auch wenn sich eine besondere Schwierigkeit dadurch ergebe, dass in den durchgeführten klinischen Studien die erwachsenen SMA-Patienten nicht beteiligt gewesen seien, so hätten gleichwohl in Zusammenarbeit der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.V. (DGM) mit der Initiative SMA und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie Empfehlungen für die Therapie erarbeitet werden können. Mit Schreiben vom 27. Februar 2018 informierte die Antragsgegnerin den Antragsteller dahingehend, dass das Medikament Spinraza® von zugelassenen Vertragsärzten im Rahmen der ambulanten Krankenbehandlung zulasten der gesetzlichen Krankenkasse verordnet werden könne (Sachleistungsprinzip). Im Rahmen einer stationären Behandlung könnte die Kosten jedoch nur mit den Krankenkassen direkt abgerechnet werden, wenn diese in der Krankenhausfinanzierung projiziert seien. Dies sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch nicht der Fall. Unabhängig davon werde vorliegend im Rahmen einer Einzelfallentscheidung die Kostenübernahme abgelehnt, da die relevanten Arzneimittel Studien nur an Babys und Kleinkindern durchgeführt worden seien. Die europäische Zulassungsbehörde habe zwar die Zulassung auf Basis dieser Daten auch für Erwachsene erteilt, aussagekräftige Daten für erkrankte Erwachsene existierten derzeit aber nicht. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) habe am 21. Dezember 2017, veröffentlicht am 5. Februar 2018, einen Beschluss nach § 35a SGB V zur Nutzenbewertung zum Wirkstoff Nusinersen erlassen und darin einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen für Patienten mit SMA Typ III festgestellt, da im Rahmen der Studie keine separaten Auswertungen an diesem Patientenkollektiv durchgeführt worden seien. Mit Widerspruchsbescheid vom 11. Juni 2018 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch des Antragstellers mit im wesentlichen gleicher Begründung zurück. In den tragenden Gründen des G-BA zu der Bewertung des Ausmaßes des Zusatznutzens als "nicht quantifizierbar" sei ausgeführt, dass der pharmazeutische Unternehmer für die Patienten mit dem Typ III die Ergebnisse der Studie "Cherish" eingereicht habe. Es sei unklar, ob und gegebenenfalls wie viele Patienten mit Typ III in dieser Studie untersucht worden seien. Da vom pharmazeutischen Unternehmer keine separaten Auswertungen für Patienten von Typ III aus dieser Studie vorgelegt worden seien, lägen insgesamt keine auswertbaren Daten für diese Patientenpopulation vor. Zwingende Voraussetzung für einen Rechtsanspruch auf Kostenübernahme sei, dass ein therapeutischer Nutzen in einem nach dem allgemein anerkannten Standard der medizinischen Erkenntnisse relevanten Ausmaß der Wirksamkeit bestehe. Die arzneimittelrechtliche Zulassung sei dabei eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Verordnungsfähigkeit in der vertragsärztlichen Versorgung. Das Kostenvolumen von rund 621.000 EUR im 1. Jahr und rund 310.000 EUR im 2. Jahr der Behandlung begründe zudem eine unwirtschaftliche Versorgungsform. Nicht zuletzt liege weder eine Verordnung zur ambulanten noch zur stationären Behandlung vor. Gegen diesen Bescheid richtet sich die am 16. Juli 2018 beim Sozialgericht Marburg erhobene Klage (S 6 KR 113/18). Am 27. September 2018 hat der Kläger zudem einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Zur Begründung führte er aus, das Fertigarzneimittel grundsätzlich im Umfang ihrer Zulassung von der Leistungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) umfasst seien. Dies gelte gleichermaßen für die ambulante wie auch für die stationäre Versorgung. Auch die Einführung der frühen Nutzenbewertung nach § 35a SGB V habe hieran nichts geändert. Im Gegenteil diene das Verfahren explizit nicht zur Einschränkung der durch die Arzneimittelzulassung begründeten Leistungspflicht. Darüber hinaus habe Nusinersen eine Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden erhalten. Daraus folge, dass der medizinische Zusatznutzen bereits durch die Zulassung als belegt gelte, § 35a Abs. 1 S. 11 SGB V. Selbst wenn der G-BA im Rahmen der Nutzenbewertung nach § 35a SGB V keinen Zusatznutzen von Nusinersen gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie festgestellt hätte, sei das Arzneimittel voll verordnungsfähig. Erst recht gelte dies, wenn der G-BA, wie hier, dem Arzneimittel Nusinersen zur Behandlung spinaler Muskelatrophie in sämtlichen Patientengruppen einen Zusatznutzen attestiert habe. Das Arzneimittel Nusinersen sei in Deutschland im Mai 2017 als erste und einzige medikamentöse Therapie zum Einsatz bei 5q-assoziierter spinaler Muskelatrophie von