S 17 KA 223/17

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
17
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 17 KA 223/17
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Es ist im Rahmen der Bestimmung der Auswirkungen einer Praxisbesonderheit im Rahmen des Schätzungsermessens nicht zulässig, der Ermittlung und Quantifizierung der Praxisbesonderheit durch einen pauschalen "Rabatt" bei der Kürzungsentscheidung aus dem Wege zu gehen (Anschluss an Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 4. Februar 2009, L 12 KA 27/08).

2. Dies gilt insbesondere dann, wenn im Rahmen einer Prävalenzprüfung, bei der die Ansatzhäufigkeit von für den Streitgegenstand relevanten ICD-Kodierungen mit der Vergleichsgruppe ins Verhältnis gesetzt wird, aussagekräftiges Zahlenmaterial für die Bestimmung der Morbidität des spezifischen Patientenklientels ermittelt wurde.

3. Die bei der Prävalenzprüfung ermittelten Besonderheiten dienen als Orientierungswerte auch für die Quantifizierung der Praxisbesonderheit. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Prävalenzprüfung fallbezogen erfolgt, während die Praxisbesonderheit anhand der Ansatzhäufigkeit der GOP ermittelt wird.

4. Ist für die Erbringung einer Leistung eine besondere Qualifikation erforderlich (hier Qualifikation zur Erbringung psychosomatischer Leistungen gemäß § 5 Abs. 6 der Psychotherapierichtlinie) ist es geboten, die Vergleichsgruppe auch nur unter Einbeziehung der Ärzte, die ebenfalls über diese Qualifikation verfügen und die entsprechende Leistung auch tatsächlich abrechnen, zu bilden. Dies gilt insbesondere deshalb, weil mit der Feststellung eines offensichtlichen Missverhältnisses aufgrund von pauschalen Überschreitungen der Werte der Vergleichsgruppe eine Verschlechterung der Beweisposition des Arztes verbunden ist.
1. Der Bescheid des Beklagten vom 15.2.2017 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, über den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid der Prüfungsstelle vom 20.7.2015 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

2. Der Beklagte trägt die Gerichtskosten sowie die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten noch über Honorarkürzungen in Höhe von 39.531,39 EUR netto für die Quartale I/2012-IV/2012 wegen eines offensichtlichen Missverhältnisses im Vergleich zur Fachgruppe im Bereich der Gebührenordnungsposition (GOP) 35100 EBM (differenzialdiagnostische Klärung psychosomatischer Krankheitszustände) bzw. GOP 35110 EBM (verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen) im Rahmen einer Prüfung nach § 10 Abs. 2 der Prüfvereinbarung (Prüfung der Behandlungsweise nach Durchschnittswerten).

Ursprünglich richtete sich das Verfahren auch gegen eine Kürzung in Höhe von 5.239,69 EUR netto bei der GOP 01415 (dringender Besuch eines Patienten in beschützenden Wohnheimen bzw. Einrichtungen bzw. Pflege oder Altenheim mit Pflegepersonal wegen der Erkrankung, noch am Tag der Bestellung ausgeführt). Diesbezüglich hat der Beklagte ein Teilanerkenntnis dahingehend abgegeben, dass die Honorarkürzung in eine Beratung umgewandelt wird. Dieses Teilanerkenntnis hat die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung angenommen so dass der Rechtsstreit insoweit erledigt ist.

Die Klägerin ist seit dem 1. Juli 2002 als Fachärztin für Allgemeinmedizin mit Praxissitz in A-Stadt niedergelassen und nimmt an der hausärztlichen Versorgung teil.

