S 30 VG 43/17

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
30
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 30 VG 43/17
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 12.09.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.11.2017 wird abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der am.2006 geborene Kläger beantragte am 29.07.2016 eine Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Er und seine ganze Familie waren mittelbar von der Mordserie eines jugendlichen Rechtsradikalen am 22.07.2016 betroffen, die als OEZ-Amoklauf unvergessen ist. Der Kläger befand sich während der Mordserie in der Sporthalle des D.Gymnasiums und nahm an einem Fechttraining teil. Die Eltern und ihre Tochter befanden sich unmittelbar im Olympia-Einkaufszentrum (OEZ). Eine telefonische Kontaktaufnahme zwischen dem Kläger und seiner Familie scheiterte wegen vermutlicher Überlastung der Netze. Der Kläger hörte und sah Polizei- und Rettungsfahrzeuge und Hubschrauber und nahm Gesprächsfetzen über die Ereignisse in OEZ wahr. Eine der Familie bis dahin fremde "Fechtmutter" nahm sich dann des Klägers an und wartete mit ihm, bis die Familie vor der Sporthalle eintraf.

Auf der Basis der anschaulichen Mitteilungen der Mutter des Klägers lehnte der Beklagte einen Anspruch nach dem OEG mit Bescheid vom 12.09.2017 ab. Zur Begründung wurde auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) verwiesen, wonach der "Schockschaden" als Schädigungsfolge nur dann anerkannt werden könne, wenn eine psychische Gesundheitsstörung durch das unmittelbare Erleben als Augenzeuge einer Gewalttat verursacht wurde. Dies sei beim Kläger im Gegensatz zu seinen Familienangehörigen nicht der Fall gewesen.

Für den Kläger wurde hiergegen Widerspruch erhoben. Er habe sich zur fraglichen Zeit nicht mehr beim Fecht-Training befunden, sondern habe im Freien auf seine Familie gewartet. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 17.11.2017 zurückgewiesen. Erneut wurde auf die Rechtsprechung verwiesen, wonach der "Schockschaden" nur dann anzuerkennen und entschädigungsfähig ist, wenn eine Person entweder unmittelbar Zeuge eines Tatgeschehens wird oder aber durch die Benachrichtigung vom Tod oder der schweren Verletzung eines nahen Angehörigen ein Trauma erlitten hat.

Die Klage hält am Begehren einer Versorgung nach dem Ereignis vom 22.07.2016 fest. Sie verweist auf die gesundheitliche Schädigung des Klägers und die Notwendigkeit psychotherapeutischer Behandlung.

Der Kläger beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 12.09.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.11.2017 zu Leistungen der Opferentschädigung zu verurteilen.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat die Akten des Beklagten beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte sowie auf den gesamten Akteninhalt verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsverfahrens form- und fristgerecht beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig.

Sie ist jedoch in der Sache nicht begründet. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gibt demjenigen einen Anspruch auf staatliche Versorgung, der infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffs gegen seine oder eine andere Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Auf das BVG wird verwiesen. § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG gebietet zur Prüfung des Anspruchs auf Beschädigtenrente die Beurteilung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolgen anerkannten körperlichen, geistigen und seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen, S. 2 der Vorschrift. Nach § 30 Abs. 1 Satz 3 sind Vorübergehende Gesundheitsstörungen nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt nach § 30 Abs. 1 Satz 4 ein Zeitraum bis zu sechs Monaten. § 31 BVG lässt einen Rentenanspruch ab einem GdS von 30 zu.Vorliegend geht es um die Versorgung nach einem Angriff gegen eine andere Person.

Sie ist möglich, wenn das Miterleben einer Gewalttat ggf. unter Bedrohung der eigenen Person oder die Auffindung eines emotional nahestehenden schwer oder gar tödlich verletzten Menschen oder die unerwartete Nachricht vom gewaltsamen Tod eines Angehörigen bleibende Gesundheitsstörungen verursacht. Ganz grundsätzlich ist ein Versorgungsanspruch in solchen Fällen eine rechtlich und medizinisch sorgfältig begründungpflichtige Ausnahme, nicht jedoch eine erwartbare und lebenslange Regelleistung etwa im Sinne eines Schmerzensgeldsanspruches für die als selbstverständlich angenommene Beeinträchtigung der Lebensfreude durch den Verlust von Vater, Mutter, Partner oder Kind. Der in diesem Zusammenhang anerkannte sogenannte Schockschaden, wie ihn eine ältere Terminologie aus Zeiten vor der Definition der posttraumatischen Belastungsstörung immer noch nennt, setzt, wie die Bezeichnung schon sagt, einen schweren Schrecken voraus, der etwa bei hoch aggressiven und insbesondere bewaffneten Angriffshandlungen gegen eine Person in unmittelbarer körperlicher Nähe oder beim Auffinden einer schwer verletzten oder getöteten engen Bezugsperson auftreten kann.

Es ist nur allzu wahrscheinlich, dass nach einem solchen Ereignis mit dem Erleben von Gewalt, dem Hören von Schüssen und Geschrei, dem Anblick von schweren Verletzungen und Blut für eine gewisse Zeit eine krankheitswertige Übersensibilität gegenüber sämtlichen Signalreizen verbleibt, die etwa von Polizeiautos und Notarztwägen mit Blaulicht, von unsanften Rempeleien in der Öffentlichkeit, von plötzlichen lauten Geräuschen oder von blutenden Wunden ausgehen.

Ein solches Schockerlebnis hat der Kläger jedoch nicht erlitten. In einer Abstufung von eigener Verletzung über die miterlebte Verletzung anderer Personen handelt es sich vorliegend um ein nochmals abgeleitetes Miterleben im Sinne der Angst um Angehörige. Es steht außerhalb jeden Zweifels, dass die Sorge um Angehörige, von deren aktueller Gefährdung durch Flugzeugentführung, Terroranschlag, Amoklauf oder räuberischer Geiselnahme man gegenwärtig aufgrund von Handybotschaften oder Medien weiß, zu den größten vorstellbaren Stresssituationen gehört. Das Gericht kann den Kläger und seine Familie nur um Verständnis dafür bitten, dass der Schutzbereich des OEG hier seine Grenzen hat. Allein schon mit der von der Krankenkasse zu finanzierenden Psychotherapie lässt der Sozialstaat die Bürger und so auch den Kläger jedoch nicht allein.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz
Rechtskraft
Aus
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