der Europäischen Kommission zugelassen worden. Es fehle nicht am Zusatznutzen per se, sondern nur das Ausmaß des Nutzenvorteils sei noch nicht quantifizierbar. Der Zusatznutzen bei einem zur Behandlung eines seltenen Leidens nach der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 über Arzneimittel für seltene Leiden zugelassene Arzneimittel (sog. orphan drug) gelte nach §§ 35a Abs. 1 S. 11 SGB V bereits durch die Zulassung als belegt. Der Gesetzgeber erachte bei den orphan drugs eine erneute Bewertung des Zusatznutzens durch den G-BA für überflüssig, weil diese Bewertung hier im Rahmen der Zuerkennung des Status als orphan drug von der Europäischen Arzneimittelagentur bewertet werde. Ein Arzneimittel werden nämlich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. b Verordnung (EG) Nr. 141/2000 nur dann als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesen, wenn der pharmazeutische Unternehmer nachweisen könne, dass in der Gemeinschaft noch keine zufriedenstellende Methode für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung des betreffenden Leidens zugelassen worden sei oder dass das betreffende Arzneimittel sofern eine solche Methode bestehe – für diejenigen, die von diesem Leiden betroffen sein, von erheblichem Nutzen sein werde. Ob die vorliegenden Daten aus Sicht der Antragsgegnerin oder aber des GBA einen Zusatznutzen zeigten, sei mithin irrelevant, weil der deutsche Gesetzgeber insoweit die Wertung der Europäischen Arzneimittelagentur für in Deutschland rechtlich verbindlich erklärt habe. Dies ergebe sich aus § 35a Abs. 1 S. 11 HS 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 2, 3 SGB V. Darüber hinaus handele es sich um eine lebensbedrohliche Erkrankung. Bei spinaler Muskelatrophie werde aufgrund eines Verlusts oder Defekt des Gehens SMN1 nicht ausreichend SMN-Protein gebildet. Dieses Protein sei für das Überleben von Motoneuronen von zentraler Bedeutung. Patienten mit späterem Krankheitsbeginn bildeten zwar größere Mengen des SMN-Proteins, sie verlören aber die im Laufe ihres Lebens schon erworbenen motorischen Fähigkeiten (beispielsweise Sitzen, Atmen oder Schlucken) wieder, was tiefgreifende Auswirkungen auf ihr Leben habe und schließlich zum Tod führe. Darauf komme es im Ergebnis jedoch nicht an, da es nicht um eine Versorgung im Sinne von § 2 Abs. 1a SGB V gehe, sondern die begehrte Arzneimitteltherapie der Regelversorgung und dem medizinischen Standard nach § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V entspreche. Die Versorgung mit Nusinersen könne auch nicht als unwirtschaftlich gelten. Denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei eine unwirtschaftliche Versorgung unter Kostengesichtspunkten nur dann denkbar, wenn unter mehreren therapeutisch gleichwertigen Therapieoptionen nicht die kostengünstigste gewählt werde. Eine entsprechende Auswahl bestehe vorliegend jedoch nicht. Die Angelegenheit sei eilbedürftig, weil bei dem Antragsteller im letzten Jahr eine Verschlechterung der motorischen Fähigkeiten eingetreten sei. Aufgrund der aktuellen neurologischen Situation sei bei zusätzlicher Verzögerung einer Spinraza®-Therapie mit einer weiteren raschen progredienten und einem irreversiblen Verlust funktionell bedeutsamer motorischer Fähigkeiten zu rechnen. Dem ein Antrag beigefügt war ein Bericht des UKGM, Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Prof. Dr. D. vom 19. September 2018, der diese Entwicklung des Krankheitsverlaufs beim Antragsteller bestätigte. Nach dortiger Einschätzung sei die stationäre Gabe des Arzneimittels für den Antragsteller die sicherste Form der Applikation. Es sei davon auszugehen, dass gerade Patienten mit noch einer großen Zahl erhaltener Motoneurone von der Therapie am meisten profitieren könnten. Weiter beigefügt war dem Antrag die Fachinformation der Firma E. zum Arzneimittel Spinraza®. Der Antragsteller reichte zudem eine ärztliche Bescheinigung von Prof. Dr. D. vom 18. Oktober 2018 zur Akte. Danach sei er erheblich eingeschränkt in seiner Gehfähigkeit und das Aufstehen vom Stuhl oder gar vom Boden sei nur mit großer Mühe möglich. Nur eine minimale weitere Verschlechterung dieser Symptome im Rahmen des Fortschreitens der Erkrankung könne in kürzester Zeit zu einem irreversiblen Funktionsverlust führen. Ein solcher Funktionsverlust könne jederzeit eintreten und zu Rollstuhlpflichtigkeit oder einem Sturz mit Fraktur führen. Daher bestehe eine besondere Eilbedürftigkeit bezüglich des Beginns einer Spinraza®-Behandlung. Eine Vorwegnahme der Hauptsache sei vorliegend geboten, da auf andere Weise kann effektiver Rechtsschutz erzielt werden könne.