Mit Schreiben vom 22. Februar 2015 informierte die Prüfungsstelle die Klägerin über die von Amts wegen durchgeführte Überprüfung der Wirtschaftlichkeit. Die Klägerin trug daraufhin umfangreich vor, wobei sie insbesondere darauf hinwies, dass sie sich als Schwerpunktpraxis für psychosomatische Erkrankungen und Schmerzbehandlungen sowie durch eine fundierte allgemeinmedizinische Behandlung mit internistischem Anspruch unter starker Zuhilfenahme von Naturheilkunde einen Namen gemacht habe. Sie habe ein Patientenklientel, das viel Aufmerksamkeit und auch Zeit beanspruche. Normale Verdünnungsscheine seien bei ihr die absolute Ausnahme.

Mit Bescheid vom 20. Juli 2015 stellte die Prüfungsstelle die folgenden Auffälligkeiten fest:

Es folgt eine Tabelle, die aus technischen Gründen nicht dargestellt werden kann (vorhanden unter www.lareda.hessenrecht.hessen.de).

Quartal GOP Anzahl.-GOP je 100-Fälle-Praxis Durchschnitt je Fall-Praxis Anzahl.-GOP je 100-Fälle ausf. Praxen Durchschnitt je Fall ausf. Praxen-PG Abw. in %
2012/1 35100 109 16,48 6 0,87 1.794,25
2012/2 35100 105 15,87 6 0,85 1.767,06
2012/3 35100 105 15,89 6 0,86 1.747,67
2012/4 35100 134 20,15 6 0,87 2.216,09

Quartal GOP Anzahl.-GOP je 100-Fälle-Praxis Durchschnitt je Fall-Praxis Anzahl.-GOP je 100-Fälle ausf. Praxen Durchschnitt je Fall ausf. Praxen-PG Abw. in %
2012/1 35100 54 8,12 10 1,47 452,38
2012/2 35100 80 12,00 10 1,43 739,16
2012/3 35100 87 14,54 10 1,46 895,89
2012/4 35100 116 17,49 10 1,45 1.106,21

Bei den Leistungen der GOP 35100 und 35110 EBM handele es sich um fachgruppentypische Leistungen. Es bestehe ein offensichtliches Missverhältnis im Vergleich zur Fachgruppe, was einem Anscheinsbeweis für ein unwirtschaftliches Verhalten entspreche. Der Vergleich sei mit der Prüfgruppe 101-33 (voll zugelassene Allgemeinärzte/hausärztliche Internisten in Hessen) vorgenommen worden. Es sei festzustellen, dass die Praxis der Klägerin eine deutlich unterdurchschnittliche Fallzahl habe, während der Gesamtfallwert deutlich überdurchschnittlich sei.

