S 19 AS 2014/17 ER

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 19 AS 2014/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 4 AS 913/17 BER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antrag wird abgelehnt.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes über die Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II).

Die Antragsteller sind bulgarische Staatsangehörige. Die 1978 geborene Antragstellerin zu 1) reiste mit ihrem 2007 geborenen Sohn, dem Antragsteller zu 2), nach eigenen Angaben am 11. Mai 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie haben seitdem hier ihren Wohnsitz. Die Antragsteller wohnen gemeinsam mit Herrn P., der Sohn der Antragstellerin zu 1), in einer Wohnung in A ... Herr P. reiste im Mai 2016 nach Deutschland ein und ist derzeit als Metallarbeiter mit einem durchschnittlichen Nettolohn in Höhe von 1.132,51 EUR beschäftigt. Der Antragsteller zu 2) besucht seit 1. September 2017 die Grundschule in A ... Am 8. August 2017 beantragten die Antragsteller beim Antragsgegner Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Mit Bescheid vom 5. Oktober 2017 lehnte der Antragsgegner den Antrag ab. Die Antragsteller würden keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts haben, da diese ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland allein zum Zwecke der Arbeitsuche haben würden. Hiergegen legten die Antragsteller am 13. Oktober 2017 Widerspruch ein. Die Antragstellerin zu 1) sei nicht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche in Deutschland sondern auch, um mit ihren Kindern, mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern, zusammen zu leben. Dies gelte auch für ihr jüngstes Kind, damit dieses mit seinen Geschwistern, Onkeln und Tanten und der Großmutter aufwachsen könne. Durch die Ablehnung sei sie in ihrer Existenz gefährdet.

Am 6. November 2017 haben die Antragsteller bei dem Sozialgericht Dessau-Roßlau einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Ihnen drohe derzeit aufgrund der Unterbringung bei Herrn P. zwar keine Obdachlosigkeit, gleichwohl seien sie auf die Leistungen des Antragsgegners zur Sicherung des Lebensunterhalts angewiesen. Ein weiteres Abwarten bedeute eine schwere Notlage für sie. Da sich der Antragsgegner in der Begründung des Ausgangsbescheids vom 5. Oktober 2017 ausschließlich auf § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II (Aufenthalt allein zum Zweck der Arbeitssuche) berufen habe, werde diesseits davon ausgegangen, dass die übrigen Erteilungsvoraussetzungen (Aufenthaltsrecht) bereits nach vorliegender Aktenlage nachgewiesen und Anordnungsanspruch und -grund insoweit glaubhaft gemacht worden seien. Ein Aufenthaltsrecht dürfte jedenfalls nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) bestehen, weil die Antragstellerin zu 1) auch zur Arbeitssuche in der Bundesrepublik Deutschland sei. Zudem bestehe ein Aufenthaltsrecht der Antragsteller nach § 3 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Die Antragsteller seien Familienangehörige (Mutter, Bruder) von Herrn P ... Sie seien bei ihm untergebracht. Herr P. sei als Arbeitnehmer freizügigkeitsberechtigt gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Er verfüge ausweislich der beigefügten Verdienstbescheinigungen vom 14. Juli 2017, 11. August 2017 und 15. September 2017 im Zeitraum Juni bis August 2017 über ein monatliches Einkommen in Höhe von durchschnittlich 1.132,51 EUR netto. Die Antragsteller seien Herrn P. nachgezogen und würden durch ihre Unterbringung bei ihm Naturalunterhalt erhalten, § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU. Es genüge insoweit, wenn der Unterhalt nur einen Teil des Bedarfs abdecke (Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28. Mai 2015 – L 7 AS 372/15 B ER und L 7 AS 373/15 B; Beschluss vom 15. April 2015 – L 7 AS 428/15 B ER). Der Ausschlusstatbestand nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2a SGB II dürfte hier also nicht greifen.

Die Antragsteller beantragen,

den Antragsgegner zu verpflichten, den Antragstellern vorläufig und sofort Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu bewilligen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Die Antragsteller seien gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Sie würden über kein Aufenthaltsrecht verfügen. Ein solches ergebe sich insbesondere nicht aus § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU i.V.m. § 4 Satz 1 FreizügG/EU. Nicht erwerbstätige Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen, würden das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU besitzen, wenn sie über einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen würden (§ 4 S. 1 FreizügG/EU). Vorliegend könne nicht abschließend beurteilt werden, ob die Antragsteller über ausreichenden Krankenversicherungsschutz verfügen, da es hierzu an einer entsprechenden Glaubhaftmachung fehle. Die Antragsteller würden jedenfalls nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen, anderenfalls hätte es keines Alg II-Antrages bzw. des vorliegenden Eilantrages bedurft.

Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der von dem Antragsgegner vorgelegten Behördenakte Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist zulässig aber unbegründet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Hierfür reicht es jedenfalls aus, dass ein Anordnungsgrund und ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht werden, so dass bei summarischer Prüfung mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Erfolg des Begehrens in der Hauptsache zu erwarten ist. Umgekehrt kann der Erlass einer einstweiligen Anordnung dann nicht beansprucht werden, wenn im Rahmen der im einstweiligen Verfahren allein möglichen summarischen Überprüfung das Vorliegen eines Anordnungsanspruches nicht mit zumindest überwiegender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann.

Bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung besteht kein Anordnungsanspruch.

1.

Ein Anordnungsanspruch aus den §§ 7 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 1 SGB II scheitert daran, dass die Antragstellerin zu 1) den Leistungsausschlüssen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a und b SGB II unterliegt. Danach sind Ausländerinnen und Ausländer, die kein Aufenthaltsrecht haben (Nr. 2a) oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (Nr. 2b), von Leistungen ausgenommen. Diese Voraussetzungen sind erfüllt.

Bis zum 11. November 2017 ergab sich ein Aufenthaltsrecht allein aus § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU, ab dem 12. November 2017 wurde kein Aufenthaltsrecht glaubhaft gemacht. Gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU sind Unionsbürger freizügigkeitsberechtigt, die sich zur Arbeitsuche aufhalten, für bis zu sechs Monate und darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche nach dem Ablauf der Sechsmonatsfrist ist nicht glaubhaft gemacht. Anhaltspunkte für andauernde und erfolgversprechende Bewerbungsbemühungen sind weder ersichtlich noch von der Antragstellerin zu 1) vorgetragen.

Ein anderes Aufenthaltsrecht haben die Antragsteller ebenfalls nicht glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin zu 1) übt keine (abhängige oder selbständige) Tätigkeit aus (§ 2 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 FreizügG/EU) und hält sich nicht zu dem Zwecke auf, Dienstleistungen zu erbringen oder in Anspruch zu nehmen (§ 2 Abs. 2 Nrn. 3 und 4 FreizügG/EU). Die Antragsteller sind nicht erwerbstätig. Daher müssen für die Freizugsberechtigung nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU die Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU erfüllt sein. Danach wären die Antragsteller nur freizugsberechtigt, wenn sie über einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Es kann dahingestellt bleiben, ob der von Herrn P. gewährte Naturalunterhalt aufgrund ihrer Unterbringung bei ihm ein ausreichendes Existenzmittel im Sinne von § 4 Satz 1 FreizügG/EU darstellt. Zumindest haben die Antragsteller nicht glaubhaft gemacht, dass sie über einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz verfügen. § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU greift ebenfalls nicht ein. Die Voraussetzungen der §§ 3 und 4 FreizügG/EU sind nach summarischer Prüfung nicht erfüllt. Nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU sind Familienangehörige nur der Ehegatte, der Lebenspartner und die Verwandten in gerader absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten Personen, die noch nicht 21 Jahre alt sind. Der Sohn der Antragstellerin zu 1) Herr P. ist 1996 geboren und damit 21 Jahre alt. Zudem erfüllen die Antragsteller nicht – wie bereits oben ausgeführt – die Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU.

Das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1) ergibt sich auch nicht aus einem anderen Grund. Sie hat insbesondere kein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige aufgrund des Schulbesuchs des Antragstellers zu 2) seit September 2017. Gemäß Art. 10 VO (EU) Nr. 492/11 können die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen. Vorliegend greift jedoch Art. 10 VO (EU) Nr. 492/11 nicht ein, da das Ausbildungsrecht des Kindes voraussetzt, dass es "in Ausbildung" mit seinen Eltern oder einem Elternteil in einem Mitgliedstaat in der Zeit lebt, in der dort zumindest ein Elternteil als Arbeitnehmer wohnte. Der Erwerb des Ausbildungsrechts ist an den Status als Kind eines Arbeitnehmers gebunden (BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015 – B 4 AS 43/15 R – juris, m.w.N.). Die Antragstellerin zu 1) hat zu keiner Zeit eine Beschäftigung im Bundesgebiet ausgeübt.

Da allenfalls eine Freizügigkeitsberechtigung aus § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU besteht, greift der Ausschlusstatbestand nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2b SGB II ein, der auch mit europäischem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist (vgl. Europäischer Gerichtshof vom 11. November 2014 – C-333/13 und 15. September 2014 – C-67/14 – juris).

2.

Eine Beiladung des Landkreises W. als zuständiger Träger von Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) hatte nicht zu erfolgen. Es fehlt an einem Anordnungsgrund, da die anwaltlich vertretenen Antragsteller sich bislang nicht an den Landkreis Wi. gewandt und Leistungen begehrt haben. Ein Antragsteller ist zunächst gehalten, sich an den Leistungsträger unmittelbar zu wenden, bevor er gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nimmt.

3.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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