Der Antragsteller beantragt (sinngemäß), die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, ihn mit dem Arzneimittel Nusinersen (Spinraza®) zu versorgen.

Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abzuweisen.

Sie nimmt auf die Gründe des Widerspruchsbescheides Bezug und führt ergänzend aus, dass es sich bei der Erkrankung des Antragstellers um eine schwerwiegende, jedoch nicht akut lebensbedrohliche Erkrankung handele. Eine Einschränkung der Lebenserwartung sei nicht zu erwarten. Die begehrte medikamentöse Therapie entspreche nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse, da über die Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels im vorliegenden Fall keine wissenschaftlich nachprüfbare Aussage gemacht werden könne. Zudem bestehe keine Eilbedürftigkeit. Dem Befund des UKGM vom 19. September 2018 sei zu entnehmen, dass die Symptome bei dem Antragsteller schon seit 10-15 Jahren bestünden und über die Jahre zugenommen hätten. Es sei zwar ersichtlich, dass die Erkrankung fortschreite, jedoch nicht, dass diese schnell fortschreitend sei. Nicht zuletzt stelle die Verpflichtung der Antragsgegnerin eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache dar.

Auf Nachfrage des Gerichts teilte die Antragsgegnerin mit, dass derzeit Verhandlungen über den Abschluss einer Zusatzentgeltvereinbarung für die Behandlung der spinalen Muskelatrophie mit Spinraza® zwischen dem BKK Landesverband Mitte und den Universitätskliniken in Hessen liefen. Ein Abschluss sei noch nicht in Sicht.

Mit Beschluss vom 30. Oktober 2018 hat das Gericht die UKGM GmbH zum Rechtsstreit beigeladen. Diese hat ausgeführt, dass, sofern bis zum 31. Dezember 2018 zwischen den Parteien keine Vereinbarung über einen Zusatzentgelt zustande komme, die Vergütung einer Versorgung ab 1. Januar 2019 in die Zusatzentgelte/den Entgeltkatalog wechsele. Ohne vereinbarten Preis gelte danach der Hilfsabrechnungssatz gemäß der Fallpauschalenverordnung i.H.v. 600 EUR. Zwar habe das Krankenhaus dann einen Anspruch auf Ausgleich der Differenz zwischen dem Hilfsabrechnungssatz und dem später vereinbarten Preis gegenüber den Krankenkassen, jedoch müsse das Krankenhaus zunächst in Höhe der Differenz in Vorleistung gehen. Abschließende Vereinbarungen im Rahmen der Entgeltverhandlungen seien voraussichtlich erst in der zweiten Jahreshälfte 2019 zu erwarten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin sowie die Prozessakte und auch die Akte zum Hauptsacheverfahren (S 6 KR 113/18) verwiesen, die bei der Beschlussfassung vorgelegen haben.

II.

Der zulässige Antrag im einstweiligen Rechtsschutz hat in der Sache weit überwiegend Erfolg.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2).

Vorliegend kommt nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der angestrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG iVm § 920 Abs. 2 ZPO). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl., § 86b RdNr 27 ff.).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze gilt folgendes;

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Nach § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst dabei unter anderem die Versorgung mit Arzneimitteln i. S. d. § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB V. Versicherte können dabei die Versorgung mit einem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel zu Lasten der GKV grundsätzlich beanspruchen, wenn eine arzneimittelrechtliche Zulassung für das Indikationsgebiet besteht, in dem es angewendet werden soll. Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit dagegen nicht von der Leistungspflicht der GKV i. S. d. §§ 27 Abs. 1 S. 2, 31 Abs. 1 S. 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. nur BSGE 96, 153 und BSGE 97, 112).