Die Prüfungsstelle führte bezüglich der GOP 35100/35110 EBM eine Prävalenzprüfung durch, aus der sich anhand der dokumentierten Erkrankungen aus dem Bereich der psychischen Störungen und der Verhaltensstörungen nach Maßgabe bestimmter ICD Verschlüsselungen eine Mehrversorgung gegenüber der Fachgruppe von +731 % errechnete. Es ergebe sich eine außerordentliche Häufigkeit der psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen in der Praxis der Klägerin im Vergleich zur Prüfgruppe. Im Rahmen der intellektuellen Prüfung des Quartals I/2012 sei festzustellen, dass bei über 90 % (478 Fälle) der Behandlungsscheine 1362-mal eine Diagnose aus dem Bereich der psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen vorliege und davon auf 428 Behandlungsscheinen der Ansatz der GOP 35100/35110 EBM erfolgt sei. In 19 Fällen sei die GOP 35100 und/bzw. 35110 EBM ohne eine Diagnose aus dem Bereich F00-F99 angesetzt worden. Es erscheine nicht wirtschaftlich und notwendig, dass in einem Quartal (wie I/2012) bei 106 Patienten die GOP 35100 EBM mehrmals abgerechnet werde. Es erscheine überdies nicht nachvollziehbar, dass die Therapieziffer 35110 EBM deutlich weniger abgerechnet werde als die Diagnoseziffer 35100 EBM. Zudem sei die psychosomatische Grundversorgung bei hochbetagten Patienten aufgrund der Vorgaben des § 21 der Psychotherapierichtlinie zu hinterfragen. Insgesamt lasse die Ansatzhäufigkeit der ICD- Kodierungen (F00-F99) erhebliche Zweifel an der Korrektheit aufkommen, was dazu führe, dass eine Quantifizierung der Praxisbesonderheiten über die ICD-Verschlüsselungen nicht zielführend sei. Unter Bezugnahme auf die schmerztherapeutische Ausrichtung sei jedoch ein Mehrbedarf an psychosomatischer Grundversorgung in Höhe von +100 % anzuerkennen. Im Rahmen der Ermessensausübung sei neben dem Mehr von +100 % noch einmal ein Fachgruppendurchschnitt +100 % über die anerkannte Praxisbesonderheit hinaus anzuerkennen.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin mit Schreiben vom 5. August 2015, bei der Prüfungsstelle eingegangen am 10. August 2015, Widerspruch ein. Zur Begründung verwies sie erneut auf die Praxisbesonderheit bei psychosomatischen Krankheitsbildern. So sei im Quartal I/2012 mit insgesamt 514 Patienten bei 432 dieser Patienten der ICD-10-Code F45 codiert worden. Dies entspreche einem prozentualen Anteil von 84 % gemessen an der Gesamtfallzahl. Im Gegensatz dazu entfalle in einer durchschnittlichen allgemeinärztlichen Praxis im Bereich der KV Hessen auf die Patientengruppe mit somatoformen Störungen ein Prozentanteil gemessen an der Gesamtfallzahl in Höhe von lediglich 3,24 %. Dies bedeute, dass prozentual gesehen allein in ihrer Praxis eine mehr als 25-fach erhöhte Patientenzahl mit diesem Krankheitsbild versorgt werde. Sie halte es auch für notwendig, dass bei Schmerzpatienten immer wieder eine differenzialdiagnostische Abklärung geschehe, so dass sie den Einwand der Prüfungsstelle, dass eine mehrmalige Abrechnung der Ziffer 35100 EBM in einem Quartal per se unwirtschaftlich sei, entgegentrete. Es handele sich zudem gerade nicht um eine Quartalsziffer.

Im Termin zur persönlichen Anhörung beim Beklagten am 30. November 2016 erschien die Klägerin nicht.

Der Beklagte wies sodann den Widerspruch der Klägerin mit Bescheid vom 15. Februar 2017 zurück. Er gehe von der grundsätzlichen Richtigkeit der zugrunde gelegten Vergleichsgruppe der voll zugelassenen Allgemeinmediziner/hausärztlich tätigen Internisten aus. Insoweit sei maßgeblich auf den Zulassungsstatus abzustellen. Im Übrigen nimmt der Beklagte auf die Ausführungen der Prüfungsstelle Bezug.

Gegen den ihr am 17. Februar 2017 zugestellten Bescheid des Beklagten richtet sich die am 16. März 2017 beim Sozialgericht Marburg erhobene Klage.

Die Klägerin wiederholt zur Klagebegründung im Wesentlichen ihre Ausführungen aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren.

Sie beantragt, den Bescheid des Beklagten vom 15. Februar 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über ihren Widerspruch gegen den Bescheid der Prüfungsstelle vom 20. Juli 2015 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Er trägt vor, die Klägerin habe nicht substantiiert dargelegt, weshalb der Ansatz der Leistungen nach der GOP 35100/35110 EBM in einem Überschreitungsumfang von bis zu +2.216,09 % bei der GOP 35100 EBM und bis zu +1.106,21 % bei der GOP 35110 EBM notwendig geworden sein soll. Seitens der Klägerin sei der Patientenstamm nicht systematisch aufbereitet worden, so dass die besonderen und/oder abweichenden Strukturen im Vergleich zur Fachgruppe nicht dargelegt worden seien. Mit dem zusätzlich belassenen Mehrbetrag von +100 % über dem Fachgruppendurchschnitt sei überaus wohlwollend allen Eventualitäten der Praxis Rechnung getragen worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte des Beklagten, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegen haben, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist auch begründet.

Der Bescheid des Beklagten vom 15. Februar 2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat einen Anspruch auf Neubescheidung ihres Widerspruchs gegen den Bescheid der Prüfungsstelle vom 20. Juli 2015 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts.

Gegenstand des Verfahrens ist nur der Bescheid des Beklagten, nicht auch der der Prüfungsstelle. In Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle auf die das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung des Beschwerdeausschusses. Dieser wird mit seiner Anrufung für das weitere Prüfverfahren ausschließlich und endgültig zuständig. Sein Bescheid ersetzt den ursprünglichen Verwaltungsakt der Prüfungsstelle, der abweichend von § 95 SGG im Fall der Klageerhebung nicht Gegenstand des Gerichtsverfahrens wird.

Im System der gesetzlichen Krankenversicherung nimmt der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Arzt – Vertragsarzt – die Stellung eines Leistungserbringers ein. Er versorgt die Mitglieder der Krankenkassen mit ärztlichen Behandlungsleistungen, unterfällt damit auch und gerade dem Gebot, sämtliche Leistungen im Rahmen des Wirtschaftlichen zu erbringen. Leistungen, die für die Erzielung des Heilerfolges nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, darf er nach dem hier anzuwendenden Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (§ 12 Abs. 1 SGB V) nicht erbringen. Rechtsgrundlage für Honorarkürzungen wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise ist § 106 Abs. 2 Satz 4 SGB V i.V.m. der Prüfvereinbarung gemäß § 106 Abs. 3 SGB V, gültig ab 1. Januar 2008 (PV). Danach wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten beurteilt, hier § 10 PV (Auffälligkeitsprüfung). Nach den hierzu von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ist die statistische Vergleichsprüfung die Regelprüfmethode. Die Abrechnungs- bzw. Verordnungswerte des Arztes werden mit denjenigen seiner Fachgruppe – bzw. mit denen einer nach verfeinerten Kriterien gebildeten engeren Vergleichsgruppe – im selben Quartal verglichen. Ergänzt durch die sog. intellektuelle Betrachtung, bei der medizinisch-ärztliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden, ist dies die Methode, die typischerweise die umfassendsten Erkenntnisse bringt. Ergibt die Prüfung, dass der Behandlungsaufwand des Arztes je Fall bei dem Gesamtfallwert, bei Sparten- oder bei Einzelleistungswerten in einem offensichtlichen Missverhältnis zum durchschnittlichen Aufwand der Vergleichsgruppe steht, d. h., ihn in einem Ausmaß überschreitet, das sich im Regelfall nicht mehr durch Unterschiede in der Praxisstruktur oder in den Behandlungsnotwendigkeiten erklären lässt, hat das die Wirkung eines Anscheinsbeweises der Unwirtschaftlichkeit (BSG, Urteil vom 16. Juli 2003, B 6 KA 45/02).Von welchem Grenzwert an ein offensichtliches Missverhältnis anzunehmen ist, entzieht sich einer allgemein verbindlichen Festlegung (BSG, Urteil vom 15. März 1995, 6 RKa 37/93). Nach der Rechtsprechung des BSG liegt zwischen dem Bereich der normalen Streuung, der Überschreitungen um bis zu ca. 20 % erfasst, und der Grenze zum sog. offensichtlichen Missverhältnis der Bereich der Übergangszone. Die Grenze zum sog. offensichtlichen Missverhältnis hat das BSG früher bei einer Überschreitung um ca. 50 % angenommen. Seit längerem hat es – unter bestimmten Voraussetzungen – auch niedrigere Werte um ca. 40 % ausreichen lassen. Die Prüfgremien haben einen Beurteilungsspielraum, die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis höher oder niedriger festzulegen. Als Praxisbesonderheiten des geprüften Arztes kommen nur solche Umstände in Betracht, die sich auf das Behandlungs- oder Verordnungsverhalten des Arztes auswirken und in den Praxen der Vergleichsgruppe typischerweise nicht oder nicht