Das von dem Antragstellern begehrte und unstreitig durch die Europäische Arzneimittelagentur zugelassene Arzneimittel "Spinraza®" besitzt – was ebenfalls unstreitig ist – für die bei dem Antragsteller vorliegende Erkrankung der spinalen Muskelatrophie eine Zulassung. Diese Zulassung gilt unabhängig vom Erkrankungstyp und vom Patientenalter. Darüber hinaus handelt es sich um ein Arzneimittel zur Behandlung seltener Leiden (sog. orphan drug). Ein Arzneimittel wird nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. b Verordnung (EG) Nr. 141/2000 nur dann als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesen, wenn der pharmazeutische Unternehmer nachweisen kann, dass in der Gemeinschaft noch keine zufriedenstellende Methode für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung des betreffenden Leidens zugelassen worden ist oder dass das betreffende Arzneimittel – sofern eine solche Methode besteht – für diejenigen, die von diesem Leiden betroffen sind, von erheblichem Nutzen sein wird. Für Spinraza® besteht eine entsprechende Ausweisung nach Art. 3 Abs. 1b Verordnung (EG) Nr. 141/2000.

Damit ist das streitgegenständliche Präparat zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verordnungsfähig. Erschöpft sich eine Behandlungsmethode in der Anwendung eines für die betreffende Indikation arzneimittelrechtlich zugelassenen neuartigen Fertigarzneimittels, bedarf sie keiner Empfehlung des G-BA, weil sie kraft der arzneimittelrechtlichen Zulassung als Leistungsbestandteil der GKV gilt (vgl. BSGE 86, 54, 60; BSGE 122, 170-181).

Ein Ausschluss nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V liegt nicht vor.

Soweit die Beteiligten auf die frühe Nutzenbewertung nach § 35a Abs. 1 Nr. 11 SGB V Bezug nehmen und auf dieser Grundlage den Einschluss bzw. den Ausschluss des Präparats aus dem System der GKV zu begründen versuchen, so stehen diese Ausführungen in keinem Zusammenhang mit der Frage der Leistungspflicht für ein Arzneimittel im Rahmen der GKV, sondern betreffen vielmehr die nachgelagerte Frage des Preises für dieses Arzneimittel. Der Antragsteller hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass das Verfahren nach § 35a SGB V explizit nicht zur Einschränkung der durch die Arzneimittelzulassung begründeten Leistungspflicht dient. Das durch Art. 1 Nr. 5 des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes – AMNOG – vom 22. 12. 2010 (BGBl. I S. 2262) in § 35a SGB V normierte neue Verfahren zur Bewertung des Nutzens von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen ordnet das Recht des Arzneimittelmarktes. Die Neufassung des § 35a SGB V dient dem hinter dem AMNOG insgesamt stehenden Ziel, dass der Zusatznutzen der Arzneimittel ihren Preis maßgeblich bestimmen soll (Luthe in: Hauck/Noftz, SGB, 11/18, § 35a SGB V, Rn. 6). Nach der neuen gesetzgeberischen Konzeption müssen die pharmazeutischen Unternehmer für Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen mit deren Markteinführung Nachweise über den Zusatznutzen im Verhältnis zur zweckmäßigen Vergleichstherapie vorlegen. Der G-BA entscheidet in dem in § 35a SGB V näher geregelten Verfahren darüber, ob und inwieweit ein solches Arzneimittel einen Zusatznutzen im Vergleich zu den bewährten Therapiealternativen hat (§ 35a Abs. 3 SGB V), und auch darüber, unter welchen Voraussetzungen es verordnet werden darf (§ 92 Abs. 2 SGB V). Arzneimittel ohne einen Zusatznutzen werden in das Festbetragssystem überführt (§ 35a Abs. 4 SGB V). Ist das nicht möglich, weil es z. B. keine pharmakologisch-therapeutisch vergleichbaren Arzneimittel gibt, vereinbaren der pharmazeutische Unternehmer und der Spitzenverband Bund der Krankenkassen einen Erstattungsbetrag, der zu keinen höheren Kosten gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie führen darf (§ 130b Abs. 3 SGB V). Für Arzneimittel mit einem Zusatznutzen im Verhältnis zur zweckmäßigen Vergleichstherapie werden die Preise auf der Grundlage der Nutzenbewertung nach § 35a ausgehandelt (§ 130b Abs. 1 SGB V). Scheitert die Aushandlung, entscheidet eine Schiedsstelle und setzt den Erstattungsbetrag fest (§ 130b Abs. 4 SGB V). Spätestens nach einem Jahr gilt nicht mehr der vom pharmazeutischen Unternehmer zunächst festgelegte Preis, sondern ein Festbetrag oder ein Erstattungsbetrag (§ 130b Abs. 4 Satz 3 SGB V). Ein solcher Zusatznutzen wird bei Arzneimitteln, die – wie vorliegend – zur Behandlung seltener Leiden dienen (sog. orphan drugs) und damit der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. 12. 1999 über Arzneimittel für seltene Leiden unterfallen, nach § 35a Abs. 1 Satz 11 SGB V unterstellt. Daraus folgt, dass die Preisbestimmung nach dem Regime von § 130b Abs. 1 SGB V erfolgt, was vorliegend dazu führt, dass Ende des Jahres 2018 die einjährige Frist der freien Preisbestimmung ausläuft.