in derselben Häufigkeit anzutreffen sind. Für die Anerkennung einer Praxisbesonderheit ist es deshalb nicht ausreichend, dass bestimmte Leistungen in der Praxis eines Arztes erbracht werden. Vielmehr muss substantiiert dargetan werden, inwiefern sich die Praxis gerade in Bezug auf diese Merkmale von den anderen Praxen der Fachgruppe unterscheidet (BSG, Urteil vom 21. Juni 1995, 6 RKa 35/94). Die betroffene Praxis muss sich nach der Zusammensetzung der Patienten und hinsichtlich der schwerpunktmäßig zu behandelnden Gesundheitsstörungen vom typischen Zuschnitt einer Praxis der Vergleichsgruppe unterscheiden, und diese Abweichung muss sich gerade auf die überdurchschnittlich häufig erbrachten Leistungen auswirken (BSG, Urteil vom 23. Februar 2005, B 6 KA 79/03 R). Ein bestimmter Patientenzuschnitt kann z. B. durch eine spezifische Qualifikation des Arztes, etwa aufgrund einer Zusatzbezeichnung bedingt sein kann (vgl. BSG, Urteil vom 6. September 2000, B 6 KA 24/99 R). Es muss sich um Besonderheiten bei der Patientenversorgung handeln, die vom Durchschnitt der Arztgruppe signifikant abweichen und die sich aus einem spezifischen Zuschnitt der Patientenschaft des geprüften Arztes ergeben, der im Regelfall in Wechselbeziehung zu einer besonderen Qualifikation des Arztes steht. Ein Tätigkeitsschwerpunkt allein stellt nicht schon eine Praxisbesonderheit dar (BSG, Urteil vom 6. Mai 2009, B 6 KA 17/08 R). Unter Beachtung dieser Grundsätze ist der angefochtene Bescheid des Beklagten zu beanstanden, da der Beklagte das ihm vorliegende Ermessen nicht in hinreichender Weise ausgeübt hat. Der Beklagte geht zwar vom Vorliegen einer Praxisbesonderheit aufgrund der von der Prüfungsstelle im Rahmen der Prävalenzprüfung festgestellten außerordentlichen Häufigkeit der psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen beim Patientenklientel der Klägerin aus, unterlässt es aber, hinreichend die Schätzgrundlagen für den wirtschaftlichen Bereich dieser besonderen Leistungen anzugeben. Stattdessen wird lediglich pauschal ein Mehrbetrag von + 200 % zugestanden. Eine Nachprüfung ist angesichts der fehlenden Begründung weder der Klägerin noch der Kammer möglich. Es fehlen jegliche Anhaltspunkte zur Begründung des anerkannten und des nicht anerkannten Umfangs. Der Beklagte hat der Klägerin im Rahmen seiner Ermessensausübung gegenüber der Vergleichsgruppe ein Mehr an +200 % bei den streitgegenständlichen Leistungen belassen. Dies ergibt sich aus den dem Bescheid der Prüfungsstelle immanenten Berechnungen. Daraus ist erkennbar das zunächst ausgehend vom Fallwert der Klägerin eine Praxisbesonderheit (im Quartal I/2012 beispielsweise i.H.v. 0,87 EUR je Fall) abgezogen wurde. Vom um diese Praxisbesonderheit bereinigten Fallwert wurde sodann nochmals das Doppelte der Praxisbesonderheit abgesetzt (0,87 EUR × 2 = 1,74 EUR). Der so verbliebene Fallwert wurde sodann mit der Fallzahl der Klägerin jeweils multipliziert. Diese Berechnungsweise ist zur Überzeugung der Kammer nicht zu beanstanden. Im Rahmen seiner Ermessensausübung hat der Beklagte die Kammer jedoch nicht weitergehend überzeugt im Hinblick auf den Rückschluss der aus der Prävalenzprüfung resultierenden Mehrversorgung von +731 % auf einen als angemessen erachteten Überschreitungsbetrag von +200 %. Die Prüfungsstelle und auch der Beklagte rügen im Wesentlichen, dass die GOP 35100 mehrmals im Quartal abgerechnet worden ist. Dieses Argument erschließt sich der fachkundig mit einer Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie besetzten Kammer nicht. Es handelt sich – worauf die Klägerin völlig zutreffend hinweist – bei der GOP 35100 EBM gerade nicht um eine Quartalsziffer, die nur einmal im Quartal angesetzt werden darf. Im Gegenteil bestehen hinsichtlich der Häufigkeit der Abrechnung im Quartal