Durch diese Einordnung des Präparats in das System der frühen Nutzenbewertung nach § 35a SGB V ist die Wirtschaftlichkeit des Arzneimittels grundsätzlich zu unterstellen. Die Nutzenbewertung nach § 35a SGB V ist ein konkretes Mittel zur Bestimmung der Zweckmäßigkeit, Qualität und Wirtschaftlichkeit der Verordnung eines Arzneimittels i.S.v. § 12 SGB V (Beck/Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 35a SGB V, Rn. 8). Es kann dem von einer seltenen Erkrankung betroffenen Versicherten gerade nicht zugemutet werden, sich in der Einführungsphase des neu zugelassenen Präparates mit Einwänden der Unwirtschaftlichkeit auseinandersetzen zu müssen. Vielmehr ist dem System immanent, dass bei orphan drugs, für die ein Zusatznutzen mit der Zulassung unterstellt wird, grundsätzlich eine einjährige Phase existiert, in der die Preisbestimmung durch den pharmazeutischen Unternehmer geschieht.

Für die Arzneimittelversorgung gelten im Krankenhaus grundsätzlich keine von der vertragsärztlichen Versorgung abweichenden Maßstäbe (BSGE 122, 170-181), so dass der Anspruch des Antragstellers auf Versorgung mit dem streitgegenständlichen Präparat – nach Vorlage einer entsprechenden Verordnung – unabhängig davon besteht, ob die Arzneimittelgabe dann ambulant oder stationär erfolgt.

Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Dieser ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts insbesondere aus der vorgelegten Bescheinigung des UKGM, Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Prof. Dr. D. vom 18. Oktober 2018. Danach ist der Antragsteller erheblich eingeschränkt in seiner Gehfähigkeit und das Aufstehen vom Stuhl oder gar vom Boden ist nur mit großer Mühe möglich. Da nur eine minimale weitere Verschlechterung dieser Symptome im Rahmen des Fortschreitens der Erkrankung in kürzester Zeit zu einem irreversiblen Funktionsverlust führen kann, besteht eine besondere Eilbedürftigkeit. Dem steht auch nicht entgegen, dass seit der Antragstellung am 8. Dezember 2017 nahezu ein Jahr vergangen ist. Im Gegenteil nimmt nach den vorliegenden medizinischen Stellungahmen bei der progredienten Erkrankung des Antragstellers gerade mit jeglichem Zeitablauf das Risiko einer irreversiblen Schädigung zu. Darüber hinaus sieht auch die Fachinformation zu Spinraza® der Firma E. vor, dass mit der Behandlung so früh wie möglich begonnen werden sollte. In Anschauung eines nicht mehr reversiblen Gesundheitsschadens haben die finanziellen Interessen der Krankenkasse deshalb zurückzustehen.

Der Natur des einstweiligen Rechtsschutzes entsprechend hat das Gericht die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Gewährung der Arzneimitteltherapie mit Nusinersen ("Spinraza®") auf die Dauer von gut einem Jahr befristet. Hiermit wird insbesondere sichergestellt, dass eine erneute Überprüfung der Leistungsvoraussetzungen zur Gewährung der Arzneimitteltherapie ermöglicht wird. Nach dem Vortrag der Beklagten und der Beigeladenen ist darüber hinaus höchst wahrscheinlich, dass bis zum Ablauf der Anordnungsfrist eine Vergütungsregelung für das streitgegenständliche Präparat gefunden wird.

Nach alledem war dem Antrag weit überwiegend zu entsprechen.

Die Kostenentscheidung beruht unter Berücksichtigung des ganz weitreichenden Erfolges des Antrages im einstweiligen Rechtsschutz auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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