keine Einschränkungen. Es ist der Kammer zudem bekannt, dass Patienten mit psychosomatischen Krankheitsbildern häufig unterschiedliche Schmerzbefunde äußern, die jeweils einer diagnostischen Abklärung bedürfen. Auch aus der vom Beklagten als auffällig gerügten Korrelation von Therapieziffer 35110 und Diagnoseziffer 35100 kann die Kammer keine für die Klägerin nachteiligen Rückschlüsse ziehen. Es besteht keinesfalls eine Vorgabe des EBM dahingehend, dass der Behandlungsziffer 35110 EBM grundsätzlich die Diagnoseziffer 35100 EBM vorausgehen müsste oder dass diese nur in einer gewissen Relation zueinander verwendet werden dürften. Vielmehr hängt es im Einzelfall von dem vom Patienten geäußerten Beschwerden ab, ob eine Diagnostik oder die therapeutische Intervention vorzunehmen ist. Darüber hinaus schließt sich die Kammer auch den geäußerten Vorbehalte dahingehend, dass die psychosomatischer Grundversorgung bei hochbetagten Patienten "zu hinterfragen" sei, ausdrücklich nicht an. Allein vom Alter eines Patienten ist pauschal kein Rückschluss auf eine (nach Auffassung des Beklagten wohl fehlende) Introspektions- und Einsichtsfähigkeit, die von § 21 der Psychotherapierichtlinie für eine verbale Intervention vorausgesetzt wird, möglich. Insofern verbleiben zur Überzeugung der Kammer nach den vorliegenden Unterlagen keine Zweifel im Hinblick auf die Richtigkeit der Ansatzhäufigkeit der ICD-Kodierungen (F00-F99) bei der Klägerin. Die Kammer geht vor diesem Hintergrund davon aus – und dies wird die Beklagte bei ihrer Neubescheidung zu berücksichtigen haben –, dass der im Rahmen der Prävalenzprüfung ermittelte Mehrversorgungsanteil von +731 % einen Orientierungswert auch für das der Klägerin zuzugestehende Abrechnungsvolumen im Hinblick auf die GOP 35100 und 35110 EBM bietet. Dieser Orientierungswert ist der Berechnung der Praxisbesonderheit zugrunde zu legen. Insoweit ist – auch im Rahmen eines weiten Schätzungsermessens – keinesfalls nachvollziehbar, dass die im Rahmen einer Prävalenzprüfung ermittelten Mehrversorgungswerte ohne quantifizierbare Anhaltspunkte auf einen gegriffenen Pauschalbetrag (hier +200 %) gekürzt werden. Der Verweis auf eine "hohe" belassene Restüberschreitung genügt als Begründung für eine bestimmte Kürzung nicht. Es ist nicht zulässig, der Ermittlung und Quantifizierung möglicherweise vorhandener Praxisbesonderheiten durch einen "Rabatt" bei der Kürzungsentscheidung aus dem Wege zu gehen (so auch Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 4. Februar 2009, L 12 KA 27/08). Bei der Berechnung der Praxisbesonderheit dürfte ferner zu berücksichtigen sein, dass die Prävalenzprüfung fallbezogen durchgeführt wird, während sich die Überschreitung bei der Einzelziffer nach deren Ansatzhäufigkeit – die gerade keinen Fallbezug aufweist – richtet. Dies führt unter der Prämisse, dass die GOP 35100 und 35110 EBM jeweils grundsätzlich mehrfach im Quartal abrechnungsfähig sind, dazu, dass der aufgrund der Prävalenzprüfung festgestellte Mehrversorgungsgrad keine unmittelbaren Rückschluss auf die im Rahmen der Prüfung einer Praxisbesonderheit zuzubilligende Ansatzhäufigkeit der streitgegenständlichen GOP ermöglicht. Vielmehr ist für einen derartigen Rückschluss zusätzlich zu ermitteln, inwiefern in jedem Quartal Vielfachansetzungen der streitgegenständlichen GOP erfolgt sind. Diese können prozentual den durch die Prävalenzprüfung bereits ermittelten Überschreitungsbetrag noch erhöhen. Nach den Feststellungen der Prüfungsstelle wurde von der Klägerin im Quartal I/2012 bei ungefähr einem Viertel der Patienten die GOP 35100 EBM mehr als einmal abgerechnet. Diese Mehrfachabrechnungen sind im fallbezogenen Mehrversorgungsgrad nach der Prävalenzprüfung nicht erfasst. Auch diesbezüglich wird der Beklagte Feststellungen nachzuholen haben.

Darüber hinaus hält es die Kammer für die Beurteilung des vorliegenden Einzelfalles für unabdingbar, dass eine Prävalenzprüfung auch für die Quartale II/2012-IV/2012 durchgeführt wird. Die Kammer geht dabei davon aus dass es sich bei der Prävalenzprüfung um ein enorm aussagekräftiges Verfahren im Hinblick auf die Bestimmung der Morbidität des Patientenklientels handelt. Diese Aussagekraft muss auch im Rahmen der Berechnung von Praxisbesonderheiten in quantifizierbarer Weise Berücksichtigung finden.

Soweit der Beklagte – wie auch schon die Prüfungsstelle – davon ausgeht, dass die zugrunde gelegte Vergleichsgruppe der voll zugelassenen Allgemeinmediziner/hausärztlich tätigen Internisten richtig ist, so gilt dies nur, soweit bei diesem Vergleich auch nur die Ärzte Berücksichtigung finden, die die GOP 35100/35110 EBM in den streitgegenständlichen Quartalen abgerechnet haben. Nach den in der Verwaltungsakte befindlichen Frequenzstatistiken liegt es nahe, dass die Vergleichsgruppe auch tatsächlich entsprechend gebildet wurde, worauf der Beklagte auch hinweist. Jedenfalls ermittelt sich nach der dortigen Aufschlüsselung der prozentuale Abweichungsbetrag bezogen auf die Anzahl der ausführenden Praxen in der Prüfgruppe. Dies lässt sich jedoch weder dem Bescheid der Prüfungsstelle noch dem Bescheid des Beklagten entnehmen. Die Kammer hält insoweit die Bestimmtheit des Bescheides nach den Vorgaben von § 35 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) für ausgesprochen fraglich. Im Rahmen der – infolge von Beurteilungs- und Ermessensspielräumen der Gremien eingeschränkten – sozialgerichtlichen Überprüfung ist nämlich erforderlich, dass zumindest die zutreffende Anwendung der einschlägigen Beurteilungsmaßstäbe im Einzelfall erkennbar und auch nachvollziehbar ist (BSG, Urteil vom 16.7.2003, B 6 KA 14/02 R). Ob bereits dieser Aspekt zu einer Rechtswidrigkeit des Bescheides des Beklagten führt, kann vorliegend dahinstehen. Jedenfalls wird der Beklagte im Rahmen der Neubescheidung zu berücksichtigen haben, dass es sich bei den Leistungen nach den GOP 35100/35110 EBM um Leistungen handelt, für die nach den Vorgaben des EBM die Qualifikation zur Erbringung psychosomatischer Leistungen gemäß § 5 Abs. 6 der Psychotherapievereinbarung erforderlich ist. Insoweit hält es die Kammer für geboten, die Vergleichsgruppe auch nur mit den Ärzten zu bilden, die über eine entsprechende Qualifikation verfügen bzw. faktisch die Leistung auch abrechnen. Dies muss aus dem Bescheid klar hervorgehen. Zwar ist dem Beschwerdeausschuss grundsätzlich ein Entscheidungsspielraum zu belassen, ab welchem Ausmaß atypischer Praxisumstände eine engere Vergleichsgruppe gebildet wird oder eine Praxisbesonderheit anerkannt wird oder dem Arzt eine größere Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts belassen wird (BSG, Beschluss vom 11. Dezember 2002, B 6 KA 21/02 B). Dies wird überwiegend so aufgefasst, dass zunächst nach statistischen Kriterien über das Vorliegen eines offensichtlichen Missverhältnisses zu befinden und erst danach gegebenenfalls zu prüfen ist, ob und inwieweit der durch die Fallkostendifferenz begründete Nachweis der Unwirtschaftlichkeit durch Praxisbesonderheiten widerlegt wird. Indessen wird eine derartige Ausgestaltung des Prüfverfahrens weder der beweisrechtlichen Funktion und Bedeutung des offensichtlichen Missverhältnisses noch den Erfordernissen einer effizienten Wirtschaftlichkeitsprüfung gerecht. Nach der Rechtsprechung des BSG kommt der Feststellung eines offensichtlichen Missverhältnisses praktisch die Wirkung eines Anscheinsbeweises zu, so dass aus einer Überschreitung des Vergleichsgruppendurchschnitts nur dann auf eine Unwirtschaftlichkeit geschlossen werden kann, wenn ein solcher Zusammenhang einem typischen Geschehensablauf entspricht, also die Fallkostendifferenz ein Ausmaß erreicht, bei dem erfahrungsgemäß von einer unwirtschaftlichen Behandlungsweise auszugehen ist. Ein dahingehender Erfahrungssatz besteht aber nur unter der Voraussetzung, dass die wesentlichen Leistungsbedingungen des geprüften Arztes mit den wesentlichen Leistungsbedingungen der verglichenen Ärzte übereinstimmen. Der Beweiswert der Statistik wird eingeschränkt oder ganz aufgehoben, wenn bei der geprüften Arztpraxis besondere, einen höheren Behandlungsaufwand rechtfertigende Umstände vorliegen, die für die zum Vergleich herangezogene Gruppe untypisch sind. Sind solche kostenerhöhenden Praxisbesonderheiten bekannt oder anhand der Behandlungsausweise oder der Angaben des Arztes erkennbar, so müssen ihre Auswirkungen bestimmt werden, ehe sich auf der Grundlage der statistischen Abweichungen eine verlässliche Aussage über die Wirtschaftlichkeit oder Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise treffen lässt. Das gilt umso mehr, als mit der Feststellung des offensichtlichen Missverhältnisses eine Verschlechterung der Beweisposition des Arztes verbunden ist, die dieser nur hinzunehmen braucht, wenn die Unwirtschaftlichkeit nach Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Falles als bewiesen angesehen werden kann (BSG, Urteil vom 9. März 1994, 6 RKa 18/92).

Nach alledem musste die Klage Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 Buchst. a SGG i.V.m. § 154 VwGO. Die Kammer geht dabei davon aus, dass die Umwandlung der Honorarkürzung im Bereich der Hausbesuche in eine Beratung – bezüglich dieses Teils hat die Beklagte obsiegt – von so untergeordneter Bedeutung ist, dass daraus eine Kostenquote nicht resultierte.
Rechtskraft
